Jürgen Nendza: Zu Jürgen Nendzas Gedicht „Hinterland“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jürgen Nendzas Gedicht „Hinterland“ aus Jürgen Nendza: Haut und Serpentine.

 

 

 

 

JÜRGEN NENDZA

Hinterland

I
und dein Genick geschabt vom Mantelkragen: Kälte
zieht im Handlauf dich hinab vom Turm. Der Abgrund

eben, die Oberfläche Wort und winterhart
die Buchstaben durchkreuzt von deinen Nerven: Spurrillen

der Kufen. Im Nachgang Stiefelschritt und Schneefegen
dein Metronom, feinstes Pinseln über Kuppen

wie atmendes Gelände. Du horchst ihm nach, zermalmst es
fort auf Knochenlänge, knirschend: Aus dem Schallschatten

erweckt Geläut und Läutewerk, Alarm, bis eine Biegung
weiter stille Schlitten Pferde aus dem Schlaf entlassen

jenseits des motorisierten Lichts. Stacheldraht siehst du,
prikkeldraad im nächsten Schritt, die Landschaft

eine Tür. Doch die Bedeutung der Tür ist irrelevant,
egal wohin sie führt, nur dein Überraschtsein

gibt ihr Sinn. Dein Kragen schabt. Orangefarben
steht über dir der kleine Kreis: leichte Wärme, Wunde,

Himmel. Zwischen Wort und Bild, denkst du, liegt ein Scharnier.
Oder eine Ewigkeit.

II
und Wintersonne: dein Schatten Sturmholz
auf der Suche nach Bestand. Schellack schwingt

im Baumharz mit. Der Weiher dreht sich um, gespurtes
Weiß: Ein Schlittschuh fährt ins Sütterlin. Das Wunder

auf dem Weihnachtsteller heißt Orange, wie Großmutters
Kinderauge rund und wie die Erde blau. Ein Surren speist sich

ein in die Orangenhaut, eingepflockt im Takt der Zäune:
Stacheldraht, Elektro-, Stachel-. Dich fliegen Bilder an

in Parallelverläufen: Bei großer Geschwindigkeit
entsteht vor dem Objekt eine Stauung

stark komprimierter Luft. Du hockst vor dem Transistor,
Die Skala längs der Wachstumsstreifen, die Schallmauer

Durchbrochen, und deine Frage geht aufs Karussell:
ob Krieg, ob Frühling einmarschiere in die goldene

Stadt. Die Farben fliehen wieder vor den Dingen,
und das Gelb der Forsythie wird zu einer Behauptung,

die zu beweisen wäre vom Frühling, der seine Farben
verschweigt, wie das Gelb die Forsythie.

III
und die Sprachbindung spult weiter: Draht und
Defekt. Den Gartenzaun wolltest du flicken. Ein Projekt

aus dem Sommer, nun eingefroren wie das Bild
vom Dunkelhellila der Aster. Daneben

Knirschen, Kiesweg, und unter dem dunkelhellila
Gestirn klatscht der Aven seinen Gesang

gegen stetes Gestein, vorbei an Gauguin
und den Wäscherinnen, die immer noch atmen

im Licht der Kunst und das Flußbett wenden,
gerät ins Stocken die Rede vom elektrischen

Wunder: Stromsperre, Störung, Streckenmeister.
Dein Kopf rückt vor ins Sperrgebiet,

mit einer Fernsprechstelle frisch verbunden:
Standlaute, die Tonspuren ziehen Drahter.

Windig meldet sich das Feld von seiner Jagd,
und bildlich für die Atempause spricht ein Schluck

Stacheldraht: Der Hals des armen Mannes
ist zu den Nackenwirbeln durchgebrannt am Zaun.

IV
und plötzlich ausgelöst das Weiß vom Fichtenzweig:
Symphonisch nadeln die vier Jahreszeiten, nur

die Bewegung Wiege. Dein Kragen schabt. Die Spurrille
im Nacken, Patrouillengänge in den Venen, Nachträge

zu Clausewitz. Die Koppel im vereisten Licht:
Dampf steigt auf und Pferdeäpfel, hundert Kilo

zu elf Mark in Lüttich, gehen mit Aprilthesen
synchron durch die Schnittstelle Subjekt. Wie ausgebeint

erscheint das Brombeerwerk im Grenzverlauf,
keramisch der Gedächtnissprung im Bruchstück

Isolator. Schnee trägt deine Schritte fort
und Übergänge, bewahrt beim Öffnen seiner Silbe

noch einmal auf die Zeichen für die Rückkehr der Vögel.
Du stehst schon an der nächsten Biegung: Schneebruch,

Stimmbruch, zahnschmelzweiß die schmale Naht
der Wachstumsstreifen. Ein Leib aus Dunkelheit

zieht auf. Neuschnee bricht vom Himmel,
legt den Schall zurück in seinen Schatten.

 

Bild aus: Alex Vanneste: Kroniek van een Dorp in Oorlog – Neerpelt 1914–1918. Het dagelijks leven, de spionage en de elektrische draadversperring aan de Belgisch-Nederlandse grens tijdens de Eerste Wereldoorlog. Deel 1. Antwerpen 1998. S. 277

Bild aus: Alex Vanneste: Kroniek van een Dorp in Oorlog – Neerpelt 1914–1918.
Het dagelijks leven, de spionage en de elektrische draadversperring aan de Belgisch-Nederlandse grens tijdens de Eerste Wereldoorlog. Deel 1. Antwerpen 1998. S. 277

 

Zu meinem Gedicht-Zyklus „Hinterland“

Vielen ist das Dreiländereck bei Aachen zwischen Belgien, den Niederlanden und Deutschland bekannt. Es ist ein beliebtes Ausflugsziel, auf dessen niederländischer Seite sich ein etwa 50m hoher Aussichtsturm befindet, der einen herrlichen Panoramablick über die Grenzen hinweg ermöglicht. Was dem Panoramablick in die Weite der Landschaft entgeht, ist die Tiefe der Blutspur, die die Landschaft längs der belgisch-niederländischen Grenze grundiert, ihren Ursprung in Deutschland nimmt und bis an die belgische Nordseeküste reicht. Es gibt hier keinen Anhaltspunkt, das imaginäre Auge darauf einzustellen. Es gibt in keinem deutschen Geschichtsbuch einen Anhaltspunkt dafür.
Im Jahre 1915 begannen die deutschen Besatzer in Belgien einen über 300 km langen Starkstromzaun (2.200 Volt) längs der belgisch-niederländischen Grenze aufzustellen. Dieses „Grenzhochspannungshindernis“ (offizieller deutscher Sprachgebrauch) sollte Belgiern den Fluchtweg in die neutralen Niederlande versperren und Spionage- und Schmuggeltätigkeit unterbinden. Der erste, rund 30 km lange Betriebsabschnitt führte vom heutigen Dreiländereck bei Aachen bis zum belgischen Dorf Eben-Emaal. Der Strom für diesen Betriebsabschnitt wurde vom Aachener Transformatorenhaus Reutershag eingespeist. Der Elektrozaun war zu beiden Seiten von einem „Schutzzaun“ aus Stacheldraht umgeben. Im ca. einen Meter breiten Zwischenraum von Stacheldraht- und Elektrozaun patrouillierten deutsche Soldaten. Zwischen 1915 und 1918 forderte dieses mörderische Machwerk, für damalige Verhältnisse ein High-Tech-Unternehmen, mehr als 2.000 Todesopfer. Das Wissen um diesen Todeszaun ist fast vollständig aus dem kollektiven Bewußtsein verschwunden, selbst im deutsch-belgischen Grenzgebiet weiß kaum jemand von seiner Existenz.
Die erste und bislang einzige Dokumentation, die Geschichte und Verlauf des Todeszauns umfangreich belegt, erschien 1998. Sie wurde nach jahrelangen Recherchen von Alex Vanneste, Dekan der Philosophischen Fakultät in Antwerpen, herausgegeben. Nach Lektüre und Durchsicht seiner Dokumentation spulte sich mir immer wieder ein Foto ins Gedächtnis: Es zeigt das Bild eines namenlosen belgischen Flüchtlings aus dem Jahre 1915 (eine genaue Datierung der Aufnahme ist nicht angegeben), der im Elektrodraht zu Tode gekommen war, elektrikutiert wurde, wie man in Belgien sagt. Der Mann hatte einen primitiven Holzrahmen zwischen die Stromdrähte gespannt und versucht, durch ihn hindurchzukriechen, um sicheren niederländischen Boden zu erreichen. Die Aufnahme muß von einem deutschen Streckenposten (oder „Streckenmeister“) gemacht und mit einer deutschen Kommentierung versehen worden sein. Alex Vanneste unterschreibt das Foto in seiner Dokumentation mit folgenden Worten:

De Duitse commentator van de foto beweert dat de hals van de arme man volledig was doorgebrand tot aan de nekwervels…

Als ich vor Jahren von der Existenz dieses Todeszauns (und von seinem Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis) erfuhr, war ich entsetzt und überrascht. Das Wissen um seine Geschichte machte mir meine vertraute Umgebung plötzlich unvertraut und nahm meinem Alltag im Dreiländereck die Unbefangenheit. Der Zaun wollte immer wieder hinzugedacht werden: in die eigene Arbeit, in die eigene Bewegung im Grenz- und Sprachverlauf. Der Zaun wurde Gegenstand und Konjunktion, Verbindungsstück, ein „und“ im Eichschen Sinne, Beweggrund zu einer weiterführenden poetischen Archäologie, zu Recherchen ins Hinterland von Landschaft und Zeit-Geschichte, in die sich auch eigene (Kindheits-)Erinnerungen und Ängste über kriegsmotivische Besetzungen einspielten. Es entwickelten sich historische, semantische, biographische und poetisch-poetologische Felder, die „Türen“ öffneten für eine geistige Begehbarkeit meines Hinterlandes längst vergessener Spuren und schließlich Synchronisationen und Verknüpfungen stifteten zu einem eigenen Panorama, zu einem eigenen Grenzgebiet aus poetischem Sprachgewebe.
Ich habe den Bild-Kommentar aus der Vanneste-Dokumentation meinem Gedicht-Zyklus eingearbeit. Dieser Kommentar ist „Material“. Er ist aber auch Erinnerung an den eingefrorenen Augenblick einer Elektrikutierung, ein Gedenken an dieses namenlose Fluchtopfer und andere: pars pro toto.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

 

Zum Weiterlesen:
Christoph Wenzel stellt dieses Gedicht von Jürgen Nendza in der Serie Neuer Wort Schatz II für LITMAG vor.

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