Jürgen Theobaldy: Immer wieder alles

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jürgen Theobaldy: Immer wieder alles

Theobaldy-Immer wieder alles

SEHR GEEHRTER HERR MUSIL

Störend ist es halt, dieses Brummen,
wenn’s einfach nicht aufhören will!

Ich überfliege die Lücken
zwischen den Wörtern, fliege
die Treppen der Prosa hinab:
In den Kopfhörern meiner Ohren geklemmt,
höre ich mich nicht mehr lesen.

Gelber Leim auf dem Papier: Schon wird
die Fliege zum Bild, wird Auge
des Menschen, das ein Leben erfasst.

Stiller noch sind ihre Schreie
als die von Laokoons Söhnen.
Sieh, dass du mehr hinzudenkst.

 

 

 

Jürgen Theobaldys neue Gedichte

bleiben dem „Feuerrad des Sommers“ nah. Sein poetischer Blick auf die Tiere überrascht durch eine Leichtigkeit und Gedankenfreude, die an den 1990 erschienenen Band In den Aufwind erinnert. Wer diese Gedichte liest, wird gut nachvollziehen können, was der Autor, der das Gespräch über Lyrik maßgeblich beeinflußte, über seine Arbeit sagt:

Irgendwann weißt du, daß du Gedichte schreibst, weil du nie genau wissen wirst, was ein Gedicht ist. Und so erfährst du es.

zu Klampen!, Ankündigung

 

Schweinchen, zarte Drecksau

Nie komme ich so nah an diesen Tag heran
wie dieser Reiher dort im Wiesentau.
Er weiß nicht, dass ich es bin,
den von weitem er ins Auge fasst,
während ich ihm seinen Namen gebe.
Die Kunst, zu segnen ohne Weihrauchfass.

Die letzten drei Zeilen des Gedichtes „Draußen vor dem Dorf“ Jürgen Theobaldys sind als poetologisches Bekenntnis des Autors zu lesen, ein Bekenntnis, mit dem er sich in eine alte Tradition stellt. Schon das Nennen, das Anrufen des Seienden gibt ihm dessen Würde und weiht es. „Und er sah, daß es gut war“, sagt Gott an jedem Ende eines Schöpfungstages. Nach alter katholischer Liturgielehre birgt das Schwenken des Weihrauchfasses auch den Sinn der „Benediktion“ – Benedicere heißt wörtlich: etwas für gut erkennen, preisen. Und besonders: segnen.
Der Dichter muß heute ohne das Weihrauchfaß auskommen. An dessen Stelle tritt die Sprache. „Die Kunst, zu segnen ohne Weihrauchfass“ meint in dem neuen Gedichtband Theobaldys aber auch die Kunst allgemein, so auch die bildende:

Zu denken mag kunstvoll sein,
die Kunst aber will gemalt sein.

Theobaldy beschwört die Kreaturen, wobei der Ton nicht weihevoll bleibt. Der Lobpreis gleitet fast lautlos in das Entsetzen, und die Lyra des Dichters muß schon gut gestimmt sein, wenn er eine „Drecksau“ besingt:

Schweinchen, zarte Drecksau,
die Zukunft ist nicht rosig,
die Gegenwart ist rosig,
lebe nur in ihr:
Kein Hund darf dich jagen,
kein Jäger dich schießen,
du döst ermattet und satt
auf dem Stroh:
Wie angenehm
kribbeln sie doch, des Schlachters
sorgsam tastende Hände.

Inhalt, Versmaß und Melos zweier Zeilen der sonst in formaler Hinsicht ziemlich ungebundenen Gedichte läßt den empfänglichen Leser aufhorchen. „Kein Hund darf dich jagen, / kein Jäger dich schießen“ gemahnt nämlich an das Lied „Die Gedanken sind frei“. Hier heißt es über die Gedanken:

Kein Mensch kann sie wissen
kein Jäger erschießen

Dieses Lied wurde in deutschen Konzentrationslagern gesummt und manchmal auch leise gesungen. Aber auch schon vor dem NS-Regime galt das Lied als ein Fanal des inneren Widerstandes. Theobaldy dementiert den hoffnungsvollen Frohsinn dieses Liedes. Die Sorglosigkeit des Borstenviehs, das um seine Gefährdung nicht weiß, war immer schon eine Metapher für das allzu schläfrige und mithin zukunftslose Sekuritätsbewußtsein der Menschen. Aber hören wir hier eigentlich eine Kritik? Vielleicht. Hauptsächlich scheint jedoch die Sorge durch, daß des Schlachters Hände angenehm kribbeln und die Massenmordabsicht nicht begriffen wird. Es geht um das Humanum, nicht nur um die Tierwelt.
Theobaldy ist die Gratwanderung jedoch gelungen. Die Tiere mißbraucht er keineswegs nur als Fabel-Transporteure für menschliche Angelegenheiten. Er gesteht ihnen das Eigen-Sein zu. Im Gedicht „Strich mit langem i“ gedenkt er eines plattgewalzten Igels:

Das Amt verbucht die Straßengebühren,
in die sich Fahrer und Igel teilen.
Ach, schrieben sie Eagle!
Ein Konjunktiv entflöge dem Etat.

Mahnung und Aufschrei kommen bei Theobaldy gedämpft daher. So gedämpft, daß man die Absicht zwar bemerkt, aber doch nie verstimmt ist. Im allerwörtlichsten Sinn erweist sich der Autor als Metaphysiker. Er blickt auf das, was hinter Mensch und Tier steht: auf die Trauer des Schöpfers, den Schmerz der Kreatur. Theobaldy gehört schon deswegen zu den stärksten Stimmen der deutschsprachigen Lyrik, weil er es nicht nötig hat, seine Stimme zu überanstrengen.

Martin Thoemmes, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.10.2001

Jürgen Theobaldy: Immer wieder alles

Kann ein Pferd lachen? Ja, lautet die berühmte Antwort auf diese Frage von Robert Musil – natürlich nicht über Witze, doch wenn man es an der richtigen Stelle kitzelt… Dass sich der Mensch durchs Lachen vom Tier unterscheidet, ist ein alter Hut. Ebenso die Beobachtung, dass schlechte Dichter es lieben, Katzen, Bäume oder auch Wolken beiläufig mit menschlichen Eigenschaften auszustatten. Und da kommt ein namhafter Lyriker wie Jürgen Theobaldy daher und eröffnet sein neues Buch mit Versen über ein Pferd:

Hinter seinem Stirnbein toben
die Schlachten, denen es entkam.

Kann sich ein Pferd an Schlachten erinnern?

In seinen fast reimlosen Gedichten versucht Theobaldy, den sprachlosen Kreaturen so nahe wie möglich zu kommen:

Mit einer Hand voll Gräsern
lockst du es weg vom Gras.

Es ist ein Leichtes, sich mit solchen Natur-Gedichten lächerlich zu machen, auch wenn die Pferde in ihnen nicht gerade kichern. Bei Theobaldy gibt es allerdings keine abgegriffenen Bilder, keine unbeholfenen Psychologisierungen, kein falsches Pathos. So lässt er z.B. die Möwen, die bei Durchschnittspoeten wie keifende Hexen am betongrauen Stadthimmel kreisen könnten, ganz einfach nach Weißbrot schreien. Theobaldys Gedichte zeichnen sich durch virtuos eingesetzte Lakonik aus, und im Grunde drehen sie sich alle um ein Thema: Vers für Vers wird vorgeführt, dass die Wahrnehmung des Nicht-Menschlichen immer sprachlich vermittelt ist. Unsere Wirklichkeit ist die Wirklichkeit unserer Kommunikation. Und doch oder gerade deshalb besticht diese Lyrik durch scheinbar unverfälschte Beobachtungen:

Der geschmeidig flinke Lauf von Nuss
zu Korn, das Kullern fast der Pfoten,
das Rascheln dort, wo Vorrat liegt.

Ich schreibe nie mehr hin: geschmeidig,
wenn es den Kopf in die Höhe hebt…

Selbstverständlich kann ein solcher Balanceakt zwischen Kontemplation und Sprachbewusstsein nicht immer gelingen. Aber die Frequenz der lyrischen Volltreffer in diesem schlanken Band ist ungewöhnlich hoch. Und schließlich gibt Theobaldy seinen Lesern auch für den Umgang mit weniger überzeugenden Strophen einen Tipp. Sein vielleicht schönstes „Tier“-Gedicht trägt den schlichten Titel „Arbeit mit Papier“. Es ist sechs Verse lang und geht so:

Aus jedem Gedicht kannst du
eine Schwalbe machen.

Du musst es aber richtig falten.

Aus jedem Gedicht, hörst du,
auch aus dem missglückten.

Nun denke dir den Himmel dazu.

Cicero

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Volker Sielaff: Bestiarium
Der Tagesspiegel, Berlin, 24.9.2000

Jan Bürger: Jürgen Theobaldy: Immer wieder alles
Literaturen, Heft 12, 2000

Irène Bourquin: „Die Unerreichbarkeit des Glücks“
Der kleine Bund, 2.12.2000

Hans Christoph Buch: Der Seiteneinsteiger
Die Zeit, 25.1.2001

Christoph Wegmann: Engel und Biester
drehpunkt, Heft 109, 2001

Thomas Poiss: In der Bar zum Paradies
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.3.2001

Gerd Kolter: „Immer wieder alles’ und noch viel mehr: Jürgen Theobaldy“
die horen, Heft 2, 2001

Martin Zingg: Lyrisches Bestiarium
Neue Zürcher Zeitung, 2.5.2001

Peter Salomon: Jürgen Theobaldy: Immer wieder alles
Wandler, Heft 28, 2001

Guido Egli: Offene Räume, von Tieren bevölkert
Berner Zeitung, 17.11.2001

 

 

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