Jürgen Theobaldy: Midlands Drinks

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jürgen Theobaldy: Midlands Drinks

Theobaldy/Palm-Midlands Drinks

STEINE

Bierdosen im Grabmal,
Wind in den Bäumen
der Via Appia Antica.

Hier zogen sie hinaus,
vorbei an den Toten,
um die Küsten zu erobern,
um im Nil zu ertrinken.

Wo sind die Steine geblieben,
die Steine regen sich noch
unterm heißen Asphalt.

Teer deckt die Schritte zu,
gestorben noch einmal,
verhallen sie endlich
im Reiseprospekt.

Wie beharrlich ist, was verlockt,
die Ferne, und später
das Blech, die Karosserien.

Königin der Straßen, dort hinten
zerläuft sie, stinkend
in Pfützen, unter Autoschläuchen,
Asche, Plastik und Fetzen.

 

 

 

Notiz

Diese Gedichte schrieb ich im Spätsommer 1977, während eines dreimonatigen Aufenthalts in der Villa Massimo in Rom. Sie erschienen zum erstenmal 1979 und wurden für die Neuauflage überarbeitet. Die Nachbemerkung hingegen, aus der ich heute mehr Abwehr als Erhellung lese, wollte ich nicht bekräftigen. Darin hatte ich das Schreiben von Gedichten in gebundener Form als ein „Spiel“, das man immerhin „spürt“, abgetan. Heute spreche ich lieber von metrisch reflektiertem Schreiben, denn selbst die Oden hier sind Abweichungen von gängigen Mustern.
Wenn ich nicht wahrnahm, daß es beim Dichten gerade auf diese Art Spiel ankommt, so deshalb, weil mir noch unklar blieb, was denn dabei spürbar ist. Nun, zunächst scheint es eine Erwartung zu sein – die eines Aufbruchs. Doch mit ihr weitet sich ein Gefühl für die Bewegung der Sprache aus, in der ich mich etwas nähere, das erst im fertigen Gedicht da sein wird. Zu den Bedingungen seines Gelingens zählt nämlich, daß das Gedicht nicht zum Ausgangspunkt, der ursprünglichen Aufbruchsstimmung, zurückkehrt. Vielmehr ist es der sprachgewordene Augenblick, an dem ich innehalte, jenes Etwas als seinen Gegenstand und mich als sein Subjekt erkenne, selbst wenn kein Ich in ihm auftaucht.
So ist das Gedicht in die Welt gesetzt, und ich sinke in meinen mehr oder weniger trägen Bewußtseinsstrom zurück. Der rote Briefkasten hängt vermutlich immer noch an einer Ecke der Viale di Villa Massimo, die Via Appia Antica zieht sich weiterhin durch die Campagna. Sie waren nicht Gegenstände des Dichtens. Die anfangs ungeklärten Eindrücke eines ausdruckslosen Ichs waren jenes Etwas, ob es sich nun von einem Attentat oder vom Zischen einer Espressomaschine, von einer Idee oder einem antiken Trümmerfeld aufrühren ließ.
Und weshalb ein Gedicht und nicht eine Skizze oder ein Brief? Daraus, daß ein Wort in seiner reinen Bedeutung allenfalls im Lexikon vorkommt und sonst vom Gebrauch bestimmt wird, folgt zweierlei. Erstens gibt es kein ,eigentlich Gemeintes‘, kein ,zweites‘ Gedicht ,unter‘ oder ,hinter‘ dem geschriebenen. Vielmehr verweist ein Gedicht stets auf seine komplementäre Ergänzung, auf das, was es und nur es ungesagt läßt und was den offenen Raum entwirft, der sich den Lesern zum Eindringen bietet. Zweitens ist es das Ich, sind es die Einzelnen, die die Bedeutung eines Wortes in der Zeit verändern, gerade auch, indem sie die Umgangssprache täglich erneuern. Jeder spricht mit der ihm eigenen Unschärfe, wodurch er dafür sorgt, daß die Wörter nie sich selber gleich werden. Dies verschiebt allmählich ihre Bedeutung, und im Gegensatz zu den Zahlen werden eben viele vergessen, neue erfunden.
Wenn der individuelle Zusammenhang die rein lexikalische Bedeutung eines Wortes unwägbar fein und doch notwendig verfehlt, dann heißt ein Gedicht schreiben, dies bewußt angehen, um so seinen persönlichen Ton hervorzutreiben. Dabei suche ich ein Wort nicht nur nach seiner lexikalischen Bedeutung aus, sondern ebensosehr danach, wie es sich in den Vers, in die Strophe fügt. Findet sich kein solches Wort für den zunächst angestrebten Sinn, schlägt das Gedicht einen anderen Weg ein – seinen Weg. Die Wörter werden gleichsam verdoppelt, und zwar von einem Ich, und diese Verdoppelung, in deren Spannung sich Geschichte einwebt, macht das Poetische aus. So stimmt der Satz, daß ein Gedicht nicht nur etwas über etwas sagt, sondern immer zugleich dieses Sagen ist.
Einmal jenseits sprachlicher Konventionen kann das Ich weder hinter Allgemeinheiten zurücktreten noch seine Autorschaft abweisen. Es setzt sich aus, ja, es gibt sich preis, und damit wird sein Gedicht machtlos, verglichen mit anderen nicht fiktionalen Schreibweisen, für die allesamt rhetorische oder stilistische Möglichkeiten bereitstehen. Was sie im Verhältnis zum Gedicht an Zweck und Auswirkung gewinnen, büßen sie an Intensität, Schärfe des Duktus und letztlich auch an Wahrheit ein. Der Reichtum des Gedichts dagegen entfaltet sich in seiner Machtlosigkeit. Dies ist sein unversöhnliches Zugeständnis.

Jürgen Theobaldy, Juni 1984, Nachwort

 

Theobaldys neue Gedichte

entstanden im Frühsommer 1983 in England. Sie werden ergänzt um die 1979 im Wunderhorn erschienenen und bald vergriffenen Drinks, die der Autor für die Neuauflage durchgängig überarbeitet hat. Damit liegen zwei Sammlungen in einem Band vor, der den Bogen spannt von der beschädigten Urbanität Roms zu den ländlichen Midlands zwischen London und Birmingham. Die Spannung entsteht aus der formalen Vielfalt der Gedichte, aus den Gegensätzen der verschiedenen Orte, Landschaften und Menschen, sowie aus der gewandelten gesellschaftlichen Situation: von der „Antike im Rinnstein“ zum England der Friedensfestivals, der nassen Wiesen und des Wahlkampfs 1983. Zu jeder Sammlung fertigte Joachim Palm eine großformatige Radierung an. Je neun Ausschnitte daraus bilden den Hintergrund für die Illustrationen, in denen sich Spontaneität des Ausdrucks und technische Sorgfalt vermitteln.

Verlag das Wunderhorn, Klappentext, 1984

Über dieses Buch

Die in diesem Band versammelten Gedichte entstanden zum einen Ende der 1970er Jahre, zum anderen bei einem Aufenthalt des Autors in England im Frühsommer 1983. Der thematische Bogen spannt sich von der beschädigten Urbanität Roms zu den ländlichen Midlands zwischen London und Birmingham. Die Spannung entsteht aus der formalen Vielfalt der Gedichte, aus den Gegensätzen der verschiedenen Orte, Landschaften und Menschen, sowie aus der gewandelten gesellschaftlichen Situation: von der „Antike im Rinnstein“ zum England der Friedensfestivals, der nassen Wiesen und des Wahlkampfs 1983. Joachim Palm fertigte dazu großformatige Radierungen an. 18 Ausschnitte daraus bilden den Hintergrund für die Illustrationen, in denen sich Spontaneität des Ausdrucks und technische Sorgfalt vermittteln.

Verlag das Wunderhorn, Ankündigung

 

Beiträge zu diesem Buch:

Michael Braun: Das Ende der Rebellion
Communale, 6.12.1984

Harald Hartung: Das Glück der Schrift
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.1984

Michael Buselmeier: Mit verstellter Stimme
Die Zeit, 2.11.1985

 

 

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