Jürgen Theobaldy: Poesiealbum 368

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jürgen Theobaldy: Poesiealbum 368

Theobaldy/Vennekamp-Poesiealbum 368

DIE NICHT ERLOSCHENEN WÖRTER

Es gibt nur Wörter
für die Dinge, sagte Rolf Dieter Brinkmann
im Zimmer des Rhine-Hotels (auch
so ein Ding), wie diesen Abend
beschreiben (der sein
letzter war), diesen Augenblick, wie
anders beschreiben als
mit Wörtern für die Dinge, dieses Tapetenmuster,
den Fußboden, die Farbe der Decke
auf dem Bett (worauf er saß
und geschrieben hatte
in sein Notizheft), schau, erinner dich,
was du gesehen hast, heute
auf dem Weg durch London, die Enten
in der Pfütze auf dem Bauplatz, inmitten
der Stadt (woher kamen sie?),
der Bauarbeiter mit nacktem Oberkörper, die
jungen Mädchen (Sekretärinnen,
Stenotypistinnen, Verkäuferinnen), die
aus den Büros kamen,
um die U-Bahn zu nehmen, wohin? und was
tun sie jetzt? (die dicken
schwarzen Vögel im Kensington-Park
am Morgen) und Erinnerungen
an 1968, wovon er sprach,
die Beat-Konzerte, das Bücherpaket
mit „Fuck You“, hier
trink ’nen Schluck,
die Flasche Bier (die seine
letzte war), nicht einmal
halb leer, wie krieg ich das unter
im Gedicht, nur
mit „Flickwörtern“ (die Wörter, älter
als Maschinen, wie beschreibe ich
die Arbeit der Maschinen? alles metaphorisch?),
vielleicht „Formelsprache“, was?
Und was übrig bleibt, die Stimmungen,
die „vibrations“, wie du sagst (sie
sind nicht in den Wörtern, sie sind
im Gedicht), und was er
hinterließ,
nachdem ihn das Auto traf,
die Lichter, Stadtlichter, für immer erloschen
für ihn, abends gegen zehn
in der Westbourne Grove, 23. April 1975,
was er
hinterließ, war
dieses Arsenal von Wörtern, Wortfelder,
Trümmerplätze von Wörtern, zersprengte
Wortwaffenlager, Wortalpträume
gegen den täglichen Alptraum,
„Wortidyllen“, denen er
die Haut abzog, ohne Spaß, ohne Nachsicht, was er
hinterließ, war
dieses „dreckigste Bild“ vom Schrecken, das er
„nicht verlangt“ hat.

 

 

 

Jürgen Theobaldy

In den frühen 70er Jahren, als die Lyrik in der BRD im Hermetismus zu erstarren droht, führen seine Gedichte mitten hinein in die turbulenten Kämpfe dieser Zeit. Sie verbinden die politischen Erfahrungen seiner Generation mit dem unakademischen Gestus der eigenen persönlichen Erlebnisse in einer gesellschaftlich bewegten, mehr und mehr popkulturellen, vom Konsum geprägten Umgebung. Mit der Neuen Subjektivität – Leichtigkeit und Direktheit – erweitert er die Auseinandersetzung mit der klassischen Lyrik von Sappho bis Goethe und bleibt dennoch bei seinem der Umgangssprache nahen Tonfall.

Ankündigung in Fritz Eckenga: Poesiealbum 367, MärkischerVerlag Wilhelmshorst, 2022

Stimmen zum Autor

Bei Theobaldy gibt es keine abgegriffenen Bilder, keine unbeholfenen Psychologisierungen, kein falsches Pathos. Seine Gedichte zeichnen sich durch virtuos eingesetzte Lakonik aus.
Jan Burger

Daß die Gedichte so unaufgeregt daherkommen, so wunderbar leicht und kunstvoll, ist auch das, was sie auszeichnet – und Teil ihres Geheimnisses bleibt.
Martin Zingg

Sie sind weder Lektionen der Stille noch des Lärms, sie objektivieren und systematisieren nichts. Sie sind vorsätzlich subjektiv, wunderbare, mit dem ganzen Körper gemachte, für den ganzen Körper verständliche Poesie.
Nicolas Born

Bei all seiner Belesenheit hat Jürgen Theobaldy stets einen unverwechselbaren eigenen Ton, der mit Begriffen wie Sprödigkeit oder Melancholie nur vage umschrieben ist: eine Sprachmelodie, die Musik nicht bloß nachempfinden, sondern träumerisch nachzuschaffen versteht.
Hans Christoph Buch

Heiterkeit und Trauer, Daseinslust und Verzweiflung gehen in diesen Versen ein produktives Bündnis ein.
Albert von Schirnding

Es geht darum, einen Schwebezustand des Sinns zu erreichen und die Herrschaft der sprachlichen Konditionierungen, die uns beherrschen, in der Erfahrung des poetischen Augenblicks auszulöschen.
Michael Braun

Ihn darf man den Idyllikern zurechnen: Er ist auf einer Linie mit Ewald von Kleist, Klopstock und Gleim: zart, formbewußt, einem Stück umgrenzter Alltagswelt zu schöner Gegenwart verhelfend. Seine Ironie schottet sich nicht ab, ist vielmehr Augenzwinkern, das weiß um die Unzulänglichkeit von Poesie in der verwalteten, vermarkteten Welt.
Jan Volker Röhnert

Mit Theobaldy, Born und Haufs kam ein neuer, ein anderer Ton in die deutsche Lyrik, eine Art lakonischer Sachlichkeit.
Martin Lüdke

Seine Verse sind unaufdringlich, doch sie gehen Widersprüchen nicht aus dem Weg; sie tragen den Angriff dort vor, wo ihn die Gesellschaft, der er gilt, nicht erwartet; sie beschreiben die Güte des Chefs, den Zeitgenossenjudas, den Tod eines jungen Rebellen, die wilde Ehe, mit Worten privater Erfahrung, gelassen, sinnfällig, genüßlerisch im Detail.
Bernd Jentzsch

Poesiealbum 368

Theobaldys Gedicht gerät früh in die theoretischen wie praktischen Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Funktion von Literatur, woraufhin er – wie auch Born und Haufs, die anderen Mitglieder dieser Dreierbande – der Lyrik mit einem eigenen Ton einen neuen Weg zu geben sucht. Er belebt sie, indem er ihr alles Weihevolle nimmt, sein Schreiben zeitlich wie räumlich ausweitet und sie hereinholt in sein tägliches Tun, das turbulente Geschehen um ihn her.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2022

 

Beiträge zu diesem Buch:

Michael Braun: Die Trümmer der Utopie
Die Rheinpfalz, 3.9.2022

 

 

 

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