DURCHWANDERUNG DER BIBLIOTHEK
Mir fällt ein Sylvia Plath-Band in die Hand.
Er trägt eine Widmung, obwohl er fünf Jahre
nach ihrem Selbstmord erschien. Ein Aufsatz
fällt mir in die Hand, auf dem Foto lesen Delmore Schwartz
und seine Frau in einer Ady-Gesamtausgabe.
Die Trilogie Hermann Brochs fällt mir in die Hand,
eine alte Unterschrift aus den Dreißigern.
Am Haus rollt ein bis zu den Scheiben verschneites
Auto vorbei. Ich werde lesen.
Halte die Buchstaben wie eine Maske vor das Gesicht.
Nichts außer Lesen werde ich sein. Was hat wohl
Delmore in dem Buch gesucht?
Ob Sylvia wirklich einer Widmung zuliebe auferstanden ist?
An diesem Tisch hier könnte ihr Mann einen Brief
an sie verfaßt haben, während sie im Nebenzimmer
auf dem Bett lag. Der Hubschrauber fliegt
tief, jede Butzenscheibe des Fensters aus Bleiglas
tanzt. Ich gehe in die erste Etage,
um etwas für mich Neues zu sehen. In zwei Jahren
haben wir bereits das Jahr 2000.
(2000)
István Vörös
Nyugaton a helyzet változatlan.
Senki sem beszél magyarul.
Im Westen nichts Neues.
Kein Mensch spricht Ungarisch.
(Otto Fenyvesi)
Gehen wir davon aus, daß eine Anthologie kein gewöhnliches Gedichtbuch ist, sondern eine gesonderte Gattung, bevorzugter Schauplatz der Begegnung zwischen Gedicht und Leser – Spiegelbild – Zeitbild – Panorama – Gruppenbild – Galerie –, dann nähern wir uns dem Umriß dessen, was die vorliegende Gedichtsammlung repräsentieren möchte. Sie versammelt Gedichte von etwa dreißig ungarischen Dichterinnen und Dichtern, beginnend mit jenen, die sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu Wort gemeldet haben – einige von ihnen (Károly Arató, András Fodor, Ágnes Nemes Nagy, Ottó Orbán, János Parancs, György Petri und János Pilinszky) sind leider nicht mehr am Leben. Und sie versammelt – weit davon entfernt, Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben – Dichterinnen und Dichter, die die heutige Literaturszene bereichern. Der jüngste von ihnen ist der 1981 geborenen Gábor Lanczkor. Die Auswahl öffnet ein Fenster auf eine in Europa sprachgeschichtlich einzigartige Sprache und eine dem westlichen Leser sehr wenig bekannte, reiche Literatur. Um einen Teil dieser Dichtung einem breiteren deutschsprachigen Publikum vorzustellen, veröffentliche ich seit Jahren meine in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre begonnenen Übersetzungen aus dem Ungarischen in deutschsprachigen Literaturzeitschriften und ein- oder zweisprachigen Lyrikbänden.
Nun soll die zweisprachige Anthologie Streiflichter – lyrische Begegnung, Zusammenprall und Ausgleich zweier Sprachen – einen großen Teil dieser Übersetzungen in chronologischer Reihenfolge der Geburtsdaten der Verfasser bündeln. Sie wollen nicht Wert messen, sondern Präsenz feststellen. Die Jahreszahlen bei den einzelnen Gedichten markieren das Publikationsjahr der ungarischen Fassung. Wo es mir notwendig erschien, erläuterte ich historische und kulturelle Bezüge in den Anmerkungen. Knappe bio-bibliographische Angaben geben schließlich Auskunft über die einzelnen Dichter.
Mein Dank gebührt den ungarischen Dichtern, die der Übersetzung ihrer Gedichte zugestimmt haben. Ebenfalls danken möchte ich den deutschen Redaktionen und Verlagen, die die Veröffentlichung der Gedichte in der Anthologie zuließen. Sehr verbunden bin ich Ursula Haeusgen für die großzügige Aufnahme des Anthologieprojekts in die Reihe der Blauen Bücher der Stiftung Lyrik Kabinett. Daniella Jancsó und Wolfgang Berends schulde ich Anerkennung für ihre sachkundige und feinfühlige redaktionelle Betreuung.
Julia Schiff, Vorwort
In einem autobiografischen Text erzählt Julia Schiff, wie sie die Autoren und Gedichte auswählt, die sie übersetzen möchte: Sie läßt sich von ihrer Intuition leiten, von dem Wunsch, sich im Text wiederzufinden.
Hätte ich TIBR ZALÁN oder MÁRTON KALÁSZ nicht als Seelenverwandte empfunden, hätte ich mich nicht mit den Inhalten ihrer Gedichte identifizieren können, wäre es vielleicht nie zu einer deutschen Übersetzung und Veröffentlichung ihrer Gedichtbänder gekommen.
Ausschließlich literarische Texte zu übertragen, die einen selbst begeistern, ist die große Freiheit, von der jede Übersetzerin träumt. Julia Schiff hat sich diese Freiheit genommen und sie hat die Konzentration, die durch diese Selbstbestimmtheit ermöglicht wird, in eine schöne und feste Brücke zur ungarischen Lyrik verwandelt.
Der Band, den Sie in der Hand halten, ist dieses Sprachbauwerk. Er bietet Gedichten der letzten Jahrzehnte die Möglichkeit, vor eine deutschsprachige Leserschaft zu treten. Und umgekehrt erlaubt es der Gedichtband den Liebhabern der ungarischen Dichtung, ihre Begeisterung für eine klangvolle und eigenwillige Poesie hier zu erneuern und zu steigern.
Die Autoren im Band repräsentieren drei aufeinander folgende Generationen aus dem ungarischen Sprachraum, auch die Poesie Siebenbürgens ist durch maßgebliche Stimmen vertreten.
„Unsere Zukunft ist wie die // Trauer die längst verklungen, // uns bekannt ist sie unwiederholbar“, schreibt ÁGNES NEMES NAGY 1957. Nemes Nagy, die sich während des Krieges an der Rettung vieler jüdischer Mitbürger beteiligte, wofür sie vom Israelischen Staat den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ erhielt, gehörte zu dem gleichen intellektuellen Kreis wie der katholische Dichter JÁNOS PILINSZKY.
Beide haben die seelische und geistige Erschütterung des Krieges überlebt und zu einer universell poetischen Sprache werden lassen. Das jahrelange Publikationsverbot, das nach der kommunistischen Machtübernahme gegen sie verhängt wurde, konnte ihren Werken nichts anhaben.
Aber nicht nur NEMES NAGY und PILINSZKY sind international bekannte Größen der ungarischen Lyriktradition. GYÖRGY PETRI, der bis zu seinem Tode im Jahr 2000 der unbestechliche Rebell und Querdenker der ungarischen Literatur geblieben war, hatte es durch Übersetzungen seiner Werke geschafft, den „goldenen Käfig“, wie es ungarische Autoren gerne mit bittersüßem Beigeschmack formulierten, mehrfach zu verlassen. Während er jedoch im Ausland gefeiert wurde, war sein Leben und Schaffen im eigenen Lande von Verbannung aus dem öffentlichen Leben überschattet.
Auch GÁBORSCHEIN ist sehr vertraut mit der Lyrik von ÁGNES NEMES NAGY und selbst nicht unbekannt in der deutschsprachigen Literaturszene, ebenso wenig wie auch mein Vater MARTON KALÁSZ, dessen Gedichte schon zu DDR-Zeiten übersetzt wurden, oder ISTVÁN VÖRÖS, der zu jüngeren Vertretern der ungarischen Literatur gehört.
ZSUZSA RAKOVSZKY fand unter anderem als Romanautorin den Weg in die deutsche Buchlandschaft. Das sind nur einige Beispiele für Kontakte zwischen ungarischen Autoren und dem deutschen Publikum. Aus der Sicht einer leidenschaftlichen Vermittlerin ungarischer Literatur, wie es Julia Schiff ist, kann natürlich nie genug passieren. Und Vermittlung kann nun einmal nicht ohne Übersetzungen geschehen.
Es ist nicht genug zu bewundern, daß Julia Schiff immer wieder ihre eigene schriftstellerische Arbeit in den Hintergrund stellt, um diese verdienstvolle Arbeit zu leisten. Dabei nennt sie diese Arbeit nicht einmal Arbeit, sie spricht von ihrer Leidenschaft.
Die Auswahl stellt Dichter vor, die im ungarischen Sprachraum geschätzt und geliebt werden, und die in allen hier vertretenen Generationen eine große Leserschaft haben. Dennoch ist es Julia Schiffs Intuition allein zu verdanken, daß sie nun einer größeren, einer ganz anderen Leserschaft zugänglich gemacht werden.
Als Leserin dieser wunderbaren Auswahl von Gedichten war ich von zwei Dingen sehr ergriffen. Zum einen vereint der Band Autoren, die durch jahrzehntelange politische Grabenkämpfe in Ungarn getrennt wurden, die heutzutage möglicherweise nicht zusammen an einem Tisch sitzen würden. Liest man das Buch als einen Querschnitt durch die ungarische Lyrik, kann man die harten Trennlinien nicht nachvollziehen. Zum anderen sind die Autoren durch ein und dieselbe Tradition verbunden. Den Glauben an die gesellschaftliche Relevanz ihrer Dichtung beziehen sie aus einem hohen ästhetischen und moralischen Anspruch an das Schreiben.
Als Übersetzerin ungarischer Gegenwartslyrik ist mir die Art und Weise, wie Julia Schiff die sprachlichen und kulturellen Hürden mit Leichtigkeit nimmt, eine Bestätigung, daß das Unübersetzbare nur eine vorübergehende Erscheinung sein kann.
Liebe Julia Schiff,
herzlichen Dank für diese schönen Übersetzungen.
Orsolya Kalász, Nachwort
Die ungarische Volksdichtung ist einzigartig reich, ihre Wurzeln führen in entfernte Zeiten und Gegenden. Die ungarische Kunstdichtung hingegen ist viel jünger, sie ist ,lediglich‘ ein gutes halbes Jahrtausend alt.
Die früheste bisher bekannte – und erst im 20. Jahrhundert entdeckte – ungarische Poesie stammt aus dem 13. Jahrhundert: Die Ómagyar Mária-siralom – Die Altungarische Marienklage. Zweihundert Jahre später schrieb der große ungarische Dichter des Humanismus und Zeitgenosse von König Matthias, JANUS PANNONIUS (1434–1472), seine Werke noch auf Latein. Sie wurden europaweit gelesen und gewürdigt.
Das, was jedermann las, gab einst italische Erde,
aaaaaNun bringt Pannonien auch eigene Lieder hervor.
Ruhm wird ihnen zuteil. Doch größerer Ruhm sei gespendet,
aaaaaEdles Vaterland, dir, das diese Lieder gebar.
(„Lob Pannoniens“ – Übersetzung von Stephan Hermlin)
Der erste große Klassiker der ungarischen Dichtung, der in der Nationalsprache schrieb, war BALASSI BÁLINT (1554–1594), der in den Türkenkriegen verwundet wurde und starb.
Um des Ruhmes wegen,
Ehre einzulegen
ist für sie der höchste Lohn.
Tapferkeit im Kriege,
Edelmut im Siege –
Maß gebt ihr der Welt davon:
Sprengen von den Hügeln,
wie auf Adlersflügeln,
stoßen zu und wenden schon.
(Aus dem „Lob der Grenzhüter“ – übersetzt von Géza Engl)
Von da an entwickelte sich die ungarische Literatur langsam aber beständig, obwohl im Land zweihundert Jahre lang (von 1514 bis 1711) fast ununterbrochen innere und äußere Kämpfe wüteten – wie auch auf deutschem Boden während des Bauern- und des Dreißigjährigen Krieges. Auf dem Gebiet Ungarns lieferten sich die Heere der ehemaligen Großmächte, des Habsburgischen Imperiums und des Osmanischen Reichs, blutige Schlachten gegeneinander und gegen ungarische Kämpfer. Es grenzt fast an ein Wunder, daß sich die ungarische Schriftsprache unter diesen Bedingungen weiterentwickelte und weiterverbreitete. Nicht zuletzt die Reformation, die sich der Nationalsprachen angenommen hatte, trug dazu bei. 1590 erschien die erste Bibel in ungarischer Sprache im Druck.
Die ungarische Literatur des Barockzeitalters kann bereits Werke von europäischem Niveau vorweisen, aus denen das Epos A Szigeti veszedelem (Die Belagerung von Sziget) des Dichters und Heerführers MIKLÓS ZRINYI (1620–1664) herausragt. Zrinyi setzt darin seinem Urgroßvater gleichen Namens, ebenfalls ein großer Heerführer, ein Denkmal. Die Geschichte von dessen Martertod hatte große Wirkung auch auf die deutschen Zeitgenossen, so auf Hans Sachs; Zrinyi wurde sogar zum Helden mehrerer literarischer Werke der deutschen Romantik, wie zum Beispiel eines Dramas von Theodor Körner.
In der sich trotz ungünstiger Umstände entfaltenden ungarischen Kultur kam von Anfang an der Literatur, insbesondere der Lyrik, eine besondere Bedeutung zu. Dieses vom westeuropäischen abweichende Modell war allerdings keine ungarische Eigenheit, es war charakteristisch für die Kämpfe um nationalen Fortschritt und Emanzipation in ganz Osteuropa. Dies gilt auch für die volkstümlichen Überlieferungen, die auf dem vom Baltikum bis zum Balkan ethnisch, konfessionell und kulturell bis heute farbenreichen Gebiet außerordentlich stark waren und sind. Gerade die für die großen westlichen Nationen bis dahin beinahe unbekannte Volksdichtung weckte das Interesse wichtiger Vertreter der europäischen Aufklärung – vor allem der deutschen Philosophen, Wissenschaftler und Schriftsteller, die sich besonders mit den grundlegenden Fragen nationaler Entwicklung und Emanzipation beschäftigten. Das in Aufsätzen und Sammelwerken offenbarte Interesse der großen, ,gebildeten‘ Nationen bedeutete einen enormen Antrieb für die Völker Osteuropas, so auch für die Ungarn. Geistliche auf dem Land, Lehrer und Schriftsteller sammelten die volkstümlichen Texte und versuchten auch selbst, in der Sprache und im Stil der Volkslieder zu schreiben.
Die klassizisierende adelige Literatur der früheren Jahrhunderte – deren letzter und zugleich größter Dichter DÁNIEL BERZSENYI (1776–1836) war – wurde graduell von der Volkstümlichkeit abgelöst. Berzsenyi und seine Vorgänger waren gedanklich und formal noch Anhänger der antiken griechischen und lateinischen Autoren sowie der französischen Klassiker. Das Weltbild der Autoren, die nach den napoleonischen Kriegen die Szene betraten, wurde immer mehr von den liberalen Ideen der Aufklärung und dem radikalen Gedankengut der Französischen Revolution bestimmt: ihre Ästhetik von der Romantik und ihre lyrische Sprache von der volkstümlichen Gemeinverständlichkeit und Unmittelbarkeit. Diese Epoche wurde von zwei miteinander befreundeten Dichter-Titanen beherrscht: dem in der 1848/49er-Freiheitsbewegung gefallenen SÁNDOR PETŐFI (1823–1849) und JÁNOS ARANY (1817–1882), der gemeinhin für den größten Meister der ungarischen Sprache gehalten wird.
Petőfi ist der bis in unsere Tage auch international bekannteste ungarische Dichter. Und obwohl bereits eine Generation früher die Dichtung des Ungarndeutschen NIKOLAUS LENAU (1802–1850) die ungarische Puszta bei den deutschen Lesern beliebt gemacht hatte, beeinflußten die suggestive landschaftsmalerische Lyrik Petőfis und seine Genrebilder entscheidend das Ungarnbild jenseits der Leitha. Ein halbes Jahrhundert später zogen die für die Deutschen exotischen Klischees in die Operette, danach in den Film ein. In der Touristikbranche spielen sie bis heute eine Rolle.
Die Dominanz der Volkstümlichkeit in der ungarischen Dichtung ging Anfang des 20. Jahrhunderts zu Ende – die Hauptrolle kam dabei ENDRE ADY (1877–1919) zu, dem führenden Vertreter der modernen, westlichen (hauptsächlich französischen) Lyriktendenz. Seine revolutionär-neuartige Dichtung verband auf originelle Weise die ältesten ungarischen lyrischen Traditionen mit der modernen französischen Poesie. Sie eröffnete eine neue Ära, die in gewissem Sinne bis heute anhält. Auch Adys Tod ereignete sich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem die tausendjährige Geschichte seines Landes einen schicksalhaften Wendepunkt erreicht hatte. Infolge des zusammen mit Österreich an Deutschlands Seite verlorenen Ersten Weltkriegs zerfiel das historische Ungarn, der größte Teil seines Gebiets und seiner Bevölkerung kam zu den (heute acht) benachbarten Staaten, zu denen auch Österreich gehört.
Der Vertrag von Trianon ,zerstückelte‘ 1920 auch die bis dahin einheitliche ungarische Literatur: Von da an mußte von einer ungarischen Literatur aus der Tschechoslowakei (später Slowakei und Karpaten-Ukraine, d.h. Ukraine), Rumänien (oder aus Siebenbürgen) und Jugoslawien (heute Serbien) gesprochen werden. Für die ungarischen Minderheiten war und ist der Erhalt ihrer Sprache und Kultur lebenswichtig; dabei spielte und spielt auch heute ihre Literatur die entscheidende Rolle. Ihre Dichter und Schriftsteller bekannten sich und bekennen sich auch heute noch – dem zeitweilig auf ihnen lastenden politischen Druck zum Trotz – als einer gemeinsamen ungarischen Literatur zugehörig. Das bezieht sich auch auf die westeuropäische und nordamerikanische ungarische Emigration, in deren Gemeinschaften hauptsächlich nach 1945 und 1956 zahlreiche bedeutende Autoren lebten und auch heute noch leben.
Zweifelsohne war ATTILA JÓZSEF (1905–1937) der Bedeutendste unter den zahlreichen hervorragenden ungarischen Lyrikern der Periode zwischen den beiden Weltkriegen. Die gesteigerte individuelle und gesellschaftliche Sensibilität sowie das kämpferische Wortergreifen seiner Lyrik lassen ihn als größten Nachfolger von Petőfi und Ady erscheinen. Seine lyrische Sprache aber gründet nicht auf Naturbildern oder symbolistischen Metaphern, sondern schafft ihren eigenen sachlichen Stil, der auch die nachkommenden Generationen von Lyrikern beeinflußte. Er übte einen bleibenden Einfluß sowohl auf das Lager der ,Urbanen‘ (der Städtischen, westlich Orientierten), wie auch der ,Volkstümlichen‘ (der ungarischen Eigentümlichkeiten, der Landbewohner) aus, d.h. auf die literarischen Vertreter der ideellen und ästhetischen Tendenzen, die das ungarische geistige Leben und so auch seine Literatur bestimmen.
Zu den Folgen der grauenhaften Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und der neuerlichen katastrophalen Niederlage des Landes gehörte auch, daß Ungarn zusammen mit den weiteren Staaten Osteuropas – und somit auch mit den außerhalb seiner Grenzen lebenden Ungarn – für fast ein halbes Jahrhundert unter die Herrschaft der kommunistischen Diktatur geriet. Die ideologische Zwangsjacke bestimmte die Tätigkeit der geistigen Elite für Jahrzehnte. Schriftsteller waren der staatlich verordneten Zensur der Partei dabei noch mehr als die anderen Künstler ausgeliefert. Dennoch entstanden herausragende lyrische Werke, ja Lebenswerke. Die Revolution und die Freiheitsbewegung von 1956 – die sich die Bewunderung der ganzen Welt erstritten – stellten ein bleibendes Erlebnis für die Nachkriegsgeneration der Lyriker dar, waren doch mehrere von ihnen Teilnehmer der Revolutionsereignisse und Opfer der folgenden grausamen Vergeltungsmaßnahmen.
Zur Zeit der Konsolidierung des Kádárschen Regimes und der Lockerung der Unterdrückung geriet die politische Stellungnahme im lyrischen Ausdruck Ende der 1960er Jahre auch jenseits des äußeren Zwangs mehr in den Hintergrund und das Private mehr in den Vordergrund. Die zeittypische Veränderung der herkömmlichen lyrischen Sprache wurde beschleunigt, und die auf freie Assoziationen fußende Bildproduktion dominierte die Poetik zunehmend. Das Regime, unter dem die ungarischen Dichter lebten und schrieben, schien ewig, es gab wenig Hoffnung auf Veränderung. Was blieb, war das Privatleben, die kleinen Freuden der miteinander befreundeten Gesellschaften. Viele Dichter zogen sich zurück und isolierten sich. Die Zeit der schöpferischen Gruppierungen und Atelierorganisationen schien abgelaufen – merkwürdigerweise zeitgleich zu ähnlichen Tendenzen auch im Westen, dort allerdings unter Bedingungen beinahe grenzenloser Freiheit. Das Grunderlebnis dieser sich heimatlos und wirkungslos fühlenden Generation war, daß die Lyrik im historischen Vakuum nicht nur selbst problematisch, sondern auch sich selbst zum Problem wurde. Der gesellschaftliche Rollenverlust der Lyrik äußerte sich auf der Textebene zunehmend in Ironie, im Grotesken und Paradoxen.
Nach der Wende von 1989 nahm – abgesehen von einer kurzen Phase kollektiver Euphorie – die Unübersichtlichkeit noch zu, ohne eine einheitliche Richtung der Kunst oder eines klar umrissenen gesellschaftlichen Stellenwertes. In den ehemaligen kommunistischen Ländern wurden die Dichter frei, sie verloren aber gleichzeitig die Sicherheit staatlicher Unterstützung und auch die moralische gesellschaftliche Achtung, die sie sich früher durch ihre schweigende, angedeutete oder offene Konfrontation mit dem Regime erworben hatten.
Der Band, den der deutsche Leser in den Händen hält, bietet einen vielseitigen Einblick in die Lyrik dreier Generationen ungarischer Dichtung der neuesten Zeit. Die erste Generation ist noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren und trat bald nach dem Krieg an die Öffentlichkeit. Hierzu gehören zwei emblematische Persönlichkeiten: JÁNOS PILINSZKY (1921–1981) und ÁGNES NEMES NAGY (1922–1991). Die zweite Generation wurde während des Krieges oder wenige Jahre danach geboren. Ihre lyrische Wortmeldung, beziehungsweise ihre Vollentfaltung fällt noch in die Zeit vor dem Umbruch. Herausragender Vertreter dieser Gruppe sind GYÖRGY PETRI (1943–2000) und JÁNOS MARNO (*1949). Schließlich werden wir zu einigen Verfassern geführt, die in der zunehmend freieren Atmosphäre der Vorwendejahre oder auch nach der Wende bekannt und viel gelesen wurden, wie zum Beispiel zu IMRE BABICS (*1961) und GÁBOR LANCZKOR (*1981).
Julia Schiffs Auswahl erfaßt drei Generationen von Lyrikern – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, wie ihn keine Anthologie erheben kann. Unter den Autoren sind viele, die hier zum ersten Mal einer deutschsprachigen Leserschaft vorgestellt werden. Die vorliegende Sammlung bietet daher eine repräsentative und anspruchsvolle Vorstellung der lebendigen und farbenfrohen ungarischen Lyrik der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart.
ÁRPÁD HUDY (Budapest), Nachwort
(Übersetzung von Julia Schiff)
veröffentlicht eine Blütenlese ungarischer Dichtung des 20. und frühen 21. Jahrhunderts: Die durchgehend zweisprachige Anthologie Streiflichter will die deutsche Leserschaft für die ungemein vielgestaltige ungarische Lyrikszene sensibilisieren und den ungarischen Dichterinnen und Dichtern zeigen, dass sie in Deutschland wahrgenommen werden. Laut Orsolya Kalász (der Huchel-Preisträgerin 2017) bildet der Band eine „schöne und feste Brücke zur ungarischen Lyrik“ des 20. Jahrhunderts: „Dabei vereint er einerseits Autoren, die durch jahrzehntelange politische Grabenkämpfe in Ungarn getrennt wurden, zum anderen sind die Autoren durch ein und dieselbe Tradition verbunden. Den Glauben an die gesellschaftliche Relevanz ihrer Dichtung beziehen sie aus einem hohen ästhetischen und moralischen Anspruch an das Schreiben.“ Das Buch präsentiert 28 Dichterstimmen, von János Pilinszky (1921–1981) bis hin zu Gábor Lanczkor (* 1981).
Lyrik Kabinett, Ankündigung auf Amazon.de
Monika Vasik: Präsenz und Repräsentanz
fixpoetry.com, 27.4.2018
Gudrun Brzoska: Rezension: Julia Schiff (Hrsg.): Streiflichter – Fénycsóvák
literatur.ungarisches-institut.de, 22.11.2018
Volker Strebel: Die Zeichensprache des Akazienlaubs
literaturkritik.de, Juli 2018
Schreibe einen Kommentar