KREIS SIEGEN-WITTGENSTEIN
Die Welt ist alles, Tat &
Tätlichkeit, ist n u r das, was
der Fall ist, aber nicht: Dasein
in Gedanken – eher das Leben
als Kreissäge durch gepfählte
Landschaft, zeichenschwer.
Die Welt besteht aus Tatsachen,
Die Dinge aus Verhalten,
Verhandlungen, Hand-
Anhaltungen, Verhältnissen…
& Postkarten voller Bäume
in Bad Berleburg, denn:
Tatsachen werden zu Bildern.
Merkwürdig abfotografiert &
voller persönlicher Satzzeichen.
Das logische Bild der Tatsachen ist…?
Der sinnliche Ausdruck des Gedankens ist…?
Mutige Gedanken, Gedenktafeln mit
Wahrheitsfunktion, der Satz, der
sinnvolle, der Elementarsatz:
„Oh, du mein Rothaargebirge!“
wie die uns umgebenden Gegenstände sind auch Julia Trompeters Gedichte. Bereits der Titel ihres Lyrikdebüts verdeutlicht eine eigene Art Zweifel an der Möglichkeit zur Erkenntnis, ist hier doch eine verspielte und lebenszugewandte, eine neugierige und verblüffend komische Skepsis am Werk. Empfindung, Vorstellung und Traum stehen in diesen Gedichten immer gleichberechtigt neben vermeintlichen Tatsachen. Grenzen dafür, was Gegenstand eines Gedichts sein kann, kennt Trompeter nicht: „Pflichtschuldig lächelnd klopft dein / Zeh bei mir an, Nagelbett rund wie die Welt: / Globuli Hoffnung für zwei Monolithen / im eingenordeten Morgen.“ An anderer Stelle gerät der Kuss zum phänomenologischen Experiment, und nahe erscheint dem Leser mit einem Mal nur, was sich zugleich verbirgt. Julia Trompeters Gedichte handeln von Liebe und Landschaft, vom Leben im heutigen Alltag und dem in den Lektüren – ein poetischer Reichtum in so unverbrauchtem wie traumwandlerisch schwebendem Ton.
Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung, Ankündigung
– In der Realität ist derzeit Abschottung in aller Munde. Die junge Lyrik dagegen bricht mit Grenzen. Julia Trompeters Gedichte bescheren Erweckungserlebnisse. –
Vorbei das ewige Zetern, vorbei der laue Pragmatismus, vorbei das Halbgare und das Harren im Jetzt, das keine Zukunft hat. Mag sein, dass die Politik die zahllosen Krisen der Welt noch immer im visionslosen Modus der Administration abarbeitet. In der zeitgenössischen Lyrik jedenfalls stehen die Zeichen gen Aufbruch. Während in die Realität derzeit mehr denn je die Wiederherstellung von Grenzen in aller Munde ist und die Rufe nach Abgrenzung und Abschottung lauter werden, brechen die Poeten der Gegenwart mit Strukturen und überkommenden Konventionen.
Erweckt werden wir just von der 1980 in Siegburg geborenen Autorin Julia Trompeter. Ihr Lyrikdebüt Zum Begreifen nah sensibilisiert uns für das Dazwischen, für das Noch-Nicht, für das Werden. In der Liebe, in der Landschaft, im alltäglichen Dasein schlummert ein „verborgenes Wissen“. Während eines Philosophieseminars an der Ruhr-Uni – so auch der Titel des Gedichts, der auf Trompeters Promotionszeit in Bochum hinweist – „träumen [Studenten] / von scharfen Kurven einer / anderen Stadt, anderen Welt“. Ein sich von Licht ernährender „Müllbuddha (ich) […] wartet auf Neujahr und darauf, / dass sein Kreislauf sich schließt.“ Da Vollkommenheit Stillstand bedeutet, zeichnet Trompeter vielmehr Evolutionen und in der Schwebe gehaltene Zustände nach. Schnell gebärdet sich ein Ich als „fließendes Gewässer“ oder gar als „Reeperbahn am Morgen, wenn die Lichter / sich im ersten Sonnenschein verlieren…“.
Das Vage regt an und soll nicht aufgelöst werden. Ganz im Gegensatz etwa zu Silke Scheuermann, die in ihren Gedichten ganz auf klare Bilder setzt. In ihrem Band Skizzen vom Gras (2014) lässt Scheuermann mit all ihrer poetischen Wucht ausgestorbene Tierarten wieder auferstehen und proklamiert die „zweite Schöpfung“. Statt für vorgefertigte Paradiese, wo den Menschen die Tauben in den Hals fliegen, plädiert sie für Gärten, die den Einzelnen zur Kreativität, zum kultivierenden Werk, einladen. „Im Leeren / Den Sinn selbst erschaffen“, impliziert keinen freien, existenzialistischen Fall, sondern die Chance, Neues zu entwickeln.
Weniger das Ende, als vielmehr der Prozess – oder wie der wohl utopieaffinste aller Philosophen Ernst Bloch einst schrieb: Das Gären zeichnet die sich in der neueren Dichtung manifestierenden Utopien aus: Als ein Bewusstsein, eine Fließbewegung, eher ein Denken statt eine geschlossene Idealwelt, wie sie noch die klassischen Staatsvisionen à la Thomas Morus (Utopia, 1516) entwerfen. Dass Literatur dieses Werden in besonderer Weise einzufangen vermag, ist Bloch nicht entgangen. Wenn Kunst etwas legitimiere, dann ihr Vorschein. Ihr wohnt eine entwicklungsfähige Anlage inne, die der Einzelne nur zur Entfaltung bringen muss. Kurzum: Kunst und, wie es derzeit scheint, vor allem Lyrik zeugt vom Geist der Zukunft, dem Streben nach einem besseren Dasein.
Das Energiefeld dieser Vorstellungskraft liegt dabei, wie Trompeters Lyrik anschaulich darlegt, in den Gegensätzen. Immer wieder geht Materielles in Immaterielles über, Körper und Geist erweisen sich als durchlässige Sphären. Was ist und was geschaffen werden kann, liegt allein in der Sprache: „Wer vermisst mich, wenn / ich nicht mehr Sprache bin“, fragt sich daher eines dieser vielen Subjekte von Trompeter, die allesamt ein Reich zwischen Fantasie und Realität bewohnen, einen Kosmos, wo man den „Hintersinn“ erblicken oder „granatensanft geküsst“ werden kann.
Widersprüche aufzuheben, das Unmögliche möglich zu machen – hierin sieht Scheuermann, wie sie in ihrem luziden Essayband Und ich fragte den Vogel (2015) schreibt, das „uralte Paradox der Dichtung […], das Unendliche zu zeigen – im Augenblick“. Und auch Ernst Bloch sieht in der Dialektik, dem Mäandern zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ich und Du, Realität und Traum das Energiefeld, in dessen aufgeladener Mitte der utopische Moment entstehen kann. Das Unbekannteste, so der Kulturtheoretiker, sei gar nicht so sehr das Morgen, sondern die unmittelbarste Erkenntnis des Augenblicks, der zerrinnt, noch bevor wir ihn überhaupt hätten ergreifen können.
Wer diese Kunst der Antinomien aktuell mit größter Verve betreibt, ist Marion Poschmann. In ihrem Band Geliehene Landschaften, der auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse stand, schäumen die Wälder und verblüht die Wäsche. Humus und Tier kann das Lyrische Ich zur selben Zeit am selben Ort werden. „Sei der Traum und die Realität, / sei utopisches Potenzial“, „Komponiere die steinigen Massen am Eingang, / vervollständige deine Anlage mit einer Geisterwand“ – so der Appell einer Lyrik, die zur Verzauberung und Metamorphose der Welt anhält.
„Leben geht hin mit Verwandlung“, heißt es in Rilkes siebter Duineser Elegie. Vielleicht gilt dies auch grundsätzlich für das lyrische Schreiben, das doch nichts so lässt, wie es ist, das die Welt stets in Zeichen und Bilder hüllt und sie dadurch in ein höheres Sein hebt. Dass wir mal verhüllte, mal lichtglänzende Möglichkeitsräume bei Friedrich Hölderlin, Stefan George oder Paul Celan gleichermaßen auffinden können, legt die Vermutung nahe, dass der utopische Quell möglicherweise tatsächlich schon immer der Poesie eigen war.
Sicher ist jedenfalls: Nachdem die zeitgenössische Dichtung in der letzten Dekade schmerzlich um ihre eigene Legitimation ringen musste, hat sie nun eine wichtige, für den gesellschaftlichen Fortschritt unerlässliche Leerstelle besetzt: der Mut zu Visionen. „Aus mir kommt Herandonnern / des Augenblicks“, so das Ich, das sich in Trompeters Gedicht „Ein freischwebender Ton“ nach einem Du sehnt. Dieses zu finden und Distanzen in Worten zu überbrücken – darin besteht der Glücksfall dieser so dynamischen wie gedanklich freien Dichtung. Mit Trompeter wird ein Morgen sichtbar, als funkelnder Punkt an einem poetischen Horizont.
Dirk Uwe Hansen: Zu Julia Trompeter: Zum Begreifen nah
signaturen-magazin.de
Timo Brandt: Macht seinem Namen alle Ehre, aber lässt ihn auch entgleiten
fixpoetry.com, 19.4.2016
Florian Kessler: Lyrikempfehlung 2016
lyrik-empfehlungen.de
Die Lyrikerin Julia Trompeter liest und spricht mit Florian Kessler zur Präsentation der Lyrik-Empfehlungen 2016 auf der Leipziger Buchmesse.
Julia Trompeter liest für horcher.net
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