WAS IST EIN GEDICHT:
Wann ist etwas, das sich für ein Gedicht erklärt, ein Gedicht? Mit dieser Frage kehre ich an den Ausgangspunkt zurück – ein Gedichtsgedicht ist etwas in sich Geschlossenes, von sich Umschlossenes und etwas auf sich selber Bezogenes, das in all seinen Wörtern und Zeilen, die ebenfalls aufeinander verweisen, weil unterirdisch verbunden einander in sich tragen, mit sich selber Zwiesprache hält, als wäre die Zeit in ihm stehen geblieben für einen ewigen Augenblick der Kontemplation, und diese unsichtbare Ummauerung mit sich selber, dies Abweisende von lyrischen Gedichten (abweisend so lange, bis der Leser Ähnliches sich in sich verdichten spürt und selber wortlos mit den Worten des Gedichtes schwingt und so in es hineingerät), dies von mir etwas zu lyrisch beschriebene Abweisende von lyrischen Gedichten zeigt sich auch in ihrem Schrift- oder Druckbild, als Inseln liegen sie da inmitten weißer Leere. Eine ganz pragmatische Wahrheitsprobe wäre, solch ein Gedicht in durchgehenden Prosazeilen zu setzen – der Leser müßte bei sich: „das ist aber doch ein Gedicht!“ widersprechen, wie er, umgekehrt, vor manchem in Kurzzeilen wiedergegebenen Wortgebilde, d.h. unbeeindruckt von der äußeren Form eines Gedichtes, etwa: „das soll ein Gedicht sein?“ sagen sollte, hinzufügend etwa:
das sind ein paar Sätze, in annähernd gleich lange Wortgruppen zerstückelt, das ist die einzige Form daran!
hätte man also ein geglücktes lyrisches Gedicht in Prosa gesetzt vor sich, würde man die das jeweilige Zeilenende anzeigenden Schrägstriche vermissen, und das käme nicht nur von der einem vertrauten Oberflächengestalt von Gedichten, die ja nicht zufällig ist: in einem vollkommenen Gedicht steht jede Zeile für sich selber da, für sich entstanden etwa als Antwort auf eine einige Zeilen von ihr getrennte Zeile, etwa als Vorbereitung auf eine, die später aus ihr etwas aufnimmt, ein und demselben Wort einen anderen Sinn gibt inmitten nun abgeschatteter, inmitten nun lichterer Wörter,
in solch einem Gedicht hat sich die Zeilenabfolge oft erst nach langen Verschiebungen, wie auf einem Verschubbahnhof, ergeben, jede richtig befundene Verschiebung hat auch in anderen Zeilen Veränderungen bewirkt, und wenn dann die Zeilen richtig arrangiert sind, Rangierbahnhof, müssen bisweilen in Austauschproben manche Wörter, auch über viele Zeilen hinweg, ihre Plätze tauschen, in einer zweiten Zeile kann eines schwergewichtig sein, in einer letzten von Leichtigkeit, und so setzt jede Zeile eher in jeder anderen sich fort, auch rückwärts, als vor allem in der nächsten, ist mit dieser nicht fest zu verkoppeln, auch wenn ihr Gedanke in sie führt. Und so ist es ja auch kein Zufall, daß Gedichtszeilen, gleichsam frei verschwebend und in anderen sich wieder verdichtend, gern ohne Interpunktionszeichen enden.
was ich zuvor gesagt habe, nimmt sich sehr anspruchsvoll aus, mit ganz ganz wenigen Gedichten könnte ich diesem Anspruch einigermaßen gerecht werden, aber in einer viel bescheideneren Weise stimmt das immer:
es ist schwierig, in Langzeilen geschriebene Gedichte aus Rücksicht auf das schmale Format eines Lyrikbandes in kürzere Zeilen aufzulösen – man will, was eine logische Einheit ist, beisammenlassen, will die nächste Einheit oder eine angefügte Erläuterung davon separieren, und plötzlich kommt alles ins Schwanken und Schwimmen, man muß dann doch an dem anders konzipiert gewesenen Gebilde manches ändern, um ihm seine Standfestigkeit zurückzugeben.
woran wäre zu erkennen, ob ein Gedicht ein Gedicht ist; also wie weit es die Erwartung erfüllt, die man im Unterschied zur Prosa an die Lyrik hat? Gar nichts abgewinnen könnte ich einer Frage wie der, ob die Kunst höhere Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten, wie sie in der Natur und in uns zu finden wären, spiegle, ob sie eher der Auflösung und dem Chaos diene, ja ob sie nicht aufgrund der ihr immanenten Spielregeln auch dort baue und ordne, wo sie zerstören wolle; einiges aber hat für sich die Frage, ob der Kunst die totale Freiheit von einstmals verbindlichen Regeln, die Befreiung von Formzwängen, so gut getan habe, wie man es glauben möchte: ein vorgegebenes, kompliziertes Versschema verlangt einem ab zumindest die Beherrschung seines Handwerks, da genügt es nicht, nicht nur nicht ein Analphabet zu sein, und die Fähigkeit, einem Ordnungsprinzip zu genügen, das große Dichter bejaht haben, weil es sie zu Höchstleistungen geführt hat, wäre doch wohl mehr wert, als wenn man, der Stützung der Sprache durch die genaue Abfolge von soundsovielen Hebungen und soundsovielen Senkungen und der Zäsur da und dort… beraubt, in freien Rhythmen für sich hin dichtet, die an Minderbegabungen sich rächen durch ihre Neigung, schwächliche Gedanken auch in den Worten erschlaffen zu lassen (hier sei gedacht der Vorliebe des Dilettanten, Amateur müßte ich richtiger sagen, für den Reim, aus Bescheidenheit und Respekt vor dem, was für ihn ein Gedicht ist).
man hat es also in strengeren Gedichtszeiten leichter gehabt mit der Beurteilung von Qualität, sie hat sich dargeboten auf mehreren Stufen – mehr oder weniger gut gearbeitet, mehr nicht; akademisch erklügelt, aber seelenlos; virtuos, und von dieser Virtuosität die Verse und ihr Schema beflügelt; und als höchste Stufe: beseelt! So inspiriert das Gedicht, daß das metrische Schema, daß das Reimmaß in ihm aufgegangen ist, in ihm ganz sich aufgelöst hat, man merkt nicht, daß es reimt, so natürlich erscheinen die Reime, höchste Inspiriertheit hat die Hebungen und Senkungen zu dem Atem der Verse gemacht!
und heutzutage? Ein bockiger Traditionalismus, ein Nicht-wahr-haben-Wollen, daß mit dem Zusammenbrechen der alten Ordnungen politischer und sozialer Art, daß mit dem Einbruch der Barbarei in dieses Jahrhundert und mit dem Hinweggeschwemmtwerden unterhöhlter Werte es auch mit der klassischen Form ein Ende hat, spricht aus denen, die über diese Zeit hinaus noch bürgerlich-klassisch weitergedichtet haben, unglaubwürdiger Spätklassizismus mit schönen Manschetten und Manschettenknöpfen, in Deutschland etwa Rudolf Alexander Schröder, im Geist eines Friedrich Georg Jünger, bei dem man liest:
Hebung sind und Senkung eines,
Und im Steigen wie im Fallen
Spüre ich: ein Maß ist allen
Dingen dieser Welt verliehen.
oder das, was Josef Weinheber über die Sonettform sagt, bestätigt ihn als einen Lyriker des Dritten Reiches (den Hinweis auf das F.G.Jünger-Gedicht und das folgende Zitat hat mir Professor Barmann, Amsterdam, gegeben):
Sie ist gewissermaßen auf der äußersten Rechten aufgestellt, als Zeichen und Unterpfand eines eifernden Ordnungswillens und als Sinnbild der Unumstößlichkeit der Gesetze. Sie ist das Kehrgesicht zu jener äußersten Linken, zum abgründig Chaotischen des genial Bedrängten, der auf des Messers Schneide geht und jeden Augenblick in das Sinnlose, Formlose, Gottlose abzustürzen droht –
das ist so lächerlich, daß man sich davon nicht abhalten lassen dürfte, ein Sonett zu schreiben, hätte sich nicht die klassische Form bis zum Reaktionären ästhetisch erschöpft; dies dürfte für meine Generation gelten, denn einige Jüngere erproben wieder klassische Formen, ohne dabei den Weg zu verleugnen, den die Kunst danach gegangen ist, und so entsteht auch nicht Verlogenes und nichts Glattes, über die Nazi-Sonettler und deren Ideologie springen sie hinweg.
was es uns Heutigen schwer macht, Gedichte zu schreiben, die Gedichte sind und nicht verkappte Prosa, fast so schwer, wie wenn wir Terzinen schreiben sollten, ist vor allem das: daß wir uns verbindliche Normen aufzuerlegen haben oder hätten, nämlich jeder andere oder etwas andere, die es zuvor noch nicht gegeben habe: jedem Gedicht müßten sie innewohnen und jedes Gedicht hätte als ihre Erfüllung ihnen standzuhalten – es ist gewiß leichter gewesen, einstmals Regeln zu umgehen und ihnen trotzdem zu genügen als in reimlosen, freien Versen nur für einen selber charakteristische Gedichtsfiguren und Variationstechniken zu entwickeln zur Rechtfertigung des Gedichts als Gedicht, und von diesem Zwang oder Drang kommt es, daß wir unseren Gedichten ihre Theorie eingegeben; daß das eine und andere etwas aufdringlich: ich bin ein Gedicht! sagt
an wenig können wir uns halten, wenn an einem Gedicht wir arbeiten, aus seiner inneren Gestalt hat es, solange die noch verhüllt ist, eine äußere Form hervorzubringen – ein verschleiertes Bild, ein ungreifbares Wort bleibt manchmal zermürbend lange sein Inneres, viele Male vergeblich umkreist, es zum Sprechen zu bringen, und unversehens beginnt es sich manchmal zu entfalten; oft aber bleibt das Gedicht im verborgenen – man fühlt, wie es sein wird, es fehlen nur die Worte; viele Vorschläge läßt es sich unterbreiten, aber keiner wird angenommen. Segensreich für mich die Male, wo mir im Spazierengehen oder im Halbschlaf eine Gedichtszeile zufällt: hat die sich eingestellt, läßt das Übrige aus ihr sich ableiten, aus ihr sich entwickeln; aber auch da kann es passieren, daß eine Zeile ungebührlich lang auf sich warten läßt oder eine schwer korrigierbare falsche sich einstellt, will ich sie erzwingen. Ich will damit nur sagen, daß heutige Lyriker nicht Inspiration beziehen aus der Anpassung an ein bzw. aus der Umgehung eines Ordnungsprinzips, sondern mit sich und ihren Worten allein gelassen im Dunkeln tappen, bis es manchmal licht wird, in einer auf die anderen Zeilen Licht abgebenden Zeile; bis plötzlich wie von selber sich ein Worte-Gebilde zu einem Gedicht verdichtet, Augenblick, der daran zu erkennen ist, daß dieses Gedicht sich gegen seinen Hervorbringer abdichtet – nun schält er es aus der Leere heraus, als wäre es immer schon vorhanden gewesen und hätte nur freigelegt zu werden gewartet: er weiß sich und sein Gedicht gerettet, aber die nun von ihm genommene Ratlosigkeit, was zu einem Gedicht werden soll und wie, bleibt manchmal über dem fertiggestellten Gedicht hängen, für den, der es liest – wir wissen immerhin meistens, wann uns Bestmögliches gelungen ist, Wahrmachung unserer Vorstellung von einem Gedicht – Sie aber haben nun gar nichts, woran Sie sich halten können in der Beurteilung heutiger Gedichte, ein jedes haben Sie an seinen eigenen Verdiensten zu messen, gleichsam schattenhaft in ihm vor sich zu sehen den Plan und die Skizzen, aus denen es sich in seine letzte Gestalt entwickelt hat…
zu Bescheidenheit aber mahnt mich die Tatsache, daß ich viel viel weniger Gedichte geschrieben habe als Gedicht-Ähnliches; daß ich lyrische Variationen eines Einfalles in meine Gedicht-Sammlungen dann aufgenommen habe, wenn mir ihnen äußere Gedichtsform zu geben plausibel erschienen war, und sei es, weil sie eher lange Gedichte wären als lyrische Kurzprosa, und so sollte ich lieber sagen, was für mich ein vollkommenes Gedicht wäre, weil so selten so eines gelingt:
ein vollkommenes Gedicht wäre für mich der Wort gewordene Augenblick, in dem kaum Gedachtes, auch kaum Gefühltes mit scheinbar gar nicht, in tieferen Schichten aber Vorhandenem zusammenschießt und zusammenfindet in wie von selbst gefundener Gestalt; es ist oder wäre für mich dann entstanden, wenn das dem potentiellen Gedicht auf vielerlei Arten dargebrachte Wort- oder Spielmaterial eigenmächtig den entscheidenden Entwicklungssprung getan hat, Augenblick einer Metamorphose, in welchem es sich wie von selbst aus den Wünschen des Autors hinweghebt, in seinem Aufleuchten vielleicht sogar den Ureinfall mitverbrennt, seinem Anlaß fremd geworden bis zum Nicht-wieder-Erkennen.
ein vollkommenes Gedicht wäre somit für mich eines, das nicht Abbild ist, als ein Bild seiner selbst nur sich selber abbildet; oder eines, das Alltagswörter in einem Mondhof erscheinen macht; das die Kraft hat, Alltagswörter zu transsubstanziieren in der Art, daß sie zwar bedeuten bleiben, was sie bedeuten, daß ihnen aber von dem Ganzen, an dem sie zugleich ihren Anteil haben, eine Bedeutung eingehaucht wird, die nur dieses eine Mal sie haben und die die geläufigen Bedeutungen zurücktreten macht: so weit aber nur, daß die Bedeutungsverschiebung meßbar bleibt und diese Wörter, einander bestärkend in ihrem Eigensinn, sich nicht plötzlich aufzulösen beginnen in unlösbare Zeichen – Brot bleibt das Brot nach der Wandlung, und ist nach der über es gesprochenen Konsekrationsformel und kraft des mysterium fidei nun doch ein anderes, ein verklärtes Brot: ähnliches geschieht oder hätte zu geschehen mit Wörtern in Gedichten, durchscheinend wie der Gespensterjesus sind sie nicht mehr ganz von der Alltagswörterwelt!
gehalten im Wintersemester 1989 an der Universität Graz, habe ich wohl zu Recht Zuhörerbehelligungen genannt – im Vertrauen darauf, daß manches von dem, was mich an Fragen der Ästhetik und Poetik interessiert, auch andere interessieren könnte, habe ich über größere Strecken meine Steckenpferde geritten,
und das schlechte Gewissen, daß allzu wenig Belehrendes ich zu bieten hätte, war dann beschwichtigt, wenn das Lachen der Zuhörer dies und das unterhaltsam befand
was ein Gedicht sei; was berühmten Gedichten zustoße durch spätere Dichter, wenn sie diesen zu Spielmaterial werden; oder was Rezitatoren mit Gedichten machen, was Gedichte auswendig lernende Kinder…; wie meines Erachtens Gedichte zu beschreiben wären, zu deuten; was mir an bestimmten Gedichten Eindruck gemacht hat, dergleichen zieht sich durch das Ganze, und ich war darauf bedacht, daß manches den Germanistikstudenten eine Anregung sein könnte für ihren späteren Deutschunterricht, eine kleine Hilfe, wie Gymnasiasten mit Gedichten zu befreunden wären – so habe ich meine Vorliebe für kindisches Theoretisieren gezügelt, lieber bescheidenere fixe Ideen an Beispielen praktiziert
was Stil sei, diese Frage habe ich umkreist, auch die über die Leistungen von Bild- und Wortzeichen
unfein gehe ich mit dem berühmten „Chandos“-Brief um, tu Hofmannsthal wohl unrecht; umso größer etwa meine Respektsbezeugung vor Lessing dort, wo ich ihm widerspreche
und manch anderem versuche ich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, z.B. Schiller
wenigen Fragen bin ich genauer nachgegangen, aber manches, was ich da und dort behaupte, ist den Zuhörern Anlaß gewesen, über Dinge nachzudenken, die ihnen bis dahin ferngelegen sind…
den Dozenten Melzer und Bartsch danke ich für die Einladung zu diesen Vorlesungen
Julian Schutting, Vorwort
– Zu zwei neuen Büchern von Julian Schutting. –
Es gibt einen Wort- und Bildbereich, den das Werk Julian Schuttings immer entschiedener ausschreitet. Die jüngsten Bücher des Autors, ein Band mit Prosagedichten und die Druckfassung der Grazer Poetikvorlesung, nehmen auf diesen Bereich schon im Titel Bezug. Vordergründig scheinen die Einworttitel Aufhellungen und Zuhörerbehelligungen bis auf die lautliche Assonanz wenig miteinander gemein zu haben, und diesem ersten Eindruck entsprechen auch Inhalt und Wirkungsabsicht der beiden Bücher: da das Nachsinnen über Fragen der Ästhetik und Poetik, dort vier lange, spröde Gedichte über die Liebe.
Bei näherer Betrachtung freilich treten die beiden Werke zueinander in Beziehung wie Hohlform und Prägung derselben Gestalt. In den Titeln ist es die gemeinsame Silbe „hell“, die diese Beziehung herstellt. Sie wirkt als Keimzelle eines semantischen Spannungsfeldes, in dem „Aufhellung“ und „Behelligung“ zu einer neuen, subtilen Sinnkonstellation zusammentreten. Bestimmend für diese Konstellation ist, dass sie zweierlei „Helligkeit“ zur chemischen Reaktion bringt: das „Licht“ der Aufklärung und der Kritik, das seine Gegenstände rational durchdringt, und das „Licht“ des poetischen Augenblicks, in dem Gegenstand und Betrachter auf spirituelle Weise eins werden.
Die vier Prosagedichte, die der Band Aufhellungen versammelt, stellen den Versuch dar, solche Augenblicke zur Sprache zu bringen; die Poetikvorlesung macht deutlich, dass wenig vom Licht dieser Momente weiterstrahlte, würde es nicht bewusst gebündelt, verdichtet und verwandelt durch die Form. Dabei lässt Schutting erkennen, dass „Ratio“ und „Mystik“ für ihn nicht einfach auseinanderfallen in „Theorie“ und „Praxis“, sondern aufeinander ausstrahlen im Sinn wechselseitiger „Erhellung“. So besehen, reflektieren die lyrischen „Aufhellungen“ immer auch den distanzierenden Gestaltungsprozess, aus dem sie als bestimmte Gestalt hervorgehen, während umgekehrt die poetologische Reflexion den Zuhörer oder Leser immer auch beteiligt an der „Erleuchtung“ des poetischen Augenblicks. Oder, anders gewendet: „Behelligung“ meint nicht nur intellektuelle Herausforderung, sondern auch intime Zwiesprache, nicht nur Aufforderung zum Misstrauen, sondern auch verführerische Entgrenzung.
Vollkommene Gedichte, heisst es in der Poetikvorlesung einmal, seien „durchleuchtete Augenblicke“: hier ist auf eine knappe Formel gebracht, wie sich Schutting diese Durchdringung zweier „Helligkeiten“ vorstellt, und nichts anderes als solche Doppelbelichtungen führen letztlich auch die vier Prosagedichte der Aufhellungen vor. Es sind stets Liebesaugenblicke, von denen da die Rede ist, und alle haben sie ihr „eigenes“ Licht, das sie gleichsam von innen her leuchten macht. Sie entziehen sich dem Zugriff der Logik, stehen ausserhalb von Zeit und Raum, und da beginnt dann auch die Schwierigkeit, wie so ein Äusserstes an Erfahrung angemessen in Worte zu fassen sei.
Es gilt, die Zeitlosigkeit des Liebesaugenblicks mit der Zeitlichkeit des Sprechens zu versöhnen, und spätestens an dieser Stelle wird offenkundig, dass Schutting nicht bloss ein paar Liebesgedichte mehr in Umlauf bringen will, sondern eine Art „höherer“ Erotik im Sinn hat. Der Augenblick der Liebe ist zugleich der Augenblick der Kunst, der produktive Moment schlechthin, aber auch der unfasslichste, sprachloseste. Wer diesen Augenblick bannen will, muss für eine Zeitlang Abstand gewinnen zu seiner Empfindung; er darf sich nicht blenden lassen vom Eigenlicht dieser Empfindung, sondern muss sie einem nüchternen Gegenlicht aussetzen, das im Fall Schuttings von eigenwilligen, kompliziert verschachtelten, beherrschten und trotzdem hymnisch ausschwingenden Sätzen und Satzperioden herrührt.
Dabei gelingt Schutting tatsächlich das ausserordentliche Kunststück, seine Liebes-Reden „zufliessend“ zu machen „auf ein Verharren / in ewigen Augenblicken“ („Kunstwerke“). Die Bedingtheit der Sprache scheint aufgehoben, Wörter, Wortfolgen und Sätze eröffnen immer wieder Räume, die die Zeit mit Zeitstillstand „begnadigen“ („Liebesroman“).
Zugleich verdankt Schutting gerade dieser Sprache, die bei aller Beseeltheit sachlich und kontrolliert bleibt, dass er im Bemühen um Unsagbares nicht abstürzt in die Sprachlosigkeit des oft und oft Gesagten. Obwohl die vier Texte wiederholt Treibgut aufnehmen aus der langen Tradition der Liebesbeschwörung, wirken sie nicht im entferntesten verbraucht oder gar kitschig. Statt dessen strahlt, als wär’s zum ersten Mal, das „ewige“ Jenseits des „grossen Gefühls“ auf: sprachlos und unirdisch hell, im Rücken eines dunklen Gebirgsmassivs aus strengen, ehernen Sätzen.
Trauer, Liebe und Kindheit: Julian Schutting wird 85
NÖN, 2.9.2022
Wolfgang Huber-Lang: Dichter und Wanderer: Julian Schutting erhält Artmann-Preis
Salzburger Nachrichten, 2.9.2022
Gerhard Zeilinger / Julian Schutting: „Drei Stunden gehen, drei Stunden schreiben“
Der Standart, 3.9.2022
Bei Julian Schutting nachgefragt.
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