OHNE TITEL
wär ich eine assel
liebte ich das kühle
dunkel unter steinen
bereits zu lebzeiten
wär ich ein delphin
erschauerte ich vor
der weite meiner
uferlosen see
wäre ich eine hummel
wüchse die süße der
erde mir entgegen
aus tausend blüten
wär ich ein specht
schlüge ich meinen kopf
solange an das harte
bis es mich nährt
Kai Pohl entfaltet abseits der großen Aufmerksamkeit eine reiche publizistische Tätigkeit und lyrische Wühlarbeit. Als Motor der Szenezeitschrift Floppy Myriapoda organisiert er seit langem ein spannungsvolles Miteinander der etablierten, den Vorstellungen des damaligen Prenzlauer Bergs erwachsenen Literaturen mit anderen Strömungen, die ihre Wurzeln eher in realistischen, „Sozialrevolutionären“ Schreibansätzen oder in der Beatliteratur sehen. Oder eben alles durcheinander, denn sterile Unterscheidungen zwischen einzelnen Schulen sind Kay Pohls Sache nicht. Außerdem erscheint seit einiger Zeit auch seine Schockedition. Der Name ist hier Programm, 5 Dutzend ergeben einen Schock: 5 Autoren veröffentlichen gemeinsam je ein Heft mit 12 Gedichten. Diese Autoren sind so ausgewählt, dass sie möglichst jede Leseerwartung in Frage stellen. Die Auflage ist ebenfalls auf 60 Exemplare begrenzt. Genauso gut könnte der Titel der Edition sich aber auch auf die angestrebte Frustration von Leserwartungen beziehen. Wer seine „klaren (Qualitäts-?) Maßstäbe“ mitbringt, wird sich durch recht heterogenen Lesestoff überrascht sehen. Ann Cotten mag er kennen, aber sozusagen mit Naturgedichten? Daneben wenig bekannte Autoren wie Katja Horn (Berlin) oder Hans Horn (Kassel).
Außerdem hat Kay Pohl 2011 nach mehrjähriger Pause gleich vier eigene Gedichtbändchen bei verschiedenen Verlagen in Umlauf gebracht. Zwei in seinem Hausverlag Distillery, einen (zusammen mit Clemens Schitko) bei Fixpoetry, der sich dezidiert der politischen Lyrik widmet und einen mit Prosagedichten beim rührigen Sukultur Verlag. Da sie sehr unterschiedlich sind, seien hier zwei exemplarisch herausgegriffen.
Im Phantomkalender streicht Kay Pohl eher seine private Seite an. Eine Art fiktives lyrisches Tagebuch. Wer jedoch im Titel eine Anspielung auf die alten Hauskalender mit ihren beschaulichen bis erbaulichen kleinen Geschichten sieht, liegt ebenfalls nicht ganz falsch. Kay Pohls Sprache ist hier unaufdringlich prosanah, dennoch nicht unbearbeitet sondern bündig gesetzt. Immer wieder überrascht er mit charmanten Pointen.
aber wie die Viecher so rumlagen
und in der Demse verdunsteten
taten sie mir doch leid
Quallen sind zu 99 Prozent Wasser
da bleibt von ihnen nicht viel übrig
man sollte sie lieber im Meer lassen
wo sie mit dem Hundertstel Qualle
etwas anfangen können
Der Autor möchte seine Kunstmittel nicht aufdrängen, den Leser nicht anstrengen, die Schlichtheit ist Programm und nicht Mangel an Kunstmitteln. Wo die Texte andere Werke zitieren wie beispielsweise „die Bäume haben Nummern“, das eine Struktur von Enzensberger aufnimmt, lassen sie sich auch von Lesern erschließen, die diese Vorlage nicht kennen. Auch die verwendeten Gedichtbaupläne sind von großer Vielfalt. Prosa- stehen neben Figurengedichten, Montagen treffen unvermittelt auf Erlebnislyrik, die Listen finden sich ebenso wie Texte, die auf eine Pointe zulaufen.
Aber noch eine dritte Deutung des Titels ist möglich: Das Diarium eines Phantoms: Immer wieder stellen die Texte die Frage nach dem Subjekt. Wie stemmt sich das Ich gegen seine Auflösung in einer Gesellschaft die unentwegt unzumutbare Zuschreibungen und Verlautbarungen darauf einprasseln lässt, die das Recht des Individuums zwar immer wieder als verwirklicht behauptet, anderseits eben so hartnäckig an seiner Abschaffung arbeitet? Bei aller Zurückhaltung: Das Nachdenken möchte Kai Pohl seinem Leser nicht ersparen.
(…)
Martin Rautenberg: Banale Grande
junge welt, 26.1.2013
„Welthaltig & Widerständig“ – Das Nahbellpreis-Interview 2014
Kai Pohl liest am 8.12.2015 in der Kultur- und Schankwirtschaft BAIZ.
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