GESCHMACK NACH SCHLAF
Entrückter, dunkler Rand des Seins
am schweigenden Gestade,
der tief betrübten Seele Heil,
dem Opfer Ort der Gnade,
Flucht in die Lichtungen des Nichts
nach langem, müdem Wachen,
Asyl für die, die elend sind,
die Armen und die Schwachen,
ein dumpfes Sinken bis zum Grund,
in Blindsein und Vergessen,
zielloses Treiben durch die Nacht,
ein Weg zu neuem Wissen,
kein Spürhund mehr, kein Hexentanz,
kein Bann durch Zaubersprüche,
der hohen Wälder nasser Glanz,
ein Traum von fernen Ufern,
Arznei, gebraut nach altem Brauch,
nach weiter Fahrt im Hafen,
die Wellen glatt, verweht der Rauch,
nur schlafen, schlafen, schlafen.
1931 in Marburg an der Drau geboren, ist Slowene und schreibt in einer Sprache, in der das Gedicht „pesem“ genannt wird, zu deutsch: Lied, Gesang. Die ursprüngliche Form des Gedichts in der Verbindung von Wort und Klang, von Melodie und Rhythmus wird in diesem Ausdruck besonders angesprochen und betont. Sie ist auch in den Versen des nicht nur in seiner Heimat bekannten slowenischen Gegenwartsdichters Kajetan Kovič spürbar und verleiht ihnen ihre zeitlose, fast klassische Schönheit und Gültigkeit.
Kovič hat Trakl und Rilke ins Slowenische übersetzt, er überträgt Gedichte aus dem Französischen, dem Serbokroatischen und dem Ungarischen. Für seinen großen Lyrikband Labrador wurde er mit der höchsten Auszeichnung bedacht, die sein Land auf literarischem Gebiet zu vergeben hat, dem Prešeren-Preis. France Prešeren war jener Dichter, der vor etwa eineinhalb Jahrhunderten die Sprache seines Landes durch seine Werke zu höchster Blüte führte, der aber auch einen Blick über die Grenzen getan hat: er wollte sich auch in deutscher Sprache mitteilen und hat viele seiner Gedichte selbst übertragen. Kajetan Kovič, sein später Nachfahre, hat dieses Wagnis ebenfalls unternommen: Die Übersetzung vorliegender Verse stammt zunächst einmal von ihm. Den letzten Schliff hat dann sein Freund und Kollege von diesseits der Grenze, der österreichische Lyriker Alois Hergouth, den Versen gegeben, der aus dem gleichen Lebensraum stammt und ihm in vieler Hinsicht verwandt ist.
Verlag Styria, Klappentext, 1983
Kajetan Kovič liest sein Gedicht „Bela pravljica“.
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