Karl Mickel: Vita nova mea

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Mickel: Vita nova mea

Mickel-Vita nova mea

LEBEN DES PHYSIKERS / LAMENTO

I
Das ist die Geschichte vom Physiker Eins:
Der wählte das Gegenteil, da wars keins.
Herr Eins ist ein Mann, der nicht erträgt
Daß Vieh die Menschen erschlägt
Denn I) ist das gegen die Natur
2) gegen ihn selber. Nur
Hat das Erlebnis, das ihm widerfährt
Zunächst keinen Verallgemeinerungswert.
Erst was er als wiederholbar erkennt
Nämlich durch ein sogenanntes Experiment
Kann er zum Gesetz erheben.
Bisher stand er gleichsam daneben
Wenn in den Apparaten ein Vorgang vorging
Der von Versuchsbedingungen abhing
Die er herstellte oder vorhersah: nun
Hat er mit Bedingungen zu tun
Die man nicht stehnläßt oder abdreht
Wenn das Mittagessen auf dem Tisch steht.
Kurz: sein knapp gerettetes Leben wird
aaaExperiment und die Welt
(Gras, Haus, Kind, Meer) Experimentierfeld.
Zum zweiten Male sieht er, wie
Der Mensch wird ummontiert zum Vieh
Sowie, daß Ein Gesetz vereint
Was anfangs unvereinbar scheint.
Das schreit er aus, Tod macht ihn still:
Mein Leben steht jetzt auf dem Spiel.

2
Cities consumed, forests set in fire
The meagre by the meagre were devoured
The brows of men by the despairing light
Wore an unearthly aspect, die schöne Sonne
Verglüht, totes Gestirn
Weglos und ohne Strahl, die Luft erstickt sich
Rostend die Schiffe im starren Abgrund
Leer die Welt, ein Klumpen Arm und Reich.

Ich wars! Ich bins! ich bin der Tod
Der alles raubt! ich bin die Finsternis
Die ist das All – I am the greatest
I am the king.

Ich bin wie einer, der die Hand
Vorm Aug nicht sehn will, bis die Hand
Sich schwer ihm aufs Gesicht legt und der Daumen
Das Aug ihm ausdrückt, stöhnend
Sieht er: Blindheit ist die Strafe
Seiner Blindheit! So bin ich geblendet
Discoverer of darkness Ich Ich Ich

 

 

 

Karl Mickel ist kein Geheimtip mehr.

Spätestens seit der heftigen Debatte, die eine von ihm (und Adolf Endler) herausgegebene Lyrikanthologie In diesem besseren Land auslöste, gilt der Zweiunddreißigjährige als einer der führenden jungen Lyriker der DDR. Erstmals kann ohne Einschränkung gesagt werden, daß sich hier eine große, überzeugende Begabung jener Generation zu Wort meldet, die in der DDR aufgewachsen ist und Gedankengut, Lebensgefühl und Formmöglichkeiten des anderen Deutschland artikuliert.
Der Band Vita nova mea, der Arbeiten aus den Jahren 1957 bis 1966 vereinigt, führt knappe, präzis und scharf akzentuierte Texte vor. Aus profunder Kenntnis der Antike und deutscher Lyrik-Geschichte benutzt Mickel vorgegebene Stoffe und Strukturen mit dialektischem Geschick, um daraus Gegenpositionen aufzubauen und das ursprünglich Gemeinte kritisch aufzuheben: So werden in Oden-Strophen Kaltschnäuzigkeit und prosaische Reflexion auf die Probe gestellt; so geben die Liebesgedichte keine Stimmungsaufschwünge oder -umschwünge preis, sondern prüfen unpathetisch, beharrlich Disposition und Chance von Begegnung und Verfehlung, von Gewähren oder Versagen in werbender oder erwartender Zuwendung; so werden expressionistische Stilelemente analytischen Kombinationen von Wahrnehmung und Realitätsdeutung anverwandelt.
Hier ist ein skeptischer Dialektiker am Werk, der in keinem seiner Texte die Freude an der Arbeit mit der Sprache, ihren Ausdrucks- und Erkenntnisqualitäten, verleugnet.

Rowohlt Verlag, Klappentext, 1967

 

Kartoffeln und Lorbeer

Vom Umschlag, der Karl Mickels ersten Gedichtband im Westen schmückt, schaut die en-face-Silhouette eines Männerkopfes, aus dessen gesichtsloser Schwärze eine Zigarre ragt. Der graphische Jux weckt assoziative Vorstellungen. Zum Beispiel denkt man an die Attitüde des „Armen B. B.“ vor den Erdbeben, die kommen werden: „Werde ich hoffentlich meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit…“ Auch der Gedanke, ein phallisches Symbol sei gemeint, drängt sich auf. Die Rückseite des Umschlags gibt den Kopf realistisch wieder – aber von hinten. Der Graphiker, dem dies einfiel, bewies Witz, nicht nur in der landläufigen, sondern auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, das ja von wissen kommt. Die Eindrücke, die seine Darstellung provoziert, bestätigen sich alle bei der Lektüre des Bandes.
Mickel, 1935 in Dresden geboren, heute in Ostberlin zu Hause, begegnet in diesem Buch dem Westen nicht zum erstenmal. Voraus gingen eine Lesung bei der Tagung der Gruppe 47 in Berlin 1965 und die Veröffentlichung einiger Gedichte in Anthologien und Zeitschriften.
Eine Zeitlang sah es so aus, als würde es bei diesen flüchtigen Berührungen zwischen Dichter und westdeutschem Publikum sein Bewenden haben müssen, als werde die Sammlung Vita nova mea auf ihre Edition im Ostberliner Aufbau-Verlag beschränkt und die von Rowohlt lange vorbereitete Ausgabe zum Schubladendasein verdammt bleiben. Anlaß zu solchen Befürchtungen gab eine Polemik der SED gegen Mickel als den Mitherausgeber und Beiträger der in der DDR erschienenen Anthologie In diesem besseren Land. Die herbe Kritik, Schluß- und Höhepunkt einer 1966 in der FDJ-Zeitschrift Forum geführten Debatte über die Anthologie, machte aus Mickel den Beelzebub der jungen Lyrik in der DDR. Aber, wie das Literaturleben so spielt, sie verschaffte dem Dichter zugleich eine gesamtdeutsche Publicity, wie er sie sonst so schnell kaum hätte gewinnen können – ihm und uns zum Nutzen.
Mickel gehört jener Generation von DDR-Bürgern an, die, im kommunistischen Teilstaat aufgewachsen und geformt, dem westlichen Deutschland bereits fremd gegenüberstehen. Andererseits bewies die Reaktion der SED, daß sich die DDR von Mickels Dichtung nicht repräsentiert fühlt.
Was aber repräsentiert sie dann?
Wir müssen uns von der Erwartung freimachen. daß die jüngere Literatur, die von drüben zu ans herüberdringt, mehr oder minder deutlich politisch Stellung bezieht. Freilich wurde eine solche Erwartung gerade in den letzten Jahren von vielen Autoren hervorgerufen und bestätigt. Nehmen wir nur, um im Bereich der Lyrik zu bleiben, die Beispiele Volker Braun und Wolf Biermann, von denen der eine, ungeachtet westlich-modernistischer Extravaganzen, sich dem Gebilde DDR verschwor, der andere seine Auffassung von der kommunistischen Idee gegen die Misere der deutschen Spaltung setzte. Mickel vertritt eine dritte, eine neue Kategorie. Er folgt nicht einer Fahne, sucht nicht sein Thermopylae, er begegnet den widerstreitenden Anforderungen der deutschen Gegenwart mit der Suche nach dem eigenen Ich.
Charakteristisch dafür sind die Liebesgedichte, die einen guten Teil des Bandes füllen. Fern der Idylle, bilden sie eine eigentümliche Mixtur aus elementarem Gefühl und kühler Analyse. Die Beziehungen, die Mickel darstellt, sind zugleich privates Universum und Lehrmodell menschlichen Miteinander. Verlangen nach Glück wird artikuliert („Liebe Freundin, ein Dach ist schön, wenn Regengüsse niedergehn…“) und der Anspruch auf Autonomie der Persönlichkeit:

Wir sind wir selbst: die Freundin die Staatswesen
Ich ihre Staatsmänner, nur daß wir gleichfühlen
Und alle, die sagen, daß sie hoch im Rat säßen
Sind mäßige Mimen, die ‚Herrscher des Reichs‘ spielen.
So, immer noch, ist die Welt eingerichtet:
Was siehst du, Sonne, von unseren Freunden?
Im Alter bleibt Arbeit. Du bist verpflichtet
Die Welt zu erwärmen: wärme uns beide
Scheine auf uns, dann ist alles getan
Dies Bett dein Zentrum, um uns deine Bahn.

Die betont unpathetische, zuweilen schnoddrig derbe Diktion in den Liebesgedichten ist ein notwendiges Mittel der Distanzierung. Sozusagen ein Beobachter seiner selbst, liest Mickel aus den Modalitäten seiner fleischlichen Existenz, aus dem Gelingen oder Scheitern erotischer Begegnungen ab, welche Möglichkeiten in ihm angelegt sind. Eine elementare Form der Selbstkritik, die das Individuum der Umwelt, in der es sich spiegelt, nicht ausliefert. Gerade weil er sich seiner Eigenart, seiner Besonderheiten bewußt wird, kann Mickel seine Rolle als Teil der Gesellschaft akzeptieren. Er ordnet sich ihr ein, ohne in ihr aufzugehen; er bleibt ihr kritisch zugewandt.
Herzstück seiner existentiellen Ortsbestimmung ist eine aus antiken Motiven gespeiste Parabel, in der er das Geschick des Tantalos-Sohnes Pelops zum Gegenbild der eigenen Position wählt. (Zum besseren Verständnis aller, die der griechischen Mythologie zu lange entwachsen sind: Pelops, vom Vater zerstückelt, wurde den Göttern zum Mahle vorgesetzt; die aber, mit Ausnahme der Demeter den Frevel erkennend, fügten den Zerrissenen wieder zusammen.) Mickel schrieb:

Nicht meine Schulter ists, die Demeter
Abnagte aus Versehn, nicht auf mein Fleisch
Bevor sie’s kaute, tropften ihre Tränen.
Mein Vater heißt nicht Tantalos, ich heiße
Nicht Pelops folglich, unverkürzt
An Arm, Bein, Kopf und Hoden bau ich
Kartoffeln an und Lorbeer hier in Preußen.
Ich warte nicht auf Götter zur Montage
Normal wie üblich ist mein EKG
Wenn ich ein Messer, scharf und schneidend, seh.

Er lehnt es also ab, sich als verkürzt, als Teil eines zerrissenen Ganzen zu begreifen. Zwar politisch, aber nicht moralisch an das Erbe der Vätergeneration gebunden, nimmt er die ihm zuteil gewordene Wirklichkeit als Lebensbereich in Anspruch, ohne sich seinerseits in Anspruch nehmen zu lassen. Er beharrt darauf, die eigene Unversehrtheit zum Maßstab seiner Entscheidungen zu machen.
Hier offenbart sich ein Selbstbewußtsein, das, obwohl individueller Natur, sich doch seines gesellschaftlich-politischen Ursprungs bewußt ist und sich auch unverblümt dazu bekennt. Die eigenwillige Titulatur, mit der Mickel die Landschaft bedenkt, in der er Lorbeer und Kartoffeln bauen will, verbirgt nicht, wo er sich verwurzelt fühlt. In seiner Sicht gewinnt die DDR nicht erst vor der westdeutschen Folie Kontur, im Guten oder im Bösen. Sie ist gegebenes Zuhause und wird als solches akzeptiert.
Wir haben weder genug unmittelbare Erfahrung noch demoskopische Unterlagen, um schlüssig zu beurteilen, ob der Dichter für sich allein, für wenige oder für viele seiner Altersgefährten und der noch Jüngeren spricht. Doch vergleichbare Vorgänge im bundesrepublikanischen Denken lassen es plausibel scheinen, daß die Kraft des Faktischen das Selbstverständnis auch der jungen DDR-Bürger modifiziert hat. Das wird manchem Deutschen das Herz schwer machen. Aber auch die Vorkämpferin der deutschen Spaltung, die SED, wird des von Mickel artikulierten Bewußtseins nicht froh. Denn trotz aller Unabhängigkeit, ja Distanzierung vom Westen äußert sich darin keineswegs jenes DDR-Nationalbewußtsein, das die Partei in ihrem Machtbereich zu züchten sich bemüht.
In der erwähnten Forum-Polemik urteilte das Parteimitglied Hans Koch, seines Zeichens Professor für Theorie und Geschichte der Literatur und Kunst am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED:

Zunächst drückt sich hier ein Kraftbewußtsein aus, das durch unsere gesellschaftliche Umwälzung erweckt wurde, das aber seine eigenen Quellen nicht kennt und anerkennt und seinen Platz in der Gesellschaft nicht genau und verantwortlich bestimmen will, das sich andererseits dagegen wehrt, Objekt einer falschverstandenen ‚Erziehung‘ durch die Gesellschaft zu sein – und so eine Souveränität’ verkündet. In politischen Kategorien ausgedrückt: Es produziert Anarchismus.

Der Rowohlt-Band Vita nova mea, vierundvierzig Gedichte und zwei Essays über Lyrik enthaltend, unterscheidet sich von seinem Vorgänger aus dem Aufbau-Verlag durch elf neu aufgenommene und drei weggelassene Gedichte. Die Veränderung, „auf Wunsch des Autors vorgenommen“, wie man im Klappentext liest, beraubte die Sammlung unter anderem eines Musterbeispiels Mickelscher Dialektik. „Der Hinterbliebenen Kantus“ ist 1957, im Jahr nach dem zwanzigsten Moskauer Parteitag, entstanden:

Diese Urne, diese Asche
Ist das Letzte, was uns blieb
Ach wie harte, ach wie rasche
Ist der Tod und, ach, wie trüb.
Gestern lag er noch im Kasten
Stumm wie im Panoptikum
Heute geht er ohne Lasten
Oder überhaupt nicht um.
Ach man wird auch uns verfeuern
Sind wir gleich noch Milch und Blut
Laßt uns stets sein Grab erneuern
Daß mans einst mit Unserm tut.

Sabine Brandt, Die Zeit, 13.10.1997

„Vita Nova Mea“ – Mein Neues Leben

– Der Lyriker Karl Mickel und die Auseinandersetzungen der Staatspartei mit den Schriftstellern in der DDR. –

Seit sich die elfte Plenartagung des Zentralkomitees der SED in Ostberlin Ende 1965 mit Fragen der Kunst und Literatur beschäftigte, weht in der DDR ein schärferer Wind. Seitdem damals führende Funktionäre der Partei unter anderen gegen spiessbürgerlichen Skeptizismus, gegen die Entfremdung und gegen ideologische Koexistenz gewettert hatten, ist eine Kampagne gegen diejenigen Künstler und Schriftsteller im Gange, die sich nicht den kultur- und gesellschaftspolitischen Maximen der Staatspartei fügen wollen. Anfangs richtete sich die Polemik noch gegen einige wenige Autoren, die allzu weit von der vorgeschriebenen Linie abgewichen waren: etwa gegen Werner Bräuning, Wolf Biermann, Stefan Heym, auch gegen den Wissenschafter und Theoretiker Robert Havemann. Inzwischen aber hat sich herausgestellt, dass kaum einer der bedeutenden Autoren der DDR bereit ist, sich zu fügen. Dabei sind es keineswegs Feinde des Sozialismus, die eine Unterwerfung unter die Parteidisziplin ablehnen; gerade die jungen Schriftsteller, die selbstverständlich und mit ganzem Herzen Bürger ihres Staates sind, machen die grössten Schwierigkeiten. Das offizielle Parteiblatt Neues Deutschland veröffentlichte 1966 einen Artikel in drei Folgen über „Unsere soziale Wirklichkeit im Spiegel der Literatur“, in dem festgestellt und bemängelt wurde, dass – bis auf einzelne Ausnahmen – die neue soziale Wirklichkeit bisher keinen künstlerischen Ausdruck gefunden habe. Im Sommer 1966 forcierte dann die FDJ-Studentenzeitschrift Forum die Debatte; eine Diskussionsgrundlage bildete die neuerschienene Lyrik-Anthologie In diesem besseren Land, in der die beiden jungen Lyriker Adolf Endler und Karl Mickel zum erstenmal einen repräsentativen Ueberblick über die Dichtung der DDR seit 1945 geben. Die Redaktion der Zeitschrift Forum legte namhaften Lyrikern drei Fragen vor: ob die neue Stellung des Menschen in der sozialistischen Gesellschaft zu inhaltlichen und strukturellen Veränderungen führe; unter welchen Voraussetzungen die Lyrik in unserer Gesellschaft Wirkungen zeitigen könne; und vor welchen hauptsächlichen Schaffensproblemen die Lyriker augenblicklich ständen. Aus der Reserve gelockt, antworteten etliche der jungen Poeten – etwa Sarah und Rainer Kirsch, Günter Kunert und Karl Mickel – recht offen; viele von ihnen lehnten den gesellschaftlichen Anspruch an die Lyrik rundweg ab. Das aber konnte die Staatspartei nicht kommentarlos hingehen lassen, die Frage war zu wichtig, als dass man die innerliterarische Diskussion auf sich hätte beruhen lassen können. So griff denn Hans Koch, Literaturprofessor und bis kurz zuvor Erster Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, in das Gespräch ein und schrieb im Forum:

Gegenwärtig werden besonders in der Lyrik Weltanschauungs- und Richtungsgegensätze offenbar, laufen in grundsätzlichen Fragen unserer Zelt unsere Haltungen und Standpunkte auseinander. Dies muss um unserer gemeinsamen Ziele willen analysiert und ausgetragen werden. Von Haltungen und Richtungen weltanschaulicher Prägung hängen letzten Endes auch Formen und Strukturen ab. Es geht im Streit um Lyrik um Kernfragen des sozialistischen Humanismus und der weiteren Entwicklung der sozialistisch-realistischen Literatur.

Zusammen mit den Antworten der Lyriker auf die drei Fragen der Forum-Redaktion waren auch charakteristische Gedichte dieser Autoren abgedruckt worden. Allein das Gedicht „Der See“ von Karl Mickel – es war auch in der Anthologie In diesem besseren Land enthalten und steht nun ebenfalls in Mickels 1966 erschienenem Gedichtband Vita Nova Mea / Mein Neues Leben – regte in der weiteren Forum-Diskussion zu einigen ausführlichen kritischen Essays an. Das Gedicht lautet:

DER SEE

See, schartige Schüssel, gefüllt mit Fischleibern
Du Anti-Himmel unterm Kiel, abgesplitterte Hirnschal
Von Herrn Herr Hydrocephalos, vor unsern Zeitläuften
Eingedrückt ins Erdreich, Denkmal des Aufpralls
Nach rasendem Absturz: du stösst mich im Gegensinn
Aufwärts, ab, wenn ich atemlos nieder zum Grund tauch
Wo alte Schuhe zuhaus sind zwischen den Weissbäuchen.

Totes gedeiht noch! An Ufern, grindigen Wundrändern
Verlängert sichs wächsts, der Hirnschale Haarstoppel
Borstiges Baumwerk, tragfauler als der Verblichene
(Ein Jahr: ein Schritt, zehn Jahr: ein Wasserabschlagen
Ein Jahrhundert: ein Satz). Das soll ich ausforschen?
Und die Amphibien. Was sie reichlich einst abschleckten
Koten sie tropfenweis voll, unersättlicher Kreislauf
Leichen und Laich.

aaaaaaaaaaAlso bleibt einzig das Leersaufen
Uebrig, in Tamerlans Spur, der soff sich aus Feindschädel-
Pokalen eins an („Nicht länger denkt der Erschlagene“
Sagt das Gefäss, ,nicht denke an ihn‘ sagt der Inhalt).

So frass ich die Bäume („hoffentlich halten die Wurzeln!“)
Und reisse die Mulde empor, schräg in die Wolkenwand
Zerr ich den See ich saufe, die Lippen zerspringen
Ich saufe, ich saufe, ich sauf – wohin mit den Abwässern!
See, schartige Schüssel, gefüllt mit Fischleibern:
Durch mich durch jetzt Fluss inmitten eurer Behausungen!
Ich lieg und verdaue den Fisch

Dieses Gedicht Karl Mickels wurde von Dieter Schlenstedt eingehend nach wissenschaftlichen Kategorien interpretiert und analysiert. Und Hans Koch musste verärgert feststellen:

Den 26 Zeilen wird die umfangreichste und in ihrer Art gründlichste Untersuchung gewidmet, mit der unsere Presse je ein Gedicht bedachte.

Zwar schien Koch das Gedicht eigentlich ganz unerheblich zu sein, aber nun, da es solch begründete Fürsprache gefunden hatte, erachtete er es für notwendig, seine Ablehnung derartiger Poesie näher zu erläutern. Und darum widmete er dem Gedicht „Der See“ einen Beitrag, der 25 Zeitungsspalten umfasst und in dem es unter anderem heisst:

Die Hässlichkeit dieser Natur-Welt oder Welt-Natur ist ausnahmslos: Der See: ein Anti-Himmel in des Wortes vielerlei Deutlichkeit; eine schartige Schüssel, vernutzt und verrottet; abgesplitterte Hirnschale von etwas Menschen-ähnlich-Unmenschlichem, Verkrüppeltem. Die Gedankenverbindung zum krankhaft vermehrten Hirnwasser des medizinischen Falles von Hydrocepahlos wird genutzt und herausgefordert. Der See ist gefüllt mit Fischleibern und mit alten Schuhen, fortgeworfenem Unrat der Zivilisation, zwischen Weissbäuchen und Amphibien, zwischen dem, was nur frisst um zu koten, nur lebt, um zu sterben in dem unersättlichen Kreislauf von Leichen und Laich. Die Ufer und Bäume – Male des Kranken und nur noch sinnwidrig Lebendigen: grindige Wundränder und Haarstoppeln der Hirnschale, die über den Tod hinaus wachsen. Alles sinnlos und verdammt: Totes gedeiht noch! Deutliche Gesellschaftssymbole, poetisch gewaltsam einem unangemessenen Naturgegenstand aufgepfropft (und nicht aus ihm herausgeholt, das eben bewirkt die formale Unstimmigkeit), können sich zu einem dialektischen Gesellschaftsbild nicht zusammenschliessen. Das macht nicht einmal in erster Linie ihre völlige soziale und historische Unstimmigkeit. Das kommt daher, dass die Welt-Anschauung dieses Gedichts ausserhalb des eigenen Subjekts nichts kennt und entdeckt, auch nicht andeutungsweise, was sich lieben liesse…!

Mickels Gedicht, sei, so urteilte Hans Koch, ein Affront gegen das sozialistische Menschenbild, sein Ich nehme all sein Pathos „nur aus der Verneinung von Bestehendem“. Mickels ganzes Werk erschien Koch „als jämmerlicher, zynischer und vulgärer Sexualpragmatismus… Mickels – nur Mickels? – Menschenbild sonnt sich zufrieden in seinem Anderssein.“
Wer nun ist dieser Lyriker, der so plötzlich in die Schusslinie der Partei geraten ist?

Karl Mickel wurde 1935 in Dresden geboren. Er studierte bis 1958 Wirtschaftswissenschaften in Ost-Berlin, anschliessend war er, bis 1961, Redakteur einer Exportzeitschrift und Mitglied im Redaktionskollegium der Zeitschrift Junge Kunst. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Ostberlin. Er schrieb Theaterstücke, Kabarett-Texte und Agitationsverse, erste Gedichte erschienen in Zeitschriften und Anthologien. 1963 veröffentlichte Mickel im Mitteldeutschen Verlag in Halle einen Gedichtband unter dem Titel Lobverse und Beschimpfungen. Im gleichen Verlag gab er, zusammen mit Adolf Endler, die bereits erwähnte Anthologie In diesem besseren Land heraus. Und trotz der Angriffe gegen ihn konnte Karl Mickel ebenfalls 1966 – diesmal im Ostberliner Aufbau-Verlag – seinen neuen Lyrikband Vita Nova Mea / Mein Neues Leben veröffentlichen; dieses Buch enthält 36 Gedichte aus den Jahren 1957–1965 und zwei kleinere Essays.
Im Westen wurde Mickel durch einige Zeitschriftenveröffentlichungen bekannt. 1965 nahm er an einer Tagung der Gruppe 47 in West-Berlin teil. Mehrere seiner Gedichte wurden in den in der Bundesrepublik herausgegebenen Anthologien Aussichten und Deutsche Teilung publiziert. Für die Anthologie Deutsche Teilung stellte er das folgende polemische Gedicht zur Verfügung:

DIBELIUS PREDIGT

Wie am Morgen die Bäume sich langsam
aus dem helleren Himmel lösen,
taucht da der Schrecken auf
aus den freundlichen Worten.

Auch wenn der Herr der Heerscharen,
der atlantischen, gnadelosen,
wirklich im Himmel wohnte,
wäre er heute erreichbar.
Doch wohnt er in Wallstreet.

Auch in anderen Veröffentlichungen nahm Karl Mickel durchaus im offiziell erwünschten Sinne politisch Stellung. So schrieb er etwa 1964 ein Gedicht, in dem er von der Rede ausging, die Franz Josef Strauss am Aschermittwoch 1964 in der Bundesrepublik gehalten und in der er oppositionelle Künstler aufgefordert hatte, sie sollten doch auswandern, wenn es ihnen in Deutschland nicht gefalle. Voll Ironie behauptet Mickel hier, die deutschen Dichter (unter anderem Heine und Goethe) seien immer erst im Ausland zu grossen Dichtern geworden; und so ernannte er Franz Josef Strauss, der den Künstlern zu einem Auslandsaufenthalt verhelfen wolle, zu einem – so der Titel des Gedichts – „Förderer der Künste“.
Gegen lyrische Attacken auf die Bundesrepublik hatte man in der DDR durchaus nichts einzuwenden; aber Mickel scheute sich auch nicht vor der Kritik an Zuständen im eigenen Hause, im eigenen Staate oder, schlimmer noch: er nahm gar nicht Stellung, engagierte sich zu wenig. Und wenn er es tat, dann in einer Weise, die so subjektiv ist, dass er der Partei nicht gefallen konnte. So singt er etwa in dem derben, fröhlich-anarchistischen Gedicht „Die Friedensfeier“ ein Lob auf eine utopische Zukunft, wie er sie sich vorstellt:

DIE FRIEDENSFEIER

Zeitgenössische Phantasie auf einen noch zu erkämpfenden Tag

Zuerst werden wir uns blütenweisse Hemden kaufen
Dann lassen wir uns drei Tage lang voll laufen

Wenn wir wieder nüchtern und kalt abgeduscht sind
Machen wir unseren Frauen jeder ein Kind
Dann starren wir rauchend den sternvollen Himmel an.
Morgens dann, viertel nach vier geht der run

Auf Schneidbrenner los, die begehrten Artikel
Einer davon ist ganz sicher für Mickel.

Dann verteilen wir uns über Luft, Land und Meer
Und machen uns über das Kriegsgerät her

Und alles hackt und schneidet, zerrt, reisst, schweisst
Spuckt an, pisst dran, sitzt oben drauf und scheisst

Und schmeisst mit Steinen, sprengt mit Sprengstoff weg:
Das ist des Sprengstoffs höchsterrungener Zweck!

In Geschützrohre bohren wir kleine Löcher hinein
Dort ziehen dann Spechte und Stare ein

Wer’s kann, kann auf ausgeblasnen Raketen
Wie auf Taminos Zauberflöte flöten

Mit U-Booten fangen wir Haie und andere Fische
Die Frauen decken die Generalstabstische

An Schlagbäumen werden Ochsen und Hammel gebraten
Von nackten Männern, die waren Soldaten

Und besser als es Uniformen können
Wärmt sie das Feuer, drin die Uniformen brennen.

Rot glühn die Martinöfen auf, in ihren Bäuchen
Vergehn, entstehen Welten! Wie wir keuchen

Vor Wollust, wenn wir sehen: hart wird weich
Und wenn sichs wieder härtet, wird zugleich

Das Krumme grad. Wir waren krumm und dumm!
Wir schleppen Schrott, wir schmieden, pflügen um:

Wenn wir dann die müd-müden Rücken recken
Durchstossen die Köpfe die Zimmerdecken

Nur in den Nächten jahrein, jahraus
Wir träumen uns ins Mauseloch als Maus.

Auf die Fragen der Zeitschrift Forum hatte Mickel geantwortet, er glaube nicht, dass die Entwicklung der Künste unmittelbar an die Entwicklung der Produktivkräfte geknüpft sei. Eine solche Ansicht ist in den Augen der Staatspartei eine Ketzerei: Denn Gedichte sollen ja nach ihrer Vorstellung, wie alle Künste, mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, dem „Fortschritt“, verbunden sein, und sie sollen die Leser etwas lehren.
Dazu Mickel:

Gedichte lehren, wenn sie etwas lehren, wie ein Mensch mit sich selber etwas anfangen könne; andererseits muss dies gelernt sein, ehe Gedichtlektüre stattfinden kann. Eine gewisse ästhetische Erziehung der Nation scheint mir daher erheischt; die Nation darf nicht um und am Schlechtesten gebildet werden.

Die Partei-Germanist in Edith Braemer hatte Mickel Unverständlichkeit vorgeworfen und geschrieben:

Unsere Fragestellung mögen Mickel banausisch anmuten, aber wir legen nun einmal Wert auf eine der Wirklichkeit adäquate künstlerische Widerspiegelung, und wenn wir ihn missverstanden haben, so möge er verständlicher dichten.

Mickel aber sagte, er denke gar nicht daran „einfacher zu schreiben“, wie man es von ihm verlangt hatte, denn:

Neun Zehntel der Gegenstände, die mir und nicht allein für mich unerlässlich scheinen, müsste ich sonst wegwerfen.

Mickel fordert also für den sozialistischen Schriftsteller nicht weniger als zum einen die Freiheit individueller Entfaltung und zum anderen einen freien Spielraum für die Kunst. Er konnte sich dabei auf Brecht berufen, der geschrieben hatte, Demokratie sei es, den kleinen Kreis der Kenner zu einem grossen Kreis der Kenner zu machen (– nicht aber, wie auch von ihm gefordert worden war, die Kunst „volkstümlicher“ zu machen, das Niveau zu senken).
Karl Mickels Gedichte sind in ihrer Mehrzahl keine rasch verstehbaren literarischen Konsumartikel, sie setzen eine intensive Beschäftigung des Lesers voraus und erwarten von ihm die Kenntnis der dichterischen Formen- und Metaphernsprache. Mickels (bisher noch recht schmales) lyrisches Werk ist reich und vielfältig: längere Erzählgedichte stehen neben aphoristisch zugespitzten kurzen Texten, Knittelverse oder Poeme in Hexametern und Pentametern neben freirhythmischer Lyrik, gereimte neben ungereimten Gedichten. Er schreibt gleichermassen poetische wie saloppe, verspielte wie aggressive Verse, volksliedhafte Gedichte und kunstvolle Poesie voller mythologischer Bezüge und Anspielungen, wild-bacchantische Gedichte im Ton des frühen Brecht der Baal-Zeit ebenso wie zarte, impressionistische Naturlyrik.

PETZOWER SOMMER

Latten, zu Zunder gedörrt, Zaun unter zögernden Schritten:
Lautlos zerfällt es, es knirscht zwischen Sohle und Holz.
Hier war die Kette, jetzt Rost. Glühender Sand! Und es legt der
Wind das Emailleschild frei: Vorsicht! Bissiger Hund.
Astwerk im Winde gespannt, früchteschleudernde Bögen.
Unter geborstenem Baum gereift Liegen der Mund
Kirschen, von Kirschfleisch gefleckt flattert die Bluse der Freundin
Ueber uns, Hohlform der Luft, Fahne, Trophäe des Siegs.
Stimmen von weit her geweht. Schlurfende Schritte, ein Bauer
Knurrt zwischen Pfeife und Zahn: Stehlt soviel ihr nur könnt.

Karl Mickel ist – dieser Eindruck darf keinesfalls aufkommen – kein Lyriker, den im Kalten Krieg der Westen für sich in Anspruch nehmen könnte. Er ist ein Schriftsteller, der, wie die meisten seiner Altersgenossen, ganz ohne Frage im (wie das scheussliche Wort heisst) „sozialistischen Lager“ steht, dem der Sozialismus eine selbstverständliche Lebensform ist. Aber er ist einer, der sich auch unter dieser Gesellschaftsform seine Selbständigkeit bewahren, die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv verteidigen will: einer, der das Recht auf sein eigenes Leben, seine eigenen Gedanken und seine eigene Kunst behauptet.

AN T.

Die Bäume draussen wie aus Stein gehaun.
Ich liege im Liegestuhl, rauche
Dicke Zigarren, das Bier ist kalt
Hier sass ich vordem mit Dir.

Auf mir die flimmernde Säule Luft:
Ich atme. Ueber die Strasse, in Bächen
Rinnt Staub, Wolken
Stürzen ins Baumwerk, das seh ich

Einmal sich biegen, der Donner kracht
Oder die Stämme zerreissen, was weiss ich.
Plötzlich geht alles dahin.

Im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, ist soeben eine westdeutsche Ausgabe von Karl Mickels Vita Nova Mea erschienen.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 9.12.1967

Vita nova mea

– Zu Karl Mickel. –

Während im westlichen Deutschland zehn Jahre nach dem Krieg lyrische Geheimbündelei ihr Wesen mit der Sprache trieb, verrannten sich im östlichen Deutschland notgedrungen junge Brechtepigonen auf dialektischen und didaktischen Holzwegen. Hier wurden Günter Eichs Inventur-Gedichte zu wenig beachtet; drüben schien die Brechthörigkeit unüberwindbar, erst recht, als die Alternative von „oben“ verordnet war: literarische Würdigung der Errungenschaften des Sozialismus. Die Folge war eine lange Periode der Stagnation. Hier entstand Kunstlyrik, die Metaphorik des Disparaten, drüben Funktionslyrik, Parolen zur Plan- und Sollerfüllung. Hier touristische Variationen im Nachholbedürfnis, dort Hymnen auf die glorreiche Sowjetunion. Hier zerebrales Gehäkel, dort Abrechnung mit dem Faschismus. Hier subjektive, sich selbst genügende Sprachgebärden, dort das hohle Pathos des Fortschritts. Hier die Chimären des Gottfried Benn, dort die humorlos-tumbe Diktion des Johannes R. Becher.
Das selbstverständliche und gemeinsame Erbe der neuen Generation ist die deutsche Teilung. Also kann von einem gemeinsamen Nenner keine Rede sein. Volker Braun ist nicht mit Enzensberger zu vergleichen und Karl Mickel nicht mit Rühmkorf. Braun und Mickel haben mit deren kosmopolitischem Sozialismus nichts zu schaffen. Sie sind Bürger der DDR, und ihre Kritik an Zuständen in der DDR ist eine immanente. Sie geht uns weniger an als wir wahrhaben möchten. Ihre Gedichte erscheinen zuerst in ihrem halben Land, dann, wie jetzt der Band Vita nova mea von Karl Mickel, in unserem halben Land. Mickels Gedichte sind weniger als die von Braun auf spezifische DDR-Probleme bezogen. Seine Themen sind weniger progressiv als eigensinnig, eigensinnig wie das Thema Liebe oder das Thema Freundschaft.
Der Band hält mehr, als der Klappentext verspricht. In vielen Gedichten ist die altertümelnde Metrik nur eine Finte, die den verfremdenden Reiz erhöht, wenn Mickel darin mythische oder biblische Anspielungen mit jugendlichem Jargon verbindet:

Kannst du nicht eine Stunde mit mir wachen!
Das kann ich leiden: mir den Rücken zudrehn.

Oder wenn er die Banalität einer Liebesäußerung satirisch nimmt:

Und ich (ich Arsch!) stell ihre Lieb in Frage.
Was wollte sie? „Mit dir normale Tage“.

Oder an anderer Stelle eine Verschiebung der Konvention:

Sie sagte nichts, als ich ihr offen sagte:
Es hängt von mir ab, wann ich wieder geh.

Mickel ist es überraschend gelungen, antiquierte metrische Formen mit neuen Formulierungen und Reimen zu beleben. Aber manchmal klebt er auch an ihnen und die selbstauferlegte „Unfreiheit“ wird zum Zwang; die Inhalte reichen dann nicht aus, blasse oder angestrengte Reime zu verkraften:

Der Regen wärmte, als wir raschen Schrittes
Uns suchten einen Ort, daß dies gescheh.
Da sagte sie: Nur dieses und kein Drittes
Bis morgen, oder bis zum ersten Schnee.

Sozialistisch-realistische Einflüsse sind bei Mickel erkennbar. So in dem Gedicht „Kosmonaut 6“, das, wie noch zehn andere, an Frauen adressiert ist. Mickel benutzt darin (ich bin sicher: bewußt) die karge Form der Traktoristenlyrik. Lakonisch teilt er mit, was über diese Person mitzuteilen ist, daß sie ihre Kabine aufräumt, wie sie ihr Zimmer aufräumt, allen Männern guten Tag sagt, daß sie die Erde verlassen hat, um den Raum zu durchforschen. Dann nimmt Mickel in den Schlußzeilen das alles auf die leichte Schulter; der Hymnus auf die Kosmonautin wird zu einem belustigten Kniefall:

Sie möchte kein Mann sein
Obwohl sie kein Mann ist.

Mickel ist nicht einer, der mit dem Unausgesprochenen Verdienste einheimst. Bei ihm steht nichts zwischen den Zeilen. Auch hält er die Chiffre nicht für seine Stärke. Doch den griechischen Mythen, bei anderen jungen Gedichtschreibern zu einem Tabu geworden, geht er nicht aus dem Wege. Dabei vermeidet er die übliche Transposition: Odysseus trägt keinen grauen Flanell. Mickel schafft Distanz allein durch Sprache. Er setzt um in Jargon und endspielhafte Reflexionen, die keinerlei modischen Beiklang haben. Odysseus ist ein modernes Ich, aber gleichzeitig ist das moderne Ich auch wieder der archaische Odysseus. Es kommt zu einem Vexierspiel mit der Zeit. Die Inhalte werden aufgebrochen, vermischt, die Vermischung wird bestätigt, die Bestätigung zurückgenommen. Ob Odysseus seine Reputation noch zweifelnd aufrechterhält („Ich bin ein Gott vermutlich“) oder rigoros verneint – das Ende wird sichtbar:

Ich will kein Gott sein, hinter mir zerfällt
Die sich selber fallen läßt, die Welt.

Den Schluß bildet – welch ein Verstoß gegen die zeitgenössische Verabredung – eine Metapher:

Und ich geh
Mit wenig Freunden, auf der öden See
Wo keiner war, errichten ein Gefährt:
Ein schwankend flüchtig sicheres, die Erd.
Die Welt ein Schiff! voraus ein Meer des Lichts
Und hebt der Bug, so blicken wir ins Nichts.

Wenn diesem Gedicht auch einige klassizistische „Schönheiten“ anhaften, so ist es doch eine faszinierende Gegenüberstellung alter und neuer Mythen. Es muß nicht wegweisend sein für andere Gedichtschreiber, aber es verspricht die Erneuerung versepischer Formen. Mickel bringt es fertig, diese auf einen leeren Mechanismus heruntergekommene Syntax neu aufzuladen:

Dreihundert Stück! Penelope, entweder
Mit jedem macht sie’s, keinen will sie dauernd
Dreihundert Mann ersetz nicht einmal ich…!

Aber in diesem Band gibt es auch freie Formen. So die rhythmische Verkürzung eines Vietnam-Berichts. Mickel sucht darin nicht mittels eigener Diktion die billige Identität mit den Opfern. Ausdrücklich hat er sich beschränkt auf formale Bearbeitung. Ähnlich verfährt er in einem anderen Beispiel. Die „Ansprache des Arbeiters D an einen neuen alten Kollegen“ hat er in einem VEB gehört und ebenfalls rhythmisch verkürzt wiedergegeben. Sie ist offenbar an einen zurückgekehrten „Republikflüchtling“ gerichtet:

Ich schlachte dir kein Kalb.
Hier ist dein Platz.
Wo die Putzlappen liegen
Weißt du.

In einigen Gedichten erkennt der Leser den starken Ausdruck literarischer Ahnen, wenn nicht den Brechts, dann den Majakowskis:

Zuerst werden wir uns blütenweiße Hemden kaufen
Dann lassen wir uns drei Tage lang vollaufen
Wenn wir wieder nüchtern und kalt abgeduscht sind
Machen wir unseren Frauen jeder ein Kind
Dann starrn wir rauchend den sternvollen Himmel an.
Morgens dann, viertel nach vier, geht der run
Auf Schneidbrenner los, die begehrten Artikel
Einen davon nimmt Mickel.
Dann verteilen wir uns über Luft, Land und Meer
Und machen uns über das Kriegsgerät her
Und alles hackt und schneidet, zerrt, reißt, schweißt
Spuckt an, pißt dran, sitzt oben drauf und scheißt
Und schmeißt mit Steinen, sprengt mit Sprengstoff weg:
Das ist des Sprengstoffs höchsterrungener Zweck!…

Das Gedicht, aus dem diese Passage entnommen ist, heißt „Die Friedensfeier“. Es beschreibt in seiner utopischen Dimension die tatkräftige Abrüstung. Wer dabei mitmachen möchte, den wird die formale Abhängigkeit von Majakowski nicht stören. Und wer sich gern an einen der großen Alten erinnern läßt, der liest auch so etwas gern von einem wie Mickel.

Nicolas Born, Der Monat, 1967

notiz zu karl mickel, vita nova mea

april 1966

die großen erwartungen die man auf grund einzelner abdrucke in mickels erstes gedichtbuch gesetzt hat löst das manuskript nicht ein. einzelne gedichte, es sind immer die schon bekannten, allen voran der see, ragen hervor aus einem ensemble, das weniger ein buch als ein quodlibet ist. das zeigt sich schon an seinem äußern. der titel nimmt bezug auf ein buch von dante, aber die anspielung bleibt bloß verbal, es gibt keinen innern zusammenhang, auch nicht den des widerspruchs. so wirkt der titel nur kokett. ähnlich die gliederung in zwei teile: vermischte gedichte, und: an personen. sieht man genauer hin, so ist die einteilung willkürlich, die gedichte an personen umfassen gedichte über personen und unpersönliche gedichte, kurzum, die komposition hat nicht hand noch fuß.
nicht viel anders sieht es aus, wenn man einzelne texte genauer prüft. mickel teilt mit vielen schriftstellern der ddr (von hacks bis braun) den klassizistischen sprachgestus. er orientiert sich stilistisch an der deutschen tradition von klopstock bis hölderlin. (dem entspricht auch die fiktive gliederung, wie man sie in klassiker-ausgaben findet.) bis ins einzelne läßt sich das an der syntax nachweisen. ich vermute, daß diese orientierung am 18. jahrhundert statt an der modernen poesie, einerseits mit den kulturpolitischen verhältnissen in der ddr, andererseits mit einer (vermutlich mißverstandenen) brecht-nachfolge zusammenhängt. natürlich wird gegen die alten muster geschrieben, und zwar so, daß form und inhalt in widerspruch zueinander treten. bezeichnend die vorliebe, mit der wörter wie scheißen oder vögeln in klassizistischen versmaßen vorgebracht werden, dieses rezept erschöpft sich bei mickel besonders rasch, wie ich vermute, aus den folgenden gründen. erstens schadet die große nähe zu brecht. sie wird besonders deutlich in den erotischen gedichten, die wie imitationen der augsburger sonette wirken. zweitens (damit zusammenhängend) hat die lyrik mickels (im gegensatz etwa zu volker brauns strophen) etwas durchaus privates. das pathos dient nicht dazu, neue verhältnisse, große verhältnisse zur rede zu bringen und zur rede zu stellen. es setzt nur persönliche umstände in ein allzu großes, allzu bedeutsames licht, wobei es die ironie kaum bis zur selbstironie bringt. ein großer anspruch wird, wie im titel, so auch in der sprachlichen führung des textes angemeldet aber nicht eingelöst. diese diskrepanz ist peinlich. mickel redet von sich und seinen freund- und liebschaften wie von etwas schon berühmtem; es ist aber nicht einzusehen, was diesen ruhm rechtfertigen soll. so entsteht eine mischung von kunstgewerbe (stilistischer nachahmung) und kraftmeierei (die sich auf die sprache nicht beschränkt: mickel unterläßt es nicht, uns auf seine angeblich bedeutende potenz aufmerksam zu machen). weder das eine noch das andere kann die poetische schwäche verdecken. sie zeigt sich an einer brüchigkeit, die nicht von der oft fragmentarischen form der gedichte herkommt, auch nicht daher rührt, daß der autor gern offene schlüsse setzt – sie ist auch als (beabsichtigte) sprödigkeit nicht zu erklären. der schluß der friedensfeier etwa (das gedicht gehört zu den besseren) ist einfach blödsinnig, nicht bloß enttäuschend, sondern einfach leer, es ist so gut wie kein schluß. das fadenscheinige ende weist mit dem finger auf schwächen im innern des textes („das ist des sprengstoffs höchsterrungener zweck“ – das wort höchsterrungen ist eben durch keinen ironischen vorbehalt zu retten, es ist eine dummheit). („in geschützrohre bohren wir kleine löcher hinein / dort ziehen dann spechte und stare ein“ – bildlich ein ganz löchriger vers, weil das geschützrohr von anfang an offen ist, weil das anbohren also ziemlich töricht ist und den vögeln nicht viel neues bietet, weil schließlich vögel nicht gern im eisen wohnen; und so mit allem, mit den zauberflöten-raketen, mit dem haifisch-fang, mit den frauen auf den generalstabstischen (– gemeint sind wohl kartentische –: eine schiefe zeile hinter der andern.)
die kleinen prosaversuche am ende des bandes wirken, auch sie, aufgesetzt, als mißratene pointe. sie sind als glossen für eine wochenzeitung nicht übel; sie aber einem gedichtband mitgeben, heißt einen programmatischen anspruch stellen, dem die paar seiten nicht gewachsen sind.
so wie es ist, sollte das buch bei uns auf keinen fall publiziert werden. ich fürchte aber, daß mickel ein durchgreifend verändertes ms. so leicht nicht wird vorlegen können. den jahreszahlen nach zu schließen, enthält das konvolut die arbeit von acht jahren. unter diesen umständen ist dem autor auch für die zukunft eine günstige prognose kaum zu stellen. seine arbeit ist zugleich unfertig und festgelegt, kaum ein anfang und schon erstarrt. auch mickel ist vermutlich, auf eine komplizierte art, ein opfer der zustände, von denen wir jede woche in der zeitung lesen. das erklärt die schwächen seiner poesie, aber es rechtfertigt sie nicht.

Hans Magnus Enzensberger Lektoratsgutachten aus dem Siegfried Unseld Archiv abgedruckt in Tobias Amslinger: Verlagsautorenschaft. Enzensberger und Suhrkamp, Wallstein Verlag, 2018

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Sabine Brandt: Ich warte nicht auf Götter
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 1. 1967

Hans Koch: Hilfloses lyrisches Ich
Neues Deutschland, 19.10.1966

Günter Zehm: Du heißest Proteus, da du dieses sahst
Die Welt der Literatur, 12. 10. 1967

Karl Krolow: Maskenkunst
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 14. 1. 1968

Armin Zeißler: Lyrik der Veränderung
Neue Deutsche Literatur, Heft 1, 1968

Hans-Georg Soldat: Die janusköpfige Dichtung
Der Tagesspiegel, 30. 6. 1968

 

 

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Ein von @purpulan33 geteilter Beitrag

Wer Ohren hat zu sehen, der wird schmecken

– Karl Mickel (1935–2000). –

Mickel? Da muss man nicht lange suchen, man findet sowieso gerade mal zwei lieferbare Titel: einen Gedichtband und einen Roman. Zu Mickel, Karl, Schriften, Mitteldeutscher Verlag, meldet der elektronische Weltgeist Amazon „Derzeit nicht verfügbar. Ob und wann dieser Artikel wieder vorrätig sein wird, ist unbekannt.“ Ich vermute viel eher, das ist sehr wohl bekannt.
Aber egal, Gesammelte Werke haben ja ohnehin immer etwas von einem Ehrengrab an sich. Man geht respektvoll daran vorbei – und fertig. Da steige man also besser gleich hinab in die staubigen Katakomben des zvab.com (Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher) und begebe sich dort auf Detailsuche – in diesem übersichtlichen Labyrinth ist tatsächlich noch einiges zu finden.
Die fein säuberlich aufgelisteten Benutzungsspuren nebst jenen Signaturen, die die verstrichene Zeit inzwischen gut sichtbar auf ihnen hinterlassen hat, machen Mickels Werke zu dem, was sie sind: zu Klassikerausgaben. Mal steht dort hinsichtlich des Zustands: „Insgesamt nachgedunkelt, gut, dem Alter entsprechend erhalten“ (sic!) oder auch: „Einband leicht fleckig, hinten mit kleinen Eselsohren.“ Von der Gelehrtenrepublik, Reclam Leipzig, 1974, heißt es: „Vorderer Umschlag gilb- und staubfleckig. Innen sehr gut.“ (Letzteres kann ich übrigens durchaus bestätigen!) Bei Einstein/Nausikaa, Rotbuch, 1974, ist „Rück-TS etwas angeknabbert“ (– was auch immer man sich im einzelnen darunter vorzustellen hat, ich stelle es mir lieber nicht vor). Ein Exemplar des Gedichtbandes Eisenzeit, ebenfalls Rotbuch, 1976, kann immerhin mit dem Hinweis „ungelesen“ punkten. (Auch das: übliches Klassikerschicksal!) Der Reclam-Band Odysseus in Ithaka, Leipzig, 1976, ist „mit handschriftlichen Korrekturen vom Autor“ versehen, deshalb kostet er 16,80 Euro.
Meinen Odysseus habe ich damals für 1,50 Mark bekommen. Das schmale Bändchen gehört bei mir zum eisernen Bestand. Die Haltbarkeit dieser Gedichte beruht ganz simpel darauf, dass sie ausschließlich Wesentliches enthalten, in ihnen also nichts überflüssiges Platz hat, das (alles!) verderben könnte. Es verhält sich mit ihnen wie mit guten, erstklassigen Geräten: Durch Benutzung werden sie nur immer besser. Nehme ich dieses schwarze Reclam-Bändchen zur Hand, fällt mir eine seltsame Spiegelung auf: Vorne steht, weiß auf schwarz: Karl Mickel: Odysseus in Ithaka, und hinten, auf dem Rücktitel, schwarz auf weiß: Karl Mickel: in Berlin lebender Dresdener.
Mickel kam von Dresden nicht los. Als Neunjähriger erlebte er den Untergang seiner Stadt; das Brandmal dieses Infernos trug er ein Leben lang. Mickels Odysseus verlässt im Titelgedicht des Bandes, ganz im Unterschied zu Homers Epos, Ithaka wieder:

Die Welt ein Schiff! voraus ein Meer des Lichts
Uns hebt der Bug, so blicken wir ins Nichts.

1935 als Sohn eines Mühlenbautischlers geboren, hat er seine proletarische Herkunft nicht nur nicht verleugnet, er war stolz darauf, von ganz unten zu kommen. „Einmal“, so schreibt er im Text „Mein Heine“, „besuchte ich einen Mitschüler aus höherer, d.h. kleinbürgerlicher, Sphäre, dessen Eltern eine sog. Gute Stube zu unterhalten sich verpflichtet fühlten.“ Dort machte er zum ersten Mal Bekanntschaft mit Goethe.
Karl Mickel verfügte über ein – und hier muss man einen Begriff aus der Asservatenkammer des real (nie!) existierenden Sozialismus verwenden – ausgeprägtes „Klassenbewusstsein“. (Das schloss übrigens auch ein Bewusstsein seiner eigenen Extra-Klasse mit ein!) Es fand Ausdruck in Texten, die auf einzigartige Weise, zugleich aber ganz selbstverständlich – und oft genug sogar in einer einzigen Zeile – das Hohe und das Niedere, Goethe und sächsischen Gassenjargon, zusammenbrachten.
Legendär ist sein Gedicht „Der Tisch“ aus dem Jahr 1973, in dem er das väterliche Erbe antritt und vor den Augen des Lesers einen Tisch, einsachtzig mal einsachtzig, baut: Geschliffen im Blankvers fünfhebiger Jamben, setzt er ihn derart meisterlich zusammen, dass es ihn tatsächlich gibt, weil er – dank Mickels Handwerkskunst – einfach nicht mehr wegzudenken ist.
Von 1953 an studierte Mickel in Berlin Wirtschaftsgeschichte und Marxismus, später Archivkunde, und als er damit fertig war, war er noch lange nicht damit fertig. Wer ihn kannte, kannte ihn als einen stets Neugierigen. Dabei richtete sich diese Neu-Gier keineswegs auf das tagesaktuell Neue, viel öfter auf das vermeintlich Alte, auf die Klassiker, so, als hätte dieser Arbeiterjunge aus Sachsen in einem, in seinem Leben all das nachholen wollen, was seinen Leuten aus der Unterschicht über Jahrhunderte hinweg vorenthalten worden war. Wie kaum ein anderer seiner Generation stiftete er den Bund von Sinn und Sinnlichkeit. Aus jener Zeit, 1957, stammt ein frühes Gedicht Mickels, „Reisen“, das mit der Strophe endet:

Die Hände streck ich aus dem Zug
Ich will mit der Hand sehn!
Hand Hand Windpflug
Begreifen ist schön.

Ganz anders im Ton, krude, fast makaber, aber von vergleichbarem Impetus: das Finale des Gedichts „Inferno XXXIV. Für Kirsten“ aus dem Jahr 1972:

Noch im Arsch des Teufels
Will Dante, was er wahrnimmt, wissen.

Mickels poetischer Imperativ lautete: Blicke Du durch.
1960 wurde er Redakteur der Zeitschrift Junge Kunst. Mickels 1966 veröffentlichtes Gedicht „Der See“ löste eine vehement geführte Lyrikdebatte aus, die erst durch das Macht- und Schlusswort eines ZK-Funktionärs beendet wurde. Dieses Gedicht verschaffte Mickel ein Publikationsverbot. Zynisch gesprochen: Es zeugte immerhin von einer hohen Wertschätzung der Literatur, von einem fast religiösen Glauben an die Macht des Wortes, dass man in der DDR, in der es – schon weil es am rein Materiellen mangelte – erstaunlich idealistisch zuging, für ein Gedicht mit einem Publikationsverbot belegt werden konnte. Umständehalber begann Mickel zu übersetzen; und, vor allem, er verzog sich zu den Klassikern. Sein diesbezügliches Wissen war mitunter beängstigend, aber nie einschüchternd. Was er wusste, teilte er gern mit andern.
Nach 1990 waren wir beide Autoren des Kölner Theaterverlags Nyssen & Bansemer. In einem Band dieses noblen, nicht mehr existenten Verlags hatte ich – in aller Unschuld – eine für mich damals bahnbrechende Erkenntnis notiert, zu der ich bei der Lektüre von Schillers Die Bürgschaft gekommen war: Die magischen drei Hindernisse, die sich dem zur pünktlichen Rückkehr verpflichteten Möros in den Weg stellen, lauten ja der Reihe nach: 1. Regen; 2. Räuberbande; 3. Ruhebedürfnis des Helden. Letzteres also, nach der inneren Logik der Steigerung, das schwerste. Der Held ist einfach müde. Was für ein dramatischer Höhepunkt! Und dabei so nachempfindbar alltäglich.
Mickel, mit dem ich nach einem Essen bei unserer Verlegerin Dr. Ute Nyssen noch zusammensaß und der selbst mit ein paar Couplets in diesem Band vertreten war, goutierte grinsend, zwischen zwei Zigarrenzügen, meine eher psychologische Lesart. Das hätte es von mir aus eigentlich gewesen sein können. Doch dann setzte Mickel aus dem Stand zu einem Exkurs an, der mich sprachlos machte. (Dass Mickel in den 1960er Jahren einmal einen großen Essay zu Schillers Bürgschaft geschrieben hatte, entdeckte ich – zu meiner großen Beschämung – erst sehr viel später.)
Er begann mit dem Briefwechsel von Goethe und Schiller, namentlich jenem, übrigens auswendig von Mickel herbeizitierten, sachlichen Einwand, den Goethe am 5. September 1798 vorgebracht hatte: „In der Bürgschaft möchte es physiologisch nicht ganz zu passieren sein, dass einer, der sich an einem regnigten Tag aus dem Strome gerettet, vor Durst umkommen will, da er noch ganz nasse Kleider haben mag“, es ging weiter über eine Deutung der historisch-materialistische Analyse in Brechts Parodie der Schillerballade und wurde zu einer grundsätzlichen wirtschaftshistorischen Erörterung des aus der Finanz- und Kreditwirtschaft stammenden Begriffs der „Bürgschaft“, worauf sich nun vor meinen staunend aufgerissenen Augen der Tyrann in einen Gläubiger, die Freunde in Schuldner und Bürgen verwandelten. – Chapeau, Charles!
Die Studenten an der Hochschule für Ökonomie, wohin Mickel in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit einem Lehrauftrag zurückgekehrt war, müssen jedenfalls ungemein von Mickels zeitweiligem Publikationsverbot profitiert haben. Damals begann er mit seinem Anti-Roman Lachmunds Freunde. 1970 berief Helene Weigel ihn als dramaturgischen Mitarbeiter an das Berliner Ensemble. 1978 wurde Mickel Dozent, ab 1992 Professor für Verssprache und -geschichte an der Berliner Schauspielschule „Ernst Busch“.
Hat man einmal mit seinen Gedichten begonnen, kann man es auch mit seinen Dramen, Operntexten oder dem in jeder Hinsicht merkwürdigen Roman Lachmunds Freunde aufnehmen. Er ist Mickels großer Experimentierraum, genauer: die Dunkelkammer, in der viele seiner Gedanken entwickelt wurden. Scharfe Trennlinien zwischen Kunst und Wissenschaft zog dieser Denkdichter ja nie. Davon zeugen insbesondere auch die Mottek sagt-Gedichte, die er seinem Lehrer, dem Wirtschaftshistoriker Professor Hans Mottek, gewidmet hat.
Einmal, wir saßen in Mickels Wohnung in der Karl-Liebknecht-Straße, erzählte ich ihm von einer russischen Komilitonin. Die hatte jahrlang an einer Dissertation über einen seinerzeit sehr bekannten, inzwischen aber völlig vergessenen, zum Phantom gewordenen russischen Logiker des 19. Jahrhundert gesessen, dessen Name, vor allem durch ein von ihm herausgegebenes Logik-Lehrbuch, zu einem Begriff geworden war. Nach langen Studien und Prüfung aller verfügbaren Quellen war sie am Ende zu dem Schluss gekommen: Der Mann ist völlig zu Recht vergessen. Und nun fragte sie sich (und mich) in leichter Verzweiflung: Was habe ich denn da eigentlich die ganzen Jahre über gemacht?
Mickel, die Augen zugekniffen, hatte mir interessiert zugehört. Am Ende knurrte er: „Naja.“ (Vgl. Mickel, Karl: „Bier. Für Leising“, Z. 7–8: „… Die Wirklichweisen / Wenn die was sagen, sagen die: Naja.“), um dann achselzuckend sein Urteil zu verkünden:

Eine Ahnung hat sich in Gewissheit verwandelt. Summa cum laude würde ich sagen, in diesem Fall.

Für den Historiker Mickel ein ganz klarer Fall: Von Zeit zu Zeit gehörte eben alles auf den Prüfstand, und wenn sich dann etwas als überflüssig erwies: weg damit, aussortieren! Streichen und Verknappen, bis es nicht mehr geht, das war seine bevorzugte Arbeitsweise.
Er war ein Meister des Enthymems. Das sind jene Schlussformen, die aus abgekürzten Syllogismen bestehen, bei denen also Sätze und Prämissen weggelassen werden, weil sie als allgemein bekannt oder als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Doch was ist schon allgemein bekannt? Und was versteht sich von selbst? Bereits im frühen, inkriminierten „See“-Gedicht treffen hart und enthymematisch „Leichen und Laich“ zusammen. Die Zwischenstufen möge der Leser sich doch bitte selbst ausmalen und so die Druckerschwärze in ein Gedicht verwandeln.
Von diesen Verknappungen bis zu den Kalauern ist es nicht weit. Mickel liebte diese gefährlichen Kurzschlüsse der Sprache, wo es erst knistert und dann, weil die Sinn-Sicherung rausfliegt, richtig knallt. Niemand lachte so wie Mickel! Kein verschämtes, ein unverschämtes Lachen. Die Zähne raubtierhaft gebleckt, den Mund weit aufgerissen, den kurzrasierten, feinnervigen Schädel zur Seite geruckt, die Augen geschlossen. (Insofern ist „Lachmund“ ein sehr deutlich sprechender Name.)
Selbstredend sprach Mickel direkt mit Volkes Mund, wenn er von seiner Schauspielschule in Schöneweide ins Zentrum kam, stets von „Schweineöde“ (so wurde und wird dieser ehemalige Industriestandort bis heute genannt):

Mir fällt ein Schwein vom Herzen!

Trafen wir uns, gab es regelrechte Wettbewerbe, wer wen in dieser Hinsicht über-, oder sage ich besser: unterbietet.
„Mögen die Kollegen zum Nietzsche überlaufen; ich will ein alter Bluthegel bleiben“, stöhnte Mickel; da hatte ich gerade mein „Lamadrama“ über Nietzsches Schwester Elisabeth Förster (genannt: „das Lama“) geschrieben. Selbst vor dem Allerheiligsten machten wir nicht halt! Laut dachte ich über einen Briefroman nach, der mit dem kühnen Satze beginnt: „Wie froh bin ich, dass ich da bin!“, und in dem es um einen hoffnungsvollen Tierpflegerlehrling bei Hagenbeck gehen sollte, der sich unglücklich in eine stolze afrikanische Löwin verliebt:

Die Leiden des jungen Wärters.

„Was ich in meinem Leben noch erreichen will“, schreibt Mickel kurz vor seinem Tod, „ich will Ehrenbürger von Calau werden.“ Das dürfte ihm, keine Frage, anstandslos gelingen.
Allerdings, längst ist er ja schon, beglaubigt durch seine Schriften, zum eingeschriebenen Mitglied und, natürlich, auch zum Ehrenbürger jener erlesenen Gelehrtenrepublik geworden, zu der Klopstock, Wieland, Arno Schmidt und noch ein paar andere handverlesene Gesellen gehören. Man muss nur die Augen schließen, schon sieht man die ganze unsterbliche Mannschaft, Klopstock & Co., vor sich, als lässig an Deck herumlungernde Besatzung von Arno Schmidts „Hausboot aufm Styx“. Überm schwarzen Wasser schwanken die Lampionlichter. Nächtens kann man von fern das Gelächter an Bord hören. Mickels Karl aus Dresden, er ist dort, inmitten dieses göttlichen Gelichters, in bester Gesellschaft.
Göttlich? Ja, klar.
(Vgl. Mickel, Karl: „Lachmund-Novelle“, in: Lachmunds Freunde, Göttingen 2006, S. 520: „Und ich prüfte den Kaffee, den ich gemacht hatte, und ich sah, dass er gut war.“)

Jens Sparschuh, die horen, Heft 253, 1. Quartal 2014

 

IKTERUS
Nach Karl Mickel

Das mache ich nicht mit, was einer mitmacht
Der nur den Mond anguckt, nie, was ich mach:
Gedichte (mitm Messer ritz ich die
In Bauzaun) Holz: das hacke ich zu Betten
Und leg mich aufm Bauch lang, nicht zu kurz
Um dich, nicht IHN ansehn zu müssen.
It is not mein Mond, but it is dein Bauch
Drauf will ich I. mich und 2. ihn vergessen.
Sonst kriege ich bloß Gelbsucht und du auch.

Kurt Bartsch

 

KARL MICKEL

Zwischenbier und Bitterkeit

aaaaaaaaaa– Muttersprache
aaaaaaaaaa– Mottek singt
aaaaaaaaaa– Ausm Stullenröster

Peter Wawerzinek

 

 

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts fand 1992 in der literaturwerkstatt berlin ein poetologisches Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel statt.

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

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Nachrufe auf Karl Mickel: Berliner Zeitung ✝ FR ✝  der Freitag ✝
Der Tagesspiegel ✝ Die Zeit ✝ FAZ ✝ ndl ✝ NZZ ✝ Ostragehege ✝︎

Konrad Franke: Der souveräne Weltanschauer
Süddeutsche Zeitung, 23.6.2000

Ijoma Mangold: Forderung nach Leichtigkeit und Höhe
Badische Zeitung, 24.6.2000

Zum 10. Todestag des Autors:

Thomas J. Richter & Heike Friauf: Eine Frage – Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Die Linke, Juni 2010

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Stefan Amzoll: Was ist das, ein Mensch?
neues deutschland, 12.8.2015

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Mickel“.

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