BRECHT, DEINE NACHGEBORENEN
aaaaaaaIhr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
aaaaaaaIn der wir untergegangen sind…
Auf die sich deine Hoffnung gründete
Mit deinen Hoffnungen gehn sie zugrunde
Die es einmal besser machen sollten
Machen die Sache anderer Leute immer besser
Und haben sich in den finsteren Zeiten
Gemütlich eingerichtet mit deinem Gedicht
Die mit dem Spalt zwischen den Augen
Die mit verrammelten Ohren
Die mit der genagelten Zunge
aaaaaBrecht, deine Nachgeborenen
aaaaaVon Zeit zu Zeit suchen sie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheim
Scherben, vor mich hingebreitete Träume
Trümmer, vor mir aufgetürmte Erwartungen
Abfall früher Leidenschaften tischen sie mir auf
Schale Reste früheren Zorns schenken sie mir ein
Streun mir aufs Haupt früherer Feuer Asche
Karger Nachlaß hängt mir da gegenüber im Sessel
Gebrannt mit den Stempeln der Bürokratie
In die Daumenschrauben eingespannt der Privilegien
Zerkaut und ausgespuckt von der politischen Polizei
aaaaaBrecht, deine Nachgeborenen
aaaaaVon Zeit zu Zeit suchen sie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheim
Und sind wie blind von der Finsternis um sie
Und sind wie taub von dem Schweigen um sie
Und sind wie stumm vom täglichen Siegesschrei
Immer noch feinere Leiden zufügen und
Aushalten, das haben sie gelernt und
Haben den Boden des großen Topfes noch
Lange nicht erreicht, an Bitternissen
Das bodenlose Angebot an fettiger Armut
Noch lange nicht ausgekostet
aaaaaBrecht, deine Nachgeborenen
aaaaaVon Zeit zu Zeit suchen sie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheim
Auch romantisches Strandgut schwemmt bei mir an
Metapherntriefendes Treibholz der Revolution
Auf Messingsschildern noch immer die großen Namen
Des 19. Jahrhunderts. Am Wrack noch ahnt man
Das Schiff. Die gesunkenen Planken berichten
Von der abgesoffenen Mannschaft. Der verrottete Hanf
Faselt, noch immer von schiffebezwingenden Tauen
Ja, aufgetaucht sind sie aus der Flut, in der ihr
Untergegangen seid und sehn nun kein Land
aaaaaBrecht, deine Nachgeborenen
aaaaaVon Zeit zu Zeit suchen sie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheim
Auch das, Meister, sind – und in Prosa – deine
Nachgeborenen: nachgestorbene Vorgestorbene
Voller Nachsicht nur mit sich selber
Öfter noch als die Schuhe die Haltung wechselnd
Stimmt: ihre Stimme ist nicht mehr heiser
– sie haben ja nichts mehr zu sagen
Nicht mehr verzerrt sind ihre Züge, stimmt:
Denn gesichtslos sind sie geworden. Geworden
Ist endlich der Mensch dem Wolfe ein Wolf
aaaaaBrecht, deine Nachgeborenen
aaaaaVon Zeit zu Zeit suchen sie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheim
Gehn dann endlich die Gäste, betrunken von der irreführenden
Wahrheit meiner Balladen, entzündet auch an der falschen Logik
Meiner Gedichte, gehn sie, bewaffnet mit Zuversicht, dann
Bleibe ich zurück: Asche meiner Feuer. Dann
Stehe ich da: ausgeplündertes Arsenal. Und
Ausgeknockt hänge ich in den Saiten meiner Gitarre
Und habe keine Stimme mehr und kein Gesicht
Und bin wie taub vom Reden und wie blind vom Hinsehn
Und fürchte mich vor meiner Furcht und bin
aaaaaBrecht, deine Nachgeborenen
aaaaaVon Zeit zu Zeit suchen sie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaheim
Wolf Biermann
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaaWarum
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa aaaaaasoll mein Name genannt werden?
DIE MÜTZE DES VERFASSERS
„Jedes Gedicht ist der Feind jedes andern Gedichts und sollte also allein herausgegeben und gelesen werden“, schrieb Brecht im Mai 1950 Wieland Herzfelde, dem Herausgeber des im darauffolgenden Jahr erschienenen Bandes Hundert Gedichte. „Gleichzeitig benötigen sie einander“, insistierte er aber, „ziehen Kraft aus einander und können also vereint werden. Der Hut, unter den sie gemeinhin gebracht werden, ist der Hut des Verfassers, in meinem Fall die Mütze. Aber dies ist auch gefährlich, die vorliegenden Gedichte mögen mich beschreiben, aber sie sind nicht zu diesem Zweck geschrieben. Es handelt sich nicht darum, ,den Dichter kennenzulernen‘, sondern die Welt und jene, mit denen zusammen er sie zu genießen und zu verändern sucht.“
Die Hundert Gedichte waren nach Bertolt Brechts Hauspostille (1927), Lieder, Gedichte, Chöre (1934) und Svendborger Gedichte (1939) Brechts vierte Gedichtsammlung, die letzte zu Lebzeiten. Die Auswahl – einhundert von mehr als zweitausend Gedichten, die Brecht verfaßte – behauptet die Klassizität des Autors und seiner Texte. Diese Absicht macht am besten der Umschlag der zweiten Auflage deutlich. Er zeigt, der Bildunterschrift zufolge, eine „Figur aus Wurzeln des Theestrauches, im alten China als Glückstier betrachtet und um so höher bewertet, je weniger Schnitzarbeit sie aufwies“. Auf der Buchrückseite wird das Wurzelwerk kommentiert von Brechts Fünfzeiler „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ – eine Poetologie in nuce:
Die Schlechten fürchten deine Klaue.
Die Guten freuen sich deiner Grazie.
Derlei
Hörte ich gern
Von meinem Vers.
Das Understatement täuscht nicht über den Anspruch auf Haltbarkeit dieser Gedichte hinweg.
GEDICHTE DER NACHGEBORENEN
Die Hundert Gedichte in diesem Band stehen für eine Wirkung, die ihresgleichen sucht. Brecht gehört neben Rilke, Celan und Benn zu den meistgelesenen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Daß ein Dichter und sein Werk zum Gegenstand von Gedichten wird, ist jedoch mehr, als Lektüre gemeinhin auslöst. Brechts provokantes Auftreten, sein Anspruch auf Änderung der Kunst und Änderung der Welt (in dieser Reihenfolge!), seine unverwechselbare Sprache provozierten Widerspruch und ermunterten zur Nachahmung, zuweilen sogar Einfühlung, wie sie dem Antiaristoteliker kaum geschmeckt hätte. Daß Brechts Präsenz, sein „so furchtbar langer Schatten“ (Hacks) auch als lästig empfunden wird, zeigen Spottverse wie Robert Gernhardts Antwort auf das Epigramm vom Theewurzellöwen. Gernhardt alias Gega, der dem positiven Dichter Kin „so wenig über den Weg traute, wie er den negativen hoch schätzte“, nimmt sich wie Brecht die Freiheit heraus, Verse zu ändern: Im „Lob der Partei“, schlägt Ge-ga vor, sollte es statt „Der einzelne hat zwei Augen / Die Partei hat tausend Augen“ besser heißen:
Der einzelne hat nur zwei Augen
Die Partei hat ein Auge.
Man müßte sich schon für ein weiträumiges Genre wie Liebes- oder Großstadtgedichte entscheiden, wenn man für eine Anthologie eine annähernd vergleichbare Autorenzahl erreichen will. Ergiebig wäre etwa auch das Thema Bäume, aber gerade das ist ohne die Brecht-Rezeption in der Lyrik nicht zu verfolgen. Das „Gespräch über Bäume“ ist eine der poetischen Grundfiguren, die ganze Anthologien angeregt haben. Die Formulierung stammt aus dem 1938 geschriebenen Gedicht „An die Nachgeborenen“, das die Svendborger Gedichte und auch die Hundert Gedichte beendet. Brecht scheint die Wirkung dieser Verse kalkuliert zu haben. Er wollte seinen Nachruhm nicht dem Zufall überlassen. „Bitte an die Nachwelt um Nachsicht“ ist eine frühe Fassung überschrieben. Die Nachgeborenen sind der Einladung „Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht“ entschieden gefolgt – mit mehr oder weniger Nachsicht, und sie haben sich dabei lyrischer Formen bedient. Unüberschaubar die Zitationen der „Freundlichkeit“, die Anklänge an die „finsteren Zeiten“, an die „furchtbare Nachricht“, die der Lachende nur noch nicht empfangen hat, oder an die „Flut, / In der wir untergegangen sind“.
„GESPRÄCH ÜBER BÄUME“
Im Zentrum der poetischen Rezeption steht das „Gespräch über Bäume“ aus dem ersten Teil des Gedichts:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der Widerspruch, auf den diese Zeilen stießen, verdankt sich einem Mißverständnis. Brecht selbst hat keineswegs auf das Gespräch oder auf Gedichte über Bäume verzichtet. Günter Eichs Gedicht „Ende eines Sommers“ war daher kaum an Brecht adressiert:
Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!
Dennoch spielte auch er an auf das „berühmte Gespräch über Bäume“ (Enzensberger). Es gewann in den sechziger und siebziger Jahren, als das Ausmaß der Umweltzerstörungen bewußt wurde, eine ungeahnte politische Dimension. Der Tintenfisch Nr. 12 erschien 1977 unter dem Titel „Natur – Oder: Warum ein Gespräch über Bäume heute kein Verbrechen mehr ist“. Hans Christoph Buch fragte in der Einleitung:
Warum erscheint uns der Satz, daß ein Gespräch über Bäume fast schon ein Verbrechen ist, heute fast schon selbst verbrecherisch? Weil es nicht mehr sicher ist, ob es in hundert Jahren überhaupt noch Bäume geben wird auf dieser Erde, und weil das Schweigen über Bäume das Verschweigen so vieler Untaten einschließt, denen nicht allein Bäume zum Opfer fallen.
Die Auseinandersetzung mit Brechts Topos erfaßte auch die Kunst (Grieshaber, Beuys) und die Musik (Lombardi). Und bei der Karriere zum Schlagwort löste sich die Wendung von ihrem Verfasser. Zehn Jahre nach Erscheinen des Tintenfischs war die Umweltkatastrophe durch die atomare Bedrohung verschärft, und Heiner Müller zeichnete in seiner Rede „Shakespeare eine Differenz“ Brechts Konflikt als ferne Vergangenheit:
Finstere Zeiten, als ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen war. Die Zeiten sind heller geworden, der Schatten geht aus, ein Verbrechen das Schweigen über Bäume.
In Paul Celans Gedicht „Ein Blatt, baumlos“ – eine der verblüffendsten Antworten auf Brechts Gedicht – richtet sich der Blick von den Bäumen weg auf das Gespräch. Dieses ist gefährdet als Summe alles nach Auschwitz Gesagten, als Opfer des Geschwätzes. Nicht nur „An die Nachgeborenen“ liefert Stichworte: Beliebt sind Gedichte aus der Hauspostille, vor allem „Vom armen B. B.“ (allgegenwärtig: die schwarzen Wälder, die Asphaltstädte, das Eiland Manhattan, der durch die Städte gehende Wind, die Virginia), dazu das Schlußkapitel „Gegen Verführung“, auch „Luzifers Abendlied“ genannt, und die Balladen, der „Happy End“-Song „Ja, das Meer ist blau, so blau“, die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ aus den Svendborger Gedichten, die „Buckower Elegien“ mit dem Gedicht „Der Radwechsel“, dessen Zeilen „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre“ sich zur Adaption förmlich anbieten. Auffallend ist die zunehmende Ironisierung oder Distanzierung, mit der Brechts Zeilen aufgegriffen werden: „Also was die siebziger Jahre betriff, / kann ich mich kurz fassen“, beginnt Enzensbergers Gedicht „Andenken“. Und später heißt es.
Die furchtbare Nachricht lief über den Ticker,
wurde zur Kenntnis genommen und archiviert.
Widerstandslos, im großen und ganzen,
haben sie sich selber verschluckt,
die siebziger Jahre,
ohne Gewähr für Nachgeborene,
Türken und Arbeitslose.
Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte,
wäre zuviel verlangt.
WEITE UND VIELFALT
Die Sammlung enthält Gedichte von 73 Dichterinnen und Dichtern aus achtzig Jahren. Die jüngsten Texte sind im Jahr 2005 für dieses Buch entstanden. Das älteste Zeugnis bezieht sich auf ein Ereignis vom 4. Dezember 1924: die umstrittene Premiere (nicht Uraufführung) von Leben Eduard des Zweiten von England im Staatlichen Schauspielhaus in Berlin. Rotzig-frech inszeniert Paul Zech, für dessen Baal- und Rimbaud-Dichtungen Brecht sich interessierte, die Eitelkeiten einer Berliner Brecht-Premiere, über die Alfred Kerr sagte:
Nur wer die Gähnsucht kennt,
Weiß was ich leide
Ausgewählt wurden Texte von Vertrauten und Mitarbeitern wie dem Augsburger Jugendfreund Hanns Otto Münsterer, Hanns Eisler, dem ebenfalls nach Hollywood emigrierten Regisseur Berthold Viertel, Arnold Zweig oder Ernst Schoen, Brechts und Benjamins Partner aus Frankfurter Rundfunktagen vor 1933. Mit Peter Huchel verband der Kampf um Sinn und Form, während die Literatur eher getrennte Wege ging; und dennoch sendete Huchel, als der Kampf verloren war, dem Mitstreiter im letzten von ihm redigierten Heft postum einen fast versteckten Gruß. Einige Gedichte – wie der Nachruf Zweigs oder das Gedicht der Schauspielerin Angelika Hurwicz, die stumme Kattrin am Berliner Ensemble, rechtfertigen sich vor allem durch persönliche Nähe. Das Gedicht des Sohnes Stefan ist mit dem des Schwiegersohnes Ekkehard Schall zu vergleichen. Ruth Berlaus Gedicht „Ich ging, dir ein Blatt zu holen“, nur einer von zahlreichen Texten, die sie an und über den Freund schrieb, ist die Antwort auf Brechts lyrische Aufforderung „Schicke mir ein Blatt“. Als Zeugnis von Distanz ist dagegen Hans Sahls bitterer Bericht über eine Kontroverse in New York zu lesen.
Texte von Schülern – genauer: Meisterschülern – Brechts ziehen sich durch die Sammlung: Martin Pohl, auf dessen dichterisches Talent der Stückeschreiber viel gab und den er während dessen Haftzeit unterstützte, Heinz Kahlau und B.K. Tragelehn, spätere Theaterleute und Lyriker. Daneben kommen Autoren zu Wort, die nicht unmittelbar Schüler waren, aber doch in der Nachfolge Brechts begannen: Günter Kunert, der mit Brecht, Berlau und Palitzsch die Kriegsfibel edierte und dem Dichter seine ersten Gedichtbände widmete, Heiner Müller, der Kahlau und Pohl den Schülerstatus neidete, Volker Braun, Karl Mickel, Peter Hacks und Wolf Biermann. Diese Autoren tragen die Sammlung – gerade auch in der Veränderung ihrer Beziehung zu Brecht.
Autoren, die Brecht nicht persönlich begegnet sind, treffen ihn literarisch. Und zuweilen überwindet das Gespräch sogar Sprachgrenzen, wenn nämlich die Dichter das Werk nur in Übersetzungen kennen. Der Generationenfolge entspricht eine Vielfalt in Themen, Formen, Motiven und Zugriff: Porträts des Dichters, Skizzen seiner Vita, Kontrafakturen, Fortschreibungen, Gegenlieder, Kommentare, offene oder kryptische Anklänge. Gedichte, die lediglich Motive übernehmen oder durch die Bauform und den Gestus Brechts imitieren, kamen von vornherein nicht in die engere Wahl, weil das Unternehmen dann mehrbändig hätte angelegt sein müssen. Brechts Einfluß auf die Dichtung des 20. Jahrhunderts kann nur noch in konzertierten Aktionen aufgespürt werden. Seiner Handschrift begegnet man überall: der rhythmischen Magie der Balladen und frühen Dichtungen, dem trockenen Ton der Exilberichte, den paradoxen Wendungen des Spätwerks. Brecht hielt sich an das Wort seiner Keuner-Figur, dem zufolge ein Stil zitierbar sein müsse. Zitierbar heißt auch kopierbar, wovon man sich vielfach überzeugen kann. Es ist daher auch nur zu verständlich, daß sich Dichter der bedrückenden Vorherrschaft eines solchen Autors, seiner fatalen Begabung zum gültigen Sprechen zu entziehen suchen.
„IST IHNEN DIE ZIGARRE AUSGEGANGEN?“
Die meisten Gedichte dieser Sammlung suchen das unmittelbare Gespräch mit Brecht. Das Titelgedicht, Volker Brauns „O Chicago! O Widerspruch!“, greift ein Diktum aus dem „Dreigroschenprozeß“ auf: „Die Widersprüche sind die Hoffnungen!“, und es führt in einem Moment, da die DDR vom Entschwinden bedroht war, in die Welt der Fleischindustrie, wie sie, als Symbol des Kapitalismus, in Im Dickicht der Städte, Die heilige Johanna der Schlachthöfe und in Jae Fleischhacker dargestellt ist. „Alles dort ist käuflich“, wissen Mickels Verse in „Dickicht Brechts“.
Durs Grünbeins Gedicht „Das große Weichei“ entstammt in einem eher weiten Sinne dem Sagen- und Mythenkreis des jungen Brecht. Hans Thill greift den süchtig machenden Tonfall der frühen Psalmen auf. Der Theologe Jürgen Ebach eignet sich „Gegen Verführung“ an, um Jesaja 21 zu paraphrasieren; es sei die Aufgabe prophetischen Redens in kritischer Zeit, ungeduldiges Fragen und geduldiges Warten zusammenzuhalten. Man vergleiche Ebachs Lesart mit den Varianten Biermanns oder von Törnes. Annett Gröschner aktualisiert das achte Gedicht der Folge „Aus dem Lesebuch für Städtebewohner“. Celans Gedicht „Die Liebe“, entstanden nach dem ersten längeren Aufenthalt in einer Psychiatrischen Klinik, erinnert an das „Kranichlied“, auch bekannt als „Terzinen über die Liebe“ aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny: „Sieh jene Kraniche in großem Bogen“, singt Jenny, und Paul weiß:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
Die Frauen um Brecht kommen in Gedichten von Karin Kiwus, Ulrike Draesner, Wolf Biermann, Thomas Brasch, Volker Braun und Derek Mahon vor. Der Titel bei Kiwus entspricht einem als Botschaft versteckten Akrostichon in Margarete Steffins Sonett „Als der Klassiker am Montag, dem siebenten Oktober 1935 es verließ, weinte Dänemark“. Mickels Gedicht „Petzower Sommer“ wäre es fast gelungen, die Spuren zu verwischen, die „Der Kirschdieb“ und die „grundsätzliche Laxheit in Fragen des Eigentums“ heißen. „B und F in H“ (Brecht und Feuchtwanger in Hollywood) von Tragelehn kommentiert ein Foto von Ruth Berlau und spielt an auf die IV. der Benjaminischen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ (geschrieben 1940, Erstdruck 1942). „Orges Wunschliste“ scheint auf in den Gedichten von Peter Gosse und Richard Pietraß, dessen „Wohltaten“ dennoch keine direkte Replik sind; der Dichter verweist auf andere summierende Gedichte (von René Char oder César Vallejo). Braschs „Schließ die Tür und begreife“ kann als Variation auf Brechts spätes Gedicht „Als ich in meinem Krankenzimmer der Charité“ gelesen werden: Die Zeilen über das Verschwinden der Todesfurcht – „da ja nichts / Mir je fehlen kann, vorausgesetzt / Ich selber fehle“ – radikalisiert Brasch: „begreife / daß niemandem etwas fehlt wenn du fehlst“ und „Du fehlst keinem“ – es sind Differenzen der Mentalität, für die die „finsteren Zeiten“ allein keine Erklärung liefern. Der Amselgesang, dessen sich der Dichter im Charité-Zimmer freuen kann, ist wie der Rauch ein genuines poetisches Motiv in Brechts Lyrik: Bartschs Gedicht „Brechts tod“ verknüpft diese Motive kunstvoll mit Elementen der Vita.
Die Sammlung dokumentiert nicht nur das Gespräch mit Brecht, sondern sie stiftet Kommunikation unter den Dichtern. Biermann widmet seine „Ermutigung“ Huchel, Czechowski erwähnt Richard Leising. Das zweite B. in Kerstin Hensels Widmung ist der Dichter Volker Braun, dessen Gedicht „Beratung“ mit „Die Maske des Bösen“ verschränkt ist. Rose Ausländer zitiert in ihrem Beitrag zum „Gespräch über Bäume“ eine Zeile von Günter Eich. Thomas Martin greift Hanns Eislers Liedgedicht auf und erinnert an die Komposition „Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben“. Wie Erich Fried assoziiert Bert Papenfuß bei der Formulierung „Vom Sprengen des Gartens“ nicht den Wasserschlauch, sondern Dynamit:
Meinte er Sprengung
oder Besprengung?
Der Dichter hat angesichts der Erdbeben, die kommen werden, seine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit. Die Gedichte auf Brecht sorgen dafür, daß der Stumpen unter Dampf bleibt. Vielleicht können sie nicht dazu beitragen, „den Dichter kennenzulernen“, aber sein Werk – und die Welt, die er zu genießen und verändern suchte.
Karen Leeder & Erdmut Wizisla, Februar 2006, Nachwort
Bertolt Brechts. Eine faszinierende Reise durch die Lyrik, die Literatur und Politik des letzten Jahrhunderts. Mit zahlreichen Gedichten jüngerer Autorinnen und Autoren, die eigens für diesen Band geschrieben wurden.
: Transit Verlag, Klappentext, 2006
In ihrem Gedichtband veröffentlichen Karen Leeder und Erdmut Wizisla Gedichte von 73 Autoren. Die Schriftsteller aus unterschiedlichen Generationen begeben sich mit ihren Schriften in den Dialog mit Bertolt Brecht und setzen sich auf vielfältige Weise mit dem Augsburger auseinander.
Bertolt Brecht, der als Theatererneuerer Weltruhm erlangte, hat nicht nur Stücke wie Die Dreigroschenoper oder Mutter Courage und ihre Kinder geschrieben, sondern auch über zweitausend Gedichte.
Aus dieser stattlichen Anzahl lyrischer Gebilde hat Wieland Herzfelde 1951 eine Auswahl getroffen. Unter dem Titel Hundert Gedichte 1918–1950 erschien die Anthologie 1951 im Berliner Aufbau Verlag.
In Anlehnung an diesen Band, der noch zu Brechts Lebzeiten veröffentlicht wurde, ist jetzt im Transit Verlag das Buch O Chicago! O Widerspruch! erschienen. Wiederum sind einhundert Gedichte versammelt, diesmal aber suchen Autorinnen wie Ruth Berlau, Karin Kiwus, Annett Gröschner und Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Durs Grünbein, Heiner Müller Zwiesprache mit dem berühmten Augsburger.
Der „Augsburg an den Schuhen ins große Berlin“ ging, wie es in einem Gedicht von B.K. Tragelehn heißt. Die unterschiedlichen Generationen angehörenden Dichterinnen und Dichter begeben sich auf die Spur des Mannes, dessen verwegene Schiebermütze und seine ewig rauchende Zigarre Symbolwert erlangten.
Brecht, ist ihnen die Zigarre ausgegangen?
Das fragt Volker Braun in dem Gedicht, das dem Band den Titel gab, und das mit der Zeile endet:
Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte.
Auch auf solche unverkennbar mit Brechts Äußerem verbundenen Kennzeichen machen die nachgeborenen Autoren in dem von Karen Leeder und Erdmut Wizisla herausgegebenen Band aufmerksam, der in sieben Abschnitte gegliedert ist.
Für die einzelnen Kapitelüberschriften haben die Herausgeber auf Gedichttitel zurückgegriffen, sodass sie sich aus dem Dialog, zu dem sie eingeladen haben, heraushalten. Der mit „Porträt des B. B.“ überschriebene erste Abschnitt verdankt seine Bezeichnung dem gleichnamigen Gedicht von Heinz Kahlau und der den Band beschließende Abschnitt „Brecht, deine Nachgeborenen“ geht auf den Titel eines Gedichts von Wolf Biermann zurück.
Im Zentrum der poetischen Reflexion steht ein Vers aus Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Paul Celan antwortet darauf in seinem Brecht gewidmeten Gedicht „Ein Blatt, Baumlos“ so:
Was sind das für Zeiten,
wo ein Gespräch
beinah ein Verbrechen ist,
weil es soviel Gesagtes
mit einschließt?
Insgesamt sind 73 Autorinnen und Autoren vertreten, Volker Braun, Wolf Biermann, Günter Kunert und B.K. Tragelehn mit jeweils vier, Johannes Bobrowski, Thomas Brasch und Karl Mickel mit jeweils drei Gedichten. Deutlich wird, dass gerade diese Autoren immer wieder die Auseinandersetzung mit Brecht gesucht haben.
Dass sich die Herausgeber entschlossen haben, auch fünf Gedichte von Autoren aus dem englischsprachigen Raum aufzunehmen, will nicht ganz einleuchten. Denn natürlich stellt sich da die Frage, ob man dann nicht insgesamt den Band für die internationale Rezeption hätte öffnen müssen.
Sollten aber fünf Gedichte gefehlt haben, um die deutschsprachige Rezeption zu dokumentieren, sei hier auf drei Brecht-Texte von zwei Autoren verwiesen, die nicht im Band vertreten sind: Andreas Reimanns (Jahrgang 1946) Gedichte „Fragen eines Bildungsbürgers“ und „Mai“ hätten vielleicht ebenso aufgenommen werden können wie Steffen Menschings (Jahrgang 1958) Gedicht „Im Spätsommer“.
Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.
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