Karl Bellenberg: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein alter Tibetteppich“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein alter Tibetteppich“ aus Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Ein alter Tibetteppich

Deine Seele, die die meine liebet
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.

Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzentron
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.

 

Geschrieben und erstmals 1910 veröffentlicht in Der Sturm1 und später in der Gedichtsammlung Meine Wunder (1911)2Meine Wunder. Gedichte von Else Lasker-Schüler. Karlsruhe und Leipzig, Dreililienverlag 1911 ist das Gedicht eines der ganz großen der Dichterin Else Lasker-Schüler. Davon wollen einem Dichter nur einige wenige, vielleicht eine Hand voll gelingen, wie Gottfried Benn meint.3Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit. S. 352 – Das Gedicht war eins von Thomas Manns Lieblingsgedichten, wie aus einem Gästebucheintrag4 von Else Lasker-Schüler hervorgeht. Und Karl Kraus, der gefürchtete Kunst- und Literaturkritiker Wiens im beginnenden 20. Jahrhundert und, wie Herwarth Walden (Der Sturm), Herausgeber einer berühmten Zeitschrift Die Fackel, schrieb anlässlich des Abdrucks des Gedichtes in dieser Zeitschrift als Fußnote, dass dieses Gedicht von Else Lasker-Schüler, ,,d[er] stärkste[n] und unwegsamste[n] Erscheinung des modernen Deutschland“, eines der „entzückendsten und ergreifendsten, die ich je gelesen habe“5Die Fackel 12 (313–314), S. 36 sei, und er dafür seinen gesamten Heine hergeben wolle.
1911 wurde eine Besprechung der neu erschienenen Sammlung Meine Wunder ebenfalls in der Fackel abgedruckt. Darin interpretiert ein gewisser Richard Weiß einige der Gedichte, unter anderem auch „Ein alter Tibetteppich“:6Else Lasker-Schüler. Meine Wunder. Gedichte von Else Lasker-Schüler. Karlsruhe und Leipzig, Dreililienverlag 1911. Rezension. In: Die Fackel 13 (321–322), S. 42–50 eine sensible und wortmächtige Interpretation, der im Folgenden das ein und andere entlehnt ist.
Formal besteht das Gedicht aus drei Strophen zu je zwei Versen und einer 4. Strophe zu drei Versen. Die Verse sind strophenweise in Endreimen gefasst. Ein Trochäus läuft mit 4–6 Hebungen je Vers durch, wird jedoch am Ende (V. 8 und 9) jambisch durchbrochen.
Das Gedicht, das vom Geflecht eines Teppichs handelt, stellt sich bei näherer Betrachtung selbst als außerordentliches Geflecht von Wort-, Bild- und Klang-Beziehungen dar, das kunstvoll gewebt ist.

Die Klänge, die durch die Überschrift mit hellen Vokalen „e / i“ eingeläutet werden, werden in der ersten Strophe fortkomponiert. Klang schmeichelt ein mit weichem „s“-Anlaut, gefolgt von gedehntem „e“, weichem „l“ und formt so „Seele“. Auch schon der Aufklang, „D“ als weicher Plosivlaut, der sich wie ein Echo in dem zweimaligen „die die“ fängt! Und klanggleich folgt „meine“ auf „Deine“ und so hüllen diese Klanggleichheiten die beiden Seelen ein. Es folgt in seiner Wirkung ähnlich — wieder mit schmeichelndem Anlaut – „liebet“ und scheut dabei nicht das dichterisch verpönte Längungs-„e“, nimmt es doch dem „liebt“ dadurch ganz die Schlusshärte und bereitet behutsam vor, was als dichterischer Clou für die zweite Zeile geplant ist. Der weiche, helle Klang wird weiter gewoben im zweiten Vers, nur in hellen Registern und durchweg weichen Konsonanten „w“ und „m“. Man ist geradezu geneigt, auch die „t“-Ablaute als weiche „d“ zu intonierten. Alles strebt auf den Clou „Teppichtibet“ zu. Eine unerhörte Wortneuschöpfung, Vertauschung der beiden Wortstämme des Kompositums. Hört man noch Tibet oder schon seine Spiegelung Tebit? Die Klangassimilation wird so zu Teppich. – Was aber ist Teppichtibet, ein Hochland voller Teppich? Das neue Wort verunsichert, hat keine Bodenhaftung, hebt gewissermaßen ab, – zumindest vom gesicherten Wortlexikon in uns.
Und schon werden aus Fäden Strahlen, die sich kreuzen, erscheint der nur in der Überschrift imaginierte Teppich – denn ansonsten entzieht er sich uns auf raffinierte Weise in allen Versen – in all seiner Farbenpracht. Und hinterfragt man die Empfindung von Farbenpracht, so wird sie evoziert durch neologistische Konnotation des Adjektivs „verliebt“. „Verliebte Farben“, das ist Harmonie, das ist Glanz, das ist Leuchtkraft. So ist der wundersame Teppich gleichsam abgehoben, findet sich wieder in einem neuen Bild schwebend, dem des Sternenhimmels in seiner unendlichen Weite, die mit einem weiteren Neologismus „himmellang“ imaginiert wird.7 Der Blick geht unwillkürlich in die Höhe zu den Sternen, die sich werbend umkreisen, – kaum hörbar, oder?
Hören wir auf den Klang dieser zwei Zeilen: eine Nuance hat sich verschoben, den hellen Vokalen und weichen Konsonanten hat sich hinzugemischt der Vokal „a“ in seiner weichen, langen Variante „ah“! als sei ein fernes Feuerwerk erstrahlt. Ah, ein Klang von Feierlichkeit. Und subverbal spiegeln sich phonologisch Zeichenfolgen im tanzenden Klangspiel der Worte: „rah“ und „war“ und „arb“.
Was Erdung verspricht: „Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit“, erweist sich – auch syntaktisch – im näheren als ankerlos. Denn, was ist denn das Bezugs-Nomen zu „Kostbarkeit“, auf dem die Füße ruhen könnten? Das Teppichtibet? – Ein unlexikalisches Wort als gedanklicher Anker und zudem syntaktisch weit entfernt! – Die Sterne? – Sie scheinen die einzige Lösung! Aber Sterne als Fußmatte? — Es ist gefühlsmäßig doch wohl der Teppich. Er kommt im Satzgefüge zwar nicht vor, kann also nicht syntaktischer Bezugspunkt sein, aber er ist so raffiniert imaginiert, dass er in jener Strophe vorzukommen scheint: „maschentausendabertausendweit“. Auch hier dichtet Else Lasker-Schüler unerhört, weil nicht vorher auch nur ansatzweise so gedichtet wurde, zu keiner Zeit, nie! Welch ein Wort! Aber müsste es nicht statt „weit“ „eng“ heißen, weil doch Engmaschigkeit bei Teppichen ein Wertmerkmal ist? – „Maschentausendabertausendweit“, das ist orientalische Sprache (der Bibel und der Märchen) und typisch Lasker-Schüler! 1000 mal 1000, um die nicht fassbare Größe noch in Worte zu fassen, und die Verkettung von Maschen findet sich semantisch aufgenommen in der Verkettung von Wörtern zu diesem neuen, langen Wort. Und damit schließt sich alles zum kosmischen Bild von unendlicher Weite und 1000-maliger Verflechtung von „du“ und „ich“ im Sternen-Kosmos der Verliebtheiten.
Dieses geradezu unwirkliche Kaleidoskop von Farben, Klängen und Geflecht bekommt nun erstmalig einen Namen zugewiesenen: „Moschuspflanzentron“ [sic!]. Als wievielte Wortneuschöpfung kann und will auch sie uns nicht erden; eine Phantasmagorie: ein Thron aus Pflanzen aus der Familie Moschushirsche?! Und die dabei aufkommende Heiterkeit mischt sich im letzten und vierten Bild (V. 7–9) mit erotisch-moschus-schwerem Duft, mit der Süße des Geliebten – er ist vor allen anderen (Tibetanern) ausgezeichneter Lamasohn8 auf dem Thron und mit ihm lagert, ebenfalls erhöht, seine Geliebte (das Lyrische Ich) im Kuss mit ihm vereint — mit der innigsten Innigkeit des nie enden wollenden Kusses von Mund und! Wange. Nicht nur ist kein Gefühl mehr von Dauer dieser Seligkeiten, sie weilen ja doch schon auf dem Teppichthron seit „bundgeknüpften Zeiten“, wie das Spiel „verliebter Farben“. Sondern auch die Heiterkeit und der Schelm, die zwischen den Zeilen aufblitzen, sie werden gewissermaßen durch den Mutwillen der Dichterin noch getoppt, die mit dem „Dauerbrenner-Kuss“ eine überzählige Verszeile, zudem mit einem Metrumwechsel und falschem Endreim einschmuggelt und so das Bild zusätzlich – auch zeitlich – weitet. Diese süße Situation ist für das Lyrische Ich übrigens so selbstverständlich, dass die Syntax der – eher rhetorisch gemeinten – Frage eben mit einem Punkt endet.9
Schließlich: wie ist der Klang der letzten Strophe? Die hellen Klangregister sind kaum mehr wahrzunehmen, andere Laute „ü – o – u“ von dunkleren Farben sind nun registriert, – leiser, intimer. – Und warum ein „alter“ Tibetteppich? So alt halt, wie junge Verliebtheit sich immer wieder neu erfindet:

maschentausendabertausendhimmellangundbuntgeknüpftverwirkt.

Karl Bellenberg, aus Was tun Sie da in… Wien?. 10. Almanach der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft. Herausgegeben von Hajo Jahn, Peter Hammer Verlag, 2013

 

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