Karl Dedecius (Hrsg.): Ein Jahrhundert geht zu Ende

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Dedecius (Hrsg.): Ein Jahrhundert geht zu Ende

Dedecius (Hrsg.)-Ein Jahrhundert geht zu Ende

EIN JAHRHUNDERT GEHT ZU ENDE

Es hatte besser sein sollen als die vergangnen,
unser XX. Jahrhundert.
Ihm bleibt keine Zeit mehr, das zu beweisen,
gezählt sind die Jahre,
schwankend der Schritt,
und kurz der Atem.

Zu viel ist geschehn,
was nicht hätte geschehen sollen,
und das, was hat kommen sollen,
kam leider nicht.

Es ging auf den Frühling zu, hieß es,
und, unter andrem, aufs Glück.

Die Angst hatte Berge und Täler verlassen sollen.
Die Wahrheit hat schneller am Ziel
sein sollen als alle Lügen.

Einige Unglücksfälle
sollten nicht mehr passieren,
zum Beispiel Krieg,
Hunger, und so.

Die Wehrlosigkeit der Wehrlosen,
Vertrauen, und so weiter,
sollten Achtung genießen.

Wer an der Welt seine Freude hat haben wollen,
steht vor der Aufgabe,
die nicht zu erfüllen ist.

Die Dummheit ist gar nicht lachhaft,
die Klugheit ist gar nicht lustig.
Die Hoffnung
ist nicht mehr das kleine Mädchen,
et cetera, cetera, leider.

Gott soll endlich glauben dürfen
an einen Menschen, der gut ist und stark,
aber der Gute und Starke
sind immer noch zweierlei Menschen.

Wie leben? – fragte im Brief
mich jemand, den ich dasselbe
hab fragen wollen.

Weiter und so wie immer,
wie oben zu sehn, es gibt keine Fragen,
die dringlicher wären als die naiven.

Wisława Szymborska

 

 

 

Einleitung

Noch fällt es schwer, die gegenwärtige polnische Lyrik zeitkritisch endgültig, eindeutig zu bestimmen. Sicher ist nur, daß die Jahre 1968 und 1983 die Grenze einer sich abzeichnenden „Periode“ darstellen. Sie reicht von der Studentenrevolte, über die Arbeiterunruhen, die Bürgerrechtsaktionen und die Reformen der spektakulären Gewerkschaft Solidarität, bis zum „Kriegsrecht“ und zu dessen formaler Aufhebung im Jahre 1983.
Lyrik, die polnische zumal, reagiert auf gesellschaftliche Vorgänge spontan, ohne Aufschub und ohne Kalkül – was ihr einen spezifischen Informationswert verleiht; als Psychogramm, als wahrheitsintensiver Bericht zur „inneren Lage der Nation“, als öffentliche Beichte der Einzelgänger von unterschiedlichem Charakter und Temperament. Es versteht sich von selbst, daß die Autoren ihre Gedanken und Emotionen auf eigenen Wunsch und auf eigenes Risiko, das oft nicht klein ist, publizieren. Alle Autoren leben in Polen, nur wenige halten sich vorübergehend im Ausland auf.
Das Gedicht, als Kunstform für das Bekenntnis besonders sensibler Zeitgenossen, ist eine unverzichtbare Ergänzung anderer Informationen, auch im kulturhistorischen Kontext.
Die vorliegende Auswahl umfaßt 97 Gedichte von 29 Autoren, die hauptsächlich den Jahrgängen 1945 bis 1954 angehören; einige repräsentieren die frühere Generation, zwecks kontrapunktischer Ergänzung des Gesamtbilds.
Der Auswahl lag eine „demoskopische“ Absicht zugrunde. Bezweckt wurde eine Aussage von größerer Breiten- und Tiefenwirkung. Deshalb sind große und kleinere Bucherscheinungen und Zeitschriften der letzten Jahre gesichtet worden, offizielle und inoffizielle, im Lande in Staatsverlagen erschienene wie auch solche, die durch Privatinitiative, zum Teil in Polen, zum Teil außerhalb Polens, vertrieben wurden; allerdings unter dem Namen des Autors und mit dessen Einverständnis. Anonyme Publikationen und nicht primär dichterische Texte blieben unberücksichtigt.
Trotz des vorgegebenen Rahmens und Zeitbezugs variieren die Gedichte thematisch und formal erheblich, entsprechend der weltanschaulichen oder ästhetischen Haltung ihrer Autoren. Die Transparenz der Texte hängt auch nicht zuletzt vom sozialen Status, Beruf oder geographischen Wirkungskreis der Verfasser ab: Metropole oder Provinz, Stadt oder Land, angestellt oder frei, gebunden oder ungebunden. Das aber wäre schon Stoff für eine besondere Studie.

Karl Dedecius, Vorwort

 

Nachwort

Wozu Poesie gut ist, werden wir niemals mit ganzer Sicherheit wissen. Natürlich ist sie zweckfrei, ein bunter Vogel (der gern gefallen möchte). Doch manchmal verwandelt sich dieser Vogel in eine Brieftaube, die Nachrichten, Botschaften, Vermächtnisse befördert. Das ist vor allem in Ländern so, in denen die Post – die monopolistische, offizielle, moderne – fast nicht funktioniert. Unter „Post“ verstehe ich die Systeme der Masseninformation, einschließlich Zeitungen, Fernsehen und Schulbüchern, das gesamte, vielmehr das erlaubte „Wissen“, das der Gesellschaft vom Kaiser, von der Regierung oder vom Politbüro zugestanden wird. Östlich der Elbe – auch große Flüsse lassen wir an unseren politischen Auseinandersetzungen teilhaben – funktioniert diese Post fatal, sie zensiert und sie verliert die Briefschaften, sie verbreitet peinliche Lügen.
Das ganze System der Institutionen, die berufen sind, zu informieren oder zu belehren, ist von Falschheit durchsetzt. Das erschwert allen Bürgern der Länder Osteuropas das Leben ungemein. Für die Dichtung ist diese Situation eine Herausforderung, eine Bedrohung und eine Chance. Sie hört dadurch auf, ein Randgebiet des nationalen Schrifttums zu sein. Sie bleibt dieses Randgebiet im quantitativen Sinne, doch ihre Botschaft bedeutet möglicherweise mehr als ganze Tonnen verlogener Gazetten. In den ersten Wochen und Monaten nach der Einführung des Kriegsrechts in Polen las man Gedichte mit Fieberflecken auf den Wangen, so wie woanders vielleicht die Kursberichte der Börse. Der Leser suchte nach Gedichten wie ein Verdurstender nach einer Quelle in der Wüste.
Darin steckt allerdings auch eine Gefahr, wer das öffentliche Leben ständiger Zensur unterwirft, schafft unwillkürlich einen Zustand der allgemeinen Heimlichkeit. Diese Heimlichkeit, die die historischen und die politischen Informationen einbezieht, wächst mit den Jahren, schwillt an und schmerzt. Zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache entsteht eine große Differenz. In den Häusern wird offen gesprochen, doch die Domäne der Kultur ist das geschriebene Wort; deshalb fühlt sich die Wahrheit unwohl, wenn ihr nur das gesprochene Wort zugestanden wird. Diese Differenz wird zur Spannung und immer unerträglicher; zum Volksgeheimnis gewordene Heimlichkeiten verlangen danach, daß man sie ausspricht, aufschreibt.
Ich könnte mir gut einen Historiker vorstellen, der die Geschichte der „Solidarität“ ausschließlich aufgrund der Beobachtung schreibt, wie sich die Heimlichkeiten bewegen oder behaupten – wie ein Röntgenologe. Die „Solidarität“ hat diese Heimlichkeiten ausgesprochen, das Geheimnis gelüftet. Um so mehr die Schreibenden, die Journalisten, Wissenschaftler, Humanisten, Prosaiker, Dichter, die Diener dieses Geheimnisses. Sie werden von Gewissensbissen gequält, wenn sie es nicht sagen. Es ist kein Zufall, daß die Journalisten der regierungstreuen Meinungsträger – ich habe viele Jahre lang beobachtet, wie sie die Abende in ihren Klubs und Restaurants verbringen – so viel Wodka trinken. Sie wollen vergessen, daß sie die Wahrheit verraten.
Und die Dichter? Der Umgang mit dem Geheimnis ist ihre intime Berufung. In den Ländern, die keine Zensur, kein von ihr geschaffenes Bewußtsein belasten, geht der Dichter mit anderen Geheimnissen um. Er ist sich selbst ein Geheimnis. Er versucht, sein eigenes Schicksal zu enträtseln. Er beobachtet den Flug der Vögel, entziffert Zeichen, die überall verborgen sind: Sterne, Säulen alter Tempel, das zitternde Laub der Pappel. Sein Geheimnis ist die Bedeutung des Lebens, der Sinn des Todes. Auch diese Geheimnisse teilt er mit den anderen, mit der gesamten Gemeinschaft. Aber wir wissen, wie leichtsinnig Gemeinschaften sind: sie ziehen das Tanzvergnügen vor, sie ziehen es sogar vor, zu arbeiten, anstatt die über Himmel und Erde verstreuten Zeichen zu deuten.
Die Heimlichkeiten in den totalitären Staaten binden den Dichter enger an die Gemeinschaft, weil die Vergewaltigung der Wahrheit hier so offen ist. Der Dichter, den es nach Umgang mit anderen, mit Nicht-Dichtern verlangt, beginnt zu begreifen, wie groß – jedoch nicht leicht – die Chance ist, die ihm der Umstand der offenen Wahrheitsunterschlagung bietet. Er kann wieder Verbündeter und Vertrauter seines Lesers werden. Er kann sich, vielleicht, in Gefahr begeben, sich Verfolgungen aussetzen, doch er entgeht einem viel schlimmeren Schicksal, dem jener Poeten, die irgendwo in Holland oder Arizona leben und ihre Gedichte in Luxusausgaben, in Auflagen von zweihundert Exemplaren publizieren. Doch ich eile dem Lauf der Geschichte voraus. Ich wollte soeben auf die Gefahr eingehen, die das öffentliche Geheimnis für den Dichter darstellt – sie kann, ganz einfach, ihm das viel ursprünglichere Geheimnis, das Geheimnis der Steine, die am Strand liegen; das Geheimnis einer Augustnacht verstellen –, dabei hätte ich erst sagen müssen, wie es zu der Enthüllung des Volksgeheimnisses, des gesellschaftlichen Unterbewußtseins in der Poesie gekommen ist.
Diese Erzählung könnte an einem beliebigen Punkt beginnen. Im Jahre 1945, oder 1956, oder auch 1968. Ich beginne mit dem Jahr 1968. Nach zwölf Jahren eines etwas trügerischen, zwischen zwei Parteien, Władysław Gomulka und der polnischen Gesellschaft, geschlossenen Waffenstillstands hatte der März 1968 zwei sehr ernste politische und kulturpolitische Widersprüche aus der Verborgenheit geholt. Die den Polen durch Gomulka zugesagte Waffenruhe erlaubte es ihnen zwar, auf eine Art zu leben, die ihren Bedürfnissen und ihrer Tradition entgegenkam, mehr als dies in den stalinistischen Zeiten möglich gewesen wäre; aber sie war dennoch mangelhaft und ließ ein Gefühl des Defizits, von der Ökonomie bis zur Literatur, zurück.
Die in Polen berühmte und bereits historische Tagung der Warschauer Sektion des Polnischen Schriftstellerverbandes (der im Sommer 1983 aufgelöst wurde) zeigte, daß es einige Schriftsteller gab, die mutig und hellsichtig waren, fähig, die Regierungspolitik intelligent zu kritisieren. Doch fände man in den damaligen Buchveröffentlichungen kein künstlerisches Äquivalent, nicht in der Prosa und nicht in der Poesie, für diese Art von kritischem und zugleich intelligentem Vorgehen. Es war ein Problem der Sprache, des Ausdrucks. Zorn und Enttäuschung machten sich Luft in den Reden, also in der publizistischen, der rhetorischen und zugleich unmittelbaren Sprache. Sie hatten keine Entsprechung in der Sprache der Kunst.
So dachten wir wenigstens, wir, das heißt meine Generation, Dichter, Kritiker, die etwa um 1945 geboren sind und die im Jahre 1968 ihren Kopf neugierig über den Lattenzaun streckten, der die Vorschule vom reifen Leben trennte. Im Augenblick, da ich dies schreibe, im Dezember 1983, bin ich mir der Diagnose von damals gar nicht mehr sicher. Damals gab es die elegante und ironische Sprache von Zbigniew Herbert, von Wisława Szymborska, von Sławomir Mrozek; diese Schriftsteller betrachteten den Kommunismus so, wie die letzten Römer die Barbaren betrachtet haben müssen, die Leser von Catull und von Cicero (so war es, obwohl Szymborska wie Mrozek vorübergehend, kurz, auch in der Sprache der Barbaren geschrieben haben). Wir dagegen – meine Freunde und ich – waren inzwischen hinreichend barbarisiert und verlangten nach Wörtlichkeit. Wir wollten die Dinge beim Namen nennen. Wenn die Bestie Klauen hat, muß man es sagen. Wenn sie Feuer speit, warum nicht daran erinnern? (Im Grunde war die Bestie grau und alltäglich, wie herrenlose Hunde sind.)
Wir wollten benennen, katalogisieren. Der Kommunismus zerstörte die Tradition, aber er errichtete an deren Stelle etwas anderes, eine häßliche, provisorische Welt, krumme Behausungen, mißgestaltete Siedlungen; er zeugte auch einen eigenen Menschentypus, den Polit- und Kulturfunktionär, der untersetzt, mit dichtem hellem Haar bewachsen war und der sich einer neuen Sprache bediente, ohne je etwas auf eigene Faust entscheiden zu müssen. Und eben diesen vorübergehenden Kosmos, den Weltentwurf aus dem Schmierheft, wollten wir beschreiben, katalogisieren, verewigen. Ältere Schriftsteller betrachteten uns mit Entsetzen. Wie denn, schienen sie zu fragen, wollt ihr aus der Literatur ein Lehrbuch der Pathologie machen? Genügen die eleganten Parabeln nicht?
Nein, antworteten wir mit Trotz; wir waren als Barbaren höllisch ehrgeizig und witterten bei dieser Gelegenheit die Chance, in die Literatur einzugehen (und damit aufzuhören, Barbaren zu sein).
Uns schien, wir würden diese neue und schiefe Welt besser verstehen. Wir betrachteten sie, als wären wir kurzsichtig, aus geringer Distanz. Wir selbst waren ihre Produkte – zum Teil zumindest. Aber zugleich, da wir uns selbst und das, was wir sagten – wie Barbaren eben –, ernst nahmen, verwandelten wir uns von Naturalisten und Naturkundlern in Moralisten. Uns gefiel diese Welt nicht, unsere Absicht, sie zu katalogisieren, mußte unsere Unlustgefühle bekämpfen. Wir waren nämlich Barbaren, die die Summa des heiligen Thomas bereits gelesen hatten.
Das Gesetz von Gresham-Kopernikus besagt, daß die bessere Münze von der schlechteren Münze verdrängt wird. Unsere wörtliche, naturalistisch-ethische Sprache war als Münze schlechter als jene parabolische, elegante, Sprache der Dichter der etwas älteren Generation. Wir wußten noch nichts von der Macht, die uns beherrschte und die uns fremd war, von der Macht der Geschichte; wir wußten nicht, daß wir benutzt worden sind von jenem öffentlichen, allgemeinen politischen Geheimnis, welches das Schweigen satt hatte; es strebte die Wörtlichkeit an, wie wir. Wir vernichteten die Poesie, denn mit dem Streben nach Wörtlichkeit war zwar die Wahrheit, aber nicht der Natur gedient. Zum Glück zögerten wir oft, und einige von uns – die sogenannten Linguisten – hatten den ausgezeichneten Einfall, ihre Wörtlichkeit durch das Sprachspiel zu verdecken und zu mildern; deshalb folgte jedem Schritt in Richtung der Wörtlichkeit auch ein Schritt zurück in Richtung des Rätsels, das heißt der Poesie.
Nach einer gewissen Zeit stellte sich heraus, daß die Kulturinstitutionen, das heißt Zeitschriften und Verlage aus der Epoche des Waffenstillstandes von Gomulka bereit waren, die Parabelsprache anzunehmen, die nunmehr wörtliche Sprache aber nicht tolerierten. Die die es die ganze Zeit schon gegeben hatte und von der die Literaten immerzu redeten, erwies sich plötzlich als notwendig. Früher überwachte sie die Entwicklung der Literatur aus einer gewissen Distanz: Sie hemmte das Aufkommen der unliebsamen Bücher derart wirkungsvoll, als hätte sie Konsuln und Botschafter in der Seele eines jeden der Autoren. Nun aber begannen die inzwischen etwas verrosteten Scheren sich zu regen. Die Grenze der Wörtlichkeit hatte sich verschoben; die Zensur wollte das nicht akzeptieren. Das war zum Teil unser, der Barbaren Verdienst, die übrigens rasch die Form beherrschen und den Lohn des literarischen Übermuts gewinnen lernten.
Man sollte die Versicherungen der jungen Poeten, es ginge ihnen um ethische Werte, um die moralisch verstandene Wahrheit, um die Dinge, die würdig und richtig sind, nicht allzu ernst nehmen. Es war auch nicht so, daß sie sich vom zynischen Verlangen nach „Karriere“ und nach einem „Namen“ leiten ließen. Keinesfalls. Hätte aber die Dichter die Wahrheit als ethischer Wert nicht interessiert, setzten nicht glückliche Umstände diese Wahrheit diesmal mit der ästhetisch verstandenen Wahrheit gleich, wäre es nicht zur Entdeckung einer neuen Schicht der Wirklichkeit gekommen, die von den älteren Dichtern noch nicht festgetreten war. So viele interessante Dinge – wenn auch häßliche – erschlossen sich dem gierigen Auge der neuen Generation! Und die Generation erklärte, daß sie nach Güte und Wahrheit verlange – denn danach verlangte sie auch –, und sie erlebte dabei den Rausch ihrer Entdeckung. Das klingt insofern paradox, als sich die Entdeckungen der „Wirklichkeit“ oder des „Leben“ im zwanzigsten Jahrhundert meist im Aufruhr gegen die „Werte“ vollzogen haben. Dem kam nun der Totalitarismus entgegen! Indem er die ehrwürdigen, braven, längst von der Kunst verspotteten Werte verbot, machte er diese wieder attraktiv, gab er sie gewissermaßen der Wirklichkeit zurück, so daß die junge Generation ihnen mit Bewunderung und fast ohne Heuchelei huldigen konnte.
Doch zurück zu den Kulturinstitutionen: Mitte der siebziger Jahre konnte jeder Scharfsinnige die seltsame Parallelität zwischen dem wachsenden und immer rationaler formulierten politischen Protest und dem Streben der Literatur nach Wörtlichkeit feststellen. Diese Parallelität bewirkte, daß, am Anfang sehr langsam und ziemlich schüchtern, neue Publikationsmöglichkeiten, unabhängig von offiziellen Umlauf verfahren, frei von Zensur, aufkommen konnten. Zuerst entstand Zapis (Notiz), die literarisch-politische Zeitschrift, danach Puls, auch eine Literaturzeitschrift, zugleich wurde der Untergrundbuchverlag Nowa ins Leben gerufen. Es war höchste Zeit, denn die immer dreistere, immer wörtlichere Literatur konnte nicht mehr im Raster des früheren „gomulkischen“ Systems bestehen. Das betraf vor allem die Poesie, die in Polen sowohl empfindsamer als auch beharrlicher ist als die Prosa.
Gomulkas Waffenstillstand wurde aufgekündigt, gebrochen; gebrochen übrigens zuerst von der Regierung. Jemand, der in hundert Jahren eine Dissertation über die polnische Literatur der siebziger Jahre schreiben wird, wird feststellen, daß sich in dieser Zeit das Bild der Wirklichkeit drastisch verändert hat: die in der Literatur dargestellte Wirklichkeit wurde plötzlich grausamer. Kam etwa ein anderer, ein bösartigerer Kaiser an die Macht? Nein, es waren die Zeiten von Gierek, eines, wie wir heute wissen, eher milden Herrschers. Aber die Optik der Poesie hatte sich verändert, das Sehrohr war anders eingestellt. An die Stelle der philosophischen Gleichnisse traten epiphanische Gedichte, die streng die rauhe Welt der osteuropäischen Erfahrung zu spiegeln begannen. Selbstverständlich gab es Stimmen, die meinten: diese Dichter übertreiben, so schlimm, so schwer, so grausam ist es nicht. Tatsächlich, so schlimm war es nicht. Aber die Gedichte waren keine Photographien, obwohl ihnen die naturalistisch-symbolische Komponente nicht fehlte. Sie drangen vor in eine tiefere Schicht, die unter der Haut der „kleinen Stabilisierung“ versteckt war bis zur Saat der Grausamkeit, die jedes totalitäre System in sich trägt, auch wenn es eben noch die Flitterwochen der Milde erlebt. Deshalb hat man bei der Lektüre einiger Gedichte aus den siebzig er Jahren den Eindruck, als handelten sie bereits vom Kriegszustand.
Die Solidarität – wie gesagt – offenbarte der ganzen Gesellschaft, der ganzen Welt die bislang verborgen gebliebene Heimlichkeit, die schamvolle Heimlichkeit der Zensur und der Einparteilichkeit. Sechzehn Monate legale Existenz der Solidarität waren die Schlußphase dieses „Entwicklungsprozesses“ einer Dichtung, die der bedrohlichen Wirklichkeit der osteuropäischen Zivilisation galt. Plötzlich begann diese „Post“, der normale, laute Umlauf von Informationen, ganz einfach zu funktionieren. Das Geheimnis, bis dahin ein verstecktes Quellchen, verwandelte sich in einen Wasserfall, der das Leben der ganzen Gesellschaft befruchtete.
Das Kriegsrecht veränderte alles aufs neue. Es hielt den Wasserfall an – es internierte den Wasserfall. Alles begann von vorne. Wirklich? In den ersten Monaten des Kriegsrechts waren Gedichte wieder gefragt, und sie wurden auch gelesen. Die Dichter, die mit dem ganzen Volk die Trauer der politischen Niederlage teilten, mußten zugleich die woanders unbekannte Freude empfinden, die Freude, daß sie dem Leser, Schulter an Schulter, herzlich verbunden blieben. Eine derart solidarische Kommunikation zwischen Autor und Leser gab es hier früher nicht.
Ob sich jedoch Poesie lange in einer eindeutig historischen Sphäre erhalten kann? Die Zukunft wird es zeigen. Vielleicht habe ich vorschnell von den Wandlungen der Literatur in den siebziger Jahren gesprochen; ich tat es aber aus zweierlei Gründen: erstens nahm ich selber an ihr teil und möchte sie deshalb jetzt nicht marmorisieren, zweitens wiederum – geht es doch unentwegt um die Dichtung, um die Literatur! Und wenn auch die Poesie an den folgenschweren Ereignissen und Wandlungen mit Nutzen und Frommen teilgenommen hat, bleibt ihre Existenz immer etwas zweideutig – denn, ganz nebenbei, will sie auch immer gefallen, wie eine schöne Frau, die selbst vor dem Gang auf den Friedhof längere Zeit vor dem Spiegel verweilt.
Die Dichtung, die gegen die totalitären Mißbräuche ins Feld zieht, die, wie es scheint, etwas weniger Dichtung sein will, beginnt nach einer gewissen Zeit, diesen Mangel zu korrigieren, der – im gesellschaftspolitischen Sinne – gerade ihre Nützlichkeit bestimmt hatte. Die Literatur, das ist auch die Dichtung, die Prosa und die Kritik, spielte in den Ereignissen der letzten Jahre in Polen eine wichtige Rolle, und auch die Nominalisierung, das Katalogisieren der „neuen Welt“, von der ich sprach, hat sich als notwendig erwiesen.
Wer von der Dichtung und von ihrer Verflechtung mit der Geschichte spricht, greift notwendigerweise nach dem Gemeinschaftsschlüssel, nach Verallgemeinerungen, Hypothesen und Hypostasen. Zum Glück gibt es auch einen individuellen Schlüssel, es gibt einzelne Dichter – Herbert, Woroszylski, Szymborska, Lipska, Barańczak. Krynicki, Kornhauser – Künstler, einsame Menschen, die zwar in der Gemeinschaft leben, aber alles, was sie tun, selbst verantworten, mutig und risikoreich. Und erst dort, wo sich die Abenteuer der Gesellschaft und die persönlichen Erfahrungen verbinden oder sich auch nur begegnen, entsteht und besteht Dichtung.

Adam Zagajewski, Nachwort

 

Der gegenwärtigen Lyrik

einen plausiblen zeitkritischen Rahmen zu geben, fällt noch schwer – sicher ist aber, daß in Polen die Jahre zwischen 1968 und 1983 einen solchen Rahmen exakt markieren. Er reicht von der Studentenrevolte über die Arbeiterunruhen, Bürgerrechtsaktionen, die Reformen der Gewerkschaft Solidarität bis zum „Kriegsrecht“ und dessen formaler Aufhebung im Jahre 1983. Die Lyrik reagierte auf diese Ereignisse spontan und deshalb ganz besonders zuverlässig. Als Psychogramm, als wahrheitsintensiver Bericht zur „inneren Lage der Nation“ stellt sie die notwendige Ergänzung der Flut von Leitartikeln dar, der offiziellen oder inoffiziellen politischen Schlagerparade oder Pornographie.
Die vorliegende Auswahl umfaßt Gedichte, die trotz ihres eindeutigen Bezugs in Thematik und Form entsprechend der ästhetischen und politischen Haltung der Autoren variieren. Sie wurden Publikationen entnommen, die in den letzten Jahren im Lande oder außerhalb, legal oder illegal erschienen sind. Die meisten Autoren gehören den Jahrgängen 1945–1954 an, einige repräsentieren die in den zwanziger und dreißiger Jahren Geborenen.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1984

 

 

KITSCH
Karl Dedecius zum Jubiläum

1.
Im Garten ein Café, warmer Frühling und Magnolien. Aureole
Im Laub der Platanen, Narzissen und Rosarotes; in der Aureole
Ein Gesichtchen mit blondem Haar und Schnippel von lila Kleid:
Unschuld vielleicht? Heiligkeit im Hut mit Pfauenfeder?

Gold der Trompeten und Braun der Geigen, Elfenbein der Flöten,
Der Fagotte Schwarz und Silber: all das zusammen valse triste,
Noble et sentimentale. Paris? Berlin? Champagner
Im Kübelchen, zueinander geneigte Gesichter in einem längst nicht mehr existenten

Jahr. Ein Kellner in strammer Haltung: Soldat im schwarzen Frack
Präsentiert ein Tablett mit Eiskaffee. Weidensessel.
Männer mit Spitzbärtchen. Frauen werfen die Schals
Auf die Geländer, hängen soll’n sie. Die Musik schweigt, die Aureole leuchtet.

Gelächter.

 

2.
Der Kellner hat sich gerührt, den Eiskaffee verteilt, hinkend tritt er ab.
Die Wolken spinnen eine bläuliche Hülle um die Aureole,
Und da fängt das unschuldige Gesichtchen schon zu weinen an
Und die Feder hängt schief. Jemand zahlt verschwenderisch

Und das Geld lodert. Der Kellner im roten Frack,
Der Soldat mit dem Klumpfuß eilt herbei und schluckt die klingenden Flammen.
Das Orchester wappnet sich mit Forken, Kessel mit Pech sind die Pauken,
Die Männer bereits in Jeans und schmutzigen Hemden,

Die Frauen kratzen einander den Rücken auf: dünnes Blut;
Die Männer schießen aus der Hüfte auf die Platanen und auf
Das unschuldige Gesichtchen: blond, lila und rouge
Fallen in die Kessel, wo die Musiker all das mit Forken zerdrücken.

 

3.
Die Bühne blieb, obwohl alles drumherum verwelkte,
Abfiel und laut verweste zwischen scharfen Pfiffen,
Manchmal polterte es sogar. Aber die Bühne wucherte aus,
Fäulnis griff sie nicht an, sie war aus eisernem Holz

Und Pöbel roter Kellner, ein jeder mit monetärem
Feuer im Mund und stark lahmend, trieb
Die Cafébesucher, auch die, die um sich schossen,
Auch die zerkratzten Frauen, auf die Bühne gerade.

Und als dort eben eine geknetete Menge entstanden war
Und alle Instrumente sich in bebende Kessel verwandelten,
Wo das Weinen wimmerte und die Zähne knirschten
Der Kellner, der Musikanten und Gäste, erhob sich die Bühne auf Säulen von entflammtem Salz

In die ausgefranste Wunde des Himmels.1

Witold Wirpsza
Übertragen von Elvira Grözinger

 

 

Bettina Eperspächer im Gespräch mit Karl Dedecius: „dann tragen meine gedanken früchte in deiner sprache“

Natasza Stelmaszyk im Gespräch mit Karl Dedecius: Wege zur polnischen Literatur

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Instagram + UeLEX +
DAS&DKalliope + Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumKeystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Karl Dedecius: FAZ ✝ FR ✝ NZZ ✝ BB ✝ Echo ✝
SZ ✝ Die Zeit ✝ Übersetzen ✝ Palmbaum ✝︎ Buth

 

 

Zum 100. Geburtstag des Herausgebers:

Markus Krzoska: „Es muss im Leben sterben, was Gedicht sein möchte“
dialogforum.eu, 19.5.2021

Antje Scherer: Sein Werk entstand nach Feierabend – Party für den Übersetzer Karl Dedecius in Lodz und Frankfurt (Oder)
MOZ, 19.5.2021

 

 

 

 

Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Karl Dedecius am 20.–21.5.2021 in Łódź. Panel 1: Karl Dedecius und Łódź

 

 

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