ZEIT
Zeit: etwas
das die Taschen
feucht von Blut macht.
Es regnet Leben
aus offenen Körpern.
Die Tage und
ihr stilles Geschäft
mit Menschen, die verloren
gehen.
Ein Monat malt
dem nächsten sein Bild
in den Sand,
ohne Verwandtschaft
mit dem, was kommt.
Kein schönes Wetter
verändert ein Karzinom.
Die geordneten Papiere
verbrennen Jahr um Jahr.
Seit einiger Zeit haben wir wohl schon wieder eine neue Pauschalvorstellung von modernster Lyrik: grimmig politisch hat sie zu sein, mit derben und auch etwas obszönen Griffen hat sie zuzupacken, mit Maschinengewehren und der Rassenfrage, mit Geschlechtsteilen und Guerillas hat sie zu fuchteln In diese Situation mitten hinein veröffentlicht Karl Krolow in der Bibliothek Suhrkamp Alltägliche Gedichte von einer so aufreizenden Ruhe und Gelassenheit der äußeren Szene und Form, daß den lyrischen Strategen, die die Tagespolitik am Schopfe zerren, eben dieser zu Berge stehen muß.
Krolows Gedichte aus den Jahren 1965 bis 1967 hören sich etwa so an:
GEMEINSAMER FRÜHLING
Da haben wir nun
wieder alles gemeinsam:
einen singenden Baum
mit Vögeln statt Blättern,
die Brennesselkur, den Aufguß
von Huflattich,
das gemeinsame Motiv,
die kollektive Luft.
Uns gehören
die Tauben auf dem Dach.
Die Dose Bier
schmeckt wieder im Freien.
Nun muß sich alles, alles
wenden.
Die leeren Seiten
füllen sich mit Bedeutung.
Das Schreiben über den Frühling
macht allen Spaß.
Das scheint kaum über den Gartenzaun zu schauen. Viele Gedichte bleiben im Zimmer; Claudius, Lenau, Mörike erscheinen an manchen Stellen, ein paar Mal sehen wir auf eine Art Postkarten-Meer. Aber das alles ist von einer kaum vorstellbaren Sicherheit und Nüchternheit des Tons, ist derart hellwach, ausgeschlafen und genau gesagt, daß dieser scheinbar enge Bezirk nirgendwo zum bloßen Würz- und Kräutergärtlein degeneriert, sondern in der Tat Welt repräsentiert. Interessant, sogar spannend ist, was hier mit der Natur passiert, mit der Natur, in der Krolow schon immer exzellent Bescheid wußte. Hier taucht die Weltliteratur im Garten auf, die erlesensten und entlegensten Namen und Titel werden Landschaft oder auch Interieur. Das konnte, etwa in Krolows vorausgegangenen Minuten-Aufzeichnungen, an die Grenze des Manierierten rühren, und auch hier ist vielleicht der Abschnitt „Pomologische Gedichte“ nicht völlig frei vom genüßlichen Aufstellen seltener Bildungsrequisiten. Andererseits aber – wer könnte heute noch Natur ohne Geschichte, ohne Brechung durch den Zivilisationsblick wahrnehmen. Schon das 19. Jahrhundert konnte es nicht mehr, und man braucht dabei noch nicht einmal an das so plausible marxistische Diktum von der Geschichtlichkeit der Natur zu denken, an das wohl auch Krolow nicht zuerst gedacht hat.
Das formale Understatement erlebt in diesen Krolow-Gedichten seinen Triumph. An keiner Stelle wird verbal mit den Armen gerudert oder wild mit Metaphern gestikuliert; nirgendwo brummt Krolow aus der dunklen Tiefe einer Privathöhle; nirgends orakelt er auf goldenem Dreifuß über Nebeln aus der Erdspalte, wie das mehr und mehr zur Gefahr Paul Celans zu werden scheint. „Alles möglichst einfach“, heißt es im „Alltäglichen Gedicht Nr. III“. Die ruhige Parataxe des Hauptsatzes und ein lapidar fallender Rhythmus geben den Ton an, oft in irornische, groteske Sentenzen auslaufend, vor allem in den späteren Gedichten. Es ist der quasi natürliche Ton, mit dem etwas abgeschlossen, scheinbar zu Ende und in eine Ordnung gebracht wird, eine sehr prekäre Ordnung freilich, die wenig mit zufriedener Besitz- und Kassenstandsbilanz zu tun hat. Hier will einer keine lauten Worte machen, hier bleibt einer dabei, die historischen Beunruhigungen im Privaten, das Schwanken des Zimmerbodens, das Rumoren unter den Dielen des Eigenheims in genaue Worte zu bringen. Vielleicht ist das überhaupt das Äußerste, was im Gedicht heute möglich ist – das unterirdische Beben der Geschichte im Intimen, sozusagen den welthistorischen Stand an irgendeinem banalen Mittwoch zu registrieren. In nichts anderem wollen diese Gedichte „alltäglich“ sein, und daß ihnen das fast überall gelungen ist, genau das macht sie innerhalb unserer lyrischen Szenerie so wenig alltäglich wie nur möglich.
Klaus Jeziorkowski, Hessischer Rundfunk, 29.5.1969
Karl Krolow hat in diesem Winter zwei neue Bücher veröffentlicht: je einen Band Prosa und Lyrik. Zwei Dichtarten, die sich bei ihm mit einer merkwürdigen Paradoxie immer mehr einander anzunähern scheinen: Während die Prosa lyrischer wird, unterscheiden sich die Gedichte von ihr nur noch durch die Zeilenordnung.
Krolows Alltäglichen Gedichten kommt die Aufgabe des Experiments, der Erkundung zu. Der Autor versteht sie weitgehend als „Lockerungsübung“. Da er sich wie die meisten Schriftsteller seiner Generation allmählich irritiert fühlen muß durch das grassierende Klima der kulturpolitischen Entwicklung, da er sich längst unter der Minorität der Ästheten befindet, dürfte er sein Schaffen schon durch die äußeren Umstände in Frage gestellt sehen. Alle Versuche, das politische Pflichtsoll zu erfüllen, bleiben bescheiden. Was sich als direkter Bezug zu den Herausforderungen der Gegenwart erkennen läßt, ist wie hinter vorgehaltener Hand formuliert: „Die Grabinschriften lauten / immer vorsichtiger“, heißt es wenig deutlich in einem Gedicht. Programmatisch dagegen, was Krolow in einem anderen verkündet: „Ich ziehe mich in den Schatten zurück, solange das noch möglich ist.“
Dieser Rückzug in den Schatten ist keine Flucht in die private Dunkelheit, wo alle Kühe schwarz sind, sondern die für den Dichter unerläßliche reservatio mentalis, eine Verweigerung aus Schutzbedürfnis. Denn – viele mißglückte Gedichte aus der jüngsten Zeit beweisen es – das poetische Geschäft ist auch für Krolow in den letzten Jahren gefährlicher geworden. Seine Situation als Dichter hat sich in dem Maße radikalisiert, wie sie sich als scheinbar anachronistisch erwies. Daß er noch immer Natur- und Stundengedichte schreibt, daß er Erinnerungen an Wasser und Feuer notiert, läßt sich jedoch nicht als Flucht in den Eskapismus abtun. Pan trägt bei Krolow fängst ein spiritualisiertes Gewand. Denn niemand weiß besser, daß gerade in der deutschen Dichtung zu oft „Chlorophyll zu Lodengrün bleichte“ – ein, wie er deutlich zu erkennen gibt, in der Tat wenig graziöser Befund. Krolow geht es nämlich um die Anmut als Resultat der poetischen Diskretion, die poetische Disziplin ist. Und um diese Anmut als Wappen in seinem Fahnentuch leuchten zu lassen, braucht der Dichter im Schatten das Licht: jenes Licht, dessen Erfahrung er vor allem während seiner Pariser Aufenthalte machte. Krolow kann es in den raffiniertesten Tönungen ausstreuen bis zur absoluten Künstlichkeit. In solchen Augenblicken der „Minutenaufzeichnungen“ scheint Oscar Wilde dem späten Benn die Hand zu reichen, asphodelisches Mondlicht sich mit der Bleichsüchtigkeit des Jugendstils zu einer dekorative Weltangst, zu einer morbiden Chinoiserie zu verbinden. Selten genug verströmt der Autor allerdings solch artifizielles Parfum. Grandezza als Ausdruck versagt sich, wo das Lebe: nicht zum Stilleben taugt. Dann spiegeln die Zeilen Depressionen eines älter werdenden, schlaflosen Mannes: „Kein schönes Wetter verändert ein Karzinom.“
Schreiben, so betont Krolow immer wieder, sei auf Stichworte angewiesen, deren sich die Sprache des Dichters kraft der Metapher bemächtigt: auf Stichworte, die zugleich Reizworte sind. Wer möchte sie als Schall und Rauch verleumden? Einbildungskraft also als Nervenrausch. In diesem Zusammenhang ist Krolows Auseinandersetzung mit Helmut Heißenbüttel interessant, der samt seiner Jüngerschaft bekanntlich die symbolische Redeweise des abendländischen Gedichtes als historisch erledigt abtut. Krolows Erneuerungsversuche der Tradition stützen sich in der Theorie auf Rimbauds Schwarze Kunst des Wortes, auf die halluzinatorische Magie seiner Erfahrung. So kann er allen Widersachern ins Gästebuch schreiben, daß die Sprache als bares Exerzitium für den Dichter eine utopische Taube sei. Denn wenn man, wie Heißenbüttel und die Seinen, Literatur loslöse von Genuß und Erhebung, Belehrung und Bildung, so asketisiere man sie unnötig und esoterisch, verwandle sie in ein lebensunfähiges Monstrum. Angesichts der Reißbrettvorstellung von Sprache in der Nachfolge der logistischen Philosophie beruft Krolow sich auf die Reizwirkungen der intellektuellen Sinnlichkeit. Nochmals also: Einbildungskraft als Nervenrausch, wie sie sich in einer einzigen magischen Zeile unvergeßlich zeigen kann. „Jedes Gelb kennt die Geschichte einer Zitrone“, wäre dafür ein Beispiel aus früherer Zeit. Ein anres aus der jüngsten: „Ein Augenblick vergeht als weiße Wimper.“
(…)
Gottfried Just, Süddeutsche Zeitung, 8.3.1969
„Manchmal ist es / gar nicht so schwer, / die Luft aufzuhalten…“, so beginnt ein Gedicht von Karl Krolow, das in der nächsten Strophe – wiederum die Luft meinend – weitergeht:
Ich stecke sie mir
bequem in die Taschen…
Schliesslich kulminiert das Poem in der Quintessenz:
Meine Gefangene
trägt mich sanft
nach oben, überlässt mir
einen Sitz auf der Wetterfahne…
Dieser Text aus dem Jahre 1967 trägt den Titel „Nicht so schwer“. Er ist typisch für die Poesie Karl Krolows, die nach dem Band Fremde Körper, in dem das Irreale bisweilen noch von bedrohlicher Dinglichkeit war, immer schwebender, immer gasförmiger wurde.
Lyrik war für Krolow lange ein Instrument zum Schaffen einer Ueber- und Gegenwelt. Es war eine Wolke oder ein orientalischer Teppich, auf dem man davonsegelte – in eine Region, die wohl noch die bukolischen und nautischen Elemente aus Krolows früherer Dichtung enthielt, die diese Ingredienzen aber entstofflichte und entrückte. In Krolows neuen Versen nun, die bezeichnenderweise den Titel Alltägliche Gedichte tragen, ist zwar immer noch viel Liquides, Luftgeisthaftes:
Man schluckt ein Trinkei,
schnappt Luft.
Geradeaus geht man
auf eine Wolke zu.
Die Spieldose im Kopf summt.
Das lässt sich hören…
Oder:
Ich trage einen Stuhl
vor die Tür.
Das schöne Wetter kommt
an meinen Tisch,
wird zum Geist in der Flasche,
findet alles gerecht,
nimmt mir das Mundtuch ab,
schickt das nötige Licht
über Suppe und Fisch…
Im ganzen gesehen hat sich vor den Zauber und die entrückende Utopie jedoch das Wissen um die Determination geschoben. Die Gedichte – anders gesagt – sind heute weniger leicht, sie enthalten und transportieren mehr Existenzbewusstsein:
Das Mittagslicht zerbricht schon in der Ferne.
Oder:
Das Alter stellt die Lampe auf den Tisch.
Ein ganzes Gedicht ist dem „Aelterwerden“ gewidmet. Und auch die Banalität, das Fade, das ermüdend Chronologische und Kausale kommt (etwa in „Alltägliches Gedicht III“) mit einer Ironie zum Ausdruck, die wohl Schwermut, ja Verzweiflung verdeckt:
… Selbstverständlich
fliesst der vorhandene Fluss
geradeaus, vorbei am Fenster,
das man morgens aufstösst,
Luft bekommt so gut…
Hier ist plötzlich eine für Krolow neue Stimm- und Bewusstseinslage: etwas, das es (auf andere Weise) seit Zu den Akten auch bei Günter Eich gibt und das, bei beiden, an gewisse elegisch-saloppe Stücke Bennscher Alterslyrik denken lässt. Der Akzent liegt freilich nicht auf Benn, sondern auf – Alterslyrik. Denn: jeder Dichter von Bedeutung hat seine individuelle Gefühls-, Gedanken- und Sprachwelt, und was immer er an Erfahrung und Erlebnis, an archetypischer und historischer Sicht dazugewinnt – er wird das Neue stets integrieren und auf seine Art artikulieren:
FAMILIENTISCH
Der Familientisch verschafft
die Illusion von Familie.
Man sieht an ihm
überall, leere Plätze.
Vater und Mutter sind
hinzuzudenken
bei rostiger Gabel, dreizinkig,
einer zerstossenen Tasse
und behenden Rotweinflecken,
die sich jeden Abend
vergrößern.
Eine Hintertür steht offen.
Jemand schleicht sich hinaus.
Ein Gedicht wie dieses ist eine bittere Idylle. Es zeigt zugleich die Möglichkeit und die Absenz von Glück und Geborgenheit. Die sinnlose und menschenentblösste Idylle impliziert förmlich eine Flucht, doch stellt sich, weil zu politisch-revolutionären Pathos und Dogma kein Vertrauen besteht, zugleich die fatale Frage: Flucht – wohin?
Aber wenn Krolow jetzt auch der Illusion eines arielhaften Daseins und der Possibilität luftiger Entrücktheit nur noch wenig Platz lässt („Die Landschaft ist als Ueberzeugung, / bequem zur Hand…“), er überantwortet, sich nicht oder jedenfalls nicht für die Dauer Einsichten wie:
Kein schönes Wetter
verändert ein Karzinom.
Immer wieder wird das Leben, wird sogar die sensible Aesthetisierung des Lebens gewagt, und sei es auch nur spöttisch – als existentielle Hilfskonstruktion:
Der Anzug hält, sich aufrecht
für die schöne Blume
im Knopfloch.
Oder (diese Verse aus dem Jahre 1967 stehen an finaler Stelle des Buches):
Ich bin da. Meine
rechte Hand fällt mir
nicht durch die Tasche.
Ich führe sie über Papier,
um aufzuschreiben,
dass ich lebe.
Kurt P.G. Brandt: Karl Krolow, Minuten Aufzeichnungen; Alltägliche Gedichte
Die Bücherkommentare, Heft 1, 1969
Franz Josef Görtz: Nicht alltägliche Gedichte
Aachener Nachrichten, 7.12.1968
Hans Egon Holthusen: Besessenheit durch Poesie
Die Welt der Literatur, 13.3.1969
Helmut Mader: An die eigene Grenze gestoßen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1969
Heinz Piontek: Prosa bringt der Poesie Distanz
Rheinischer Merkur, 21.3.1969
Timo Brandt: Karl Krolow 1966–1970 – ein Ausschnitt
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, 26.2.2014
KARL KROLOW
was war, was ist
es bleibt die Frist
der Abgang jetzt
was vorher war
von Leib und Haar
bleibt unverletzt
wir wissen nur
Dies Äuglein pur
der Abschied netzt
Das Tier verscheucht
die Höhle feucht
die uns entsetzt
Peter Wawerzinek
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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