Karl Krolow: Der Einfachheit halber

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Der Einfachheit halber

Krolow-Der Einfachheit halber

ES WIRD IMMER WINDIGER

Es wird immer windiger.
Das kommt nicht nur vom Luftwirbel,
den ein Hubschrauber
in Baumkronen hinterläßt.
Manches stimmt nicht mehr wie
der gleichmäßige Wind
im stinkenden Sommer.
Das ist jetzt anders. Du mußt dich
vornüber halten. Das riecht nun
nach anderem Abfall, nassem Getreide
und verbranntem Grasboden.
Das Realitätsprinzip setzt sich durch −
ein Himmel aus feinem Ruß
wird bewegt. Man atmet
nicht besser. Am Kehlkopf
spürst du den Industrieherbst
als leichten Druck.
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht.
Trakls Jahreszeit des Todestriebs
wurde von repressiver Ordnung abgelöst.

 

 

 

Beiträge zu diesem Buch:

Hans-Jürgen Heise: Einübung in größere Gelassenheit. Karl Krolow ist bei poetischer Stimme geblieben
Die Welt, 7.5.1977

Walter Helmut Fritz: Der Schrecken ist lautlos
Der Tagesspiegel, 17.7.1977

Rolf Michaelis: Eine Art Leben
Die Zeit, 22.7.1977

Harald Hartung: Werther ist weit, und dennoch ist der Himmel blau
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.1977

 

Menschen, die mir wichtig waren, die es noch heute sind

Vera B. Profit: „Halten Sie sich für einen guten Freund?“

Karl Krolow: Wie meinen Sie das? Ob ich ein…? „Halten Sie sich für einen guten Freund?“ Das sind wieder die Frisch Fragen.
Ja, ja. Ich habe in meinem Leben im Grunde gar nicht viele Menschen gehabt… Was heißt viele? Es sind an den Fingern zweier Hände allenfalls abzuzählen, die ich Freund nennen könnte oder die mich Freund genannt haben. Sie alle oder fast alle sind tot. Es ist nicht einfach, daß sie nicht mehr da sind. Man ist selbst irgendwie eingeschränkter oder so. Es ist, ich würde sagen, eine gewisse… ich würde Anhänglichkeit sagen. Das ist mir neutraler und nicht ganz so stark, nicht ganz so… Freundschaft hat wie Schönheit für mich ein gewisses Pathos. Sie wissen ja oder haben gemerkt, daß ich ohnehin – wahrscheinlich eben auch durch meine norddeutsche Herkunft mitbedingt – eine gewisse Distanz ganz gerne habe. Was nicht ausschließt, daß man mit Menschen umgeht: sehr gut, sehr intim, sehr spontan, sehr anhänglich, sehr treu. Wenn man das Freundschaft nennen will, so habe ich das vor allen Dingen in jüngeren Jahren eben erlebt, als einfach das Leben oder der Tod noch nicht eingegriffen hatte. Damals war das wohl der Fall, daß ich… es waren Freunde, Helfer. Heute gibt es den Typ, den man im Englischen oder im englischen Bereich Fans nennt. Sehen Sie, das ist wieder etwas anderes. Mit denen habe ich etwas viel, manchmal zu tun, auf verschiedene Weise, auf verschiedene Wünsche eingehend. Die Post, die ich bekomme, ist davon, ist damit gesegnet, muß ich sagen. Ohne daß das nun gleich eine ganz große Sache ist. Das wiederum nicht. Aber es wird Leute geben, es gibt Leute, die gewisse Dinge von mir mögen und gewisse Dinge besitzen möchten: sei es eine Signatur, sei es auch ein Brief, sei es ein Besuch, sei es… Ja, es gibt keinen Unterschied. Dennoch ist es ein relativ größerer und anonymerer Kreis, als dieser ganz bestimmte Mann, diese ganz bestimmte Frau, die ich heute als Freund oder Freundin bezeichnen würde. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausgedrückt habe. Es ist wirklich schwer, darauf zu antworten. Man merkt manchmal gar nicht, daß man mit dem anderen so sehr gut umgeht. Dies finde ich ein gutes Zeichen für Freundschaft. So würde ich es sagen. Sie ist manchmal unmerklich. Aber sie ist da. Sie verfolgt nicht durch besondere überraschende Wünsche, sondern hat auch etwas Selbstverständliches im Umgang, im Aneinander-gewöhnt-Sein, im Einander-brauchen auf eine empfindliche Weise. Ich meine nicht einfach Hilfsbedürftigkeit des einen oder des anderen. Dies überhaupt nicht. Sondern brauchen, wie man nicht nur Menschen nötig hat und mehr als dies eben – das wollte ich damit sagen – sondern eben auch Tiere oder Pflanzen oder Gegenstände. Man glaubt, daß sie – ob man wohl damit recht hat? – für einen, für mich ein für allemal notwendig und unabdingbar geworden sind, und ich mir nicht vorstellen kann, sie nicht zu benützen, sie nicht zu haben, sie nicht zu brauchen, sie nicht um mich zu haben auf verschiedene Weise, sei es ein Brief, sei es im beruflichen Umgang. Es hängt natürlich mit dem Beruf zusammen. Es liegt mir nah, Freunde zu haben, gehabt zu haben, die Redakteure waren, die Kollegen waren. Es gibt ein überindividuelles Verhalten, das mit Egoismus, künstlerischem Egoismus zusammenhängt, und es nicht leicht macht Treue, unmerkliche Verbindungen zu bekommen oder zu halten, das würde ich sagen. Es ist hin, wenn auch nur eine Spur aufkommt, von… ach, wie soll ich sagen… sich messen, der eine am anderen, dann ist das weg. Dies alles. Ich meine Rückhaltlosigkeit, wissen Sie, dies ist schon höher als Freundschaft fast. Aber die Rückhaltlosigkeit gehört dazu. Und sie würde ich anstelle von Freundschaft gelten lassen. Freundschaft ist zugleich zu schön und zugleich zu wenig. Ich meine, die Rückhaltlosigkeit, die bereit ist sehr viel eben herzugeben. Sich hingeben auch, auf eine bestimmte Weise, einem Mann, einer Frau, einem Älteren, einem Jüngeren. Dies spielt keine Rolle. Das hat kein Alter. Die Rückhaltlosigkeit hat kein Alter und ist sicher nur so auch begreiflich. Ich bin durch meinen Beruf ja mit sehr vielen Menschen zusammengekommen, und das macht das Freundschaftsfinden oder das rückhaltlose Verhalten nicht leichter. Aber nein. Rückhaltlosigkeit. Ich bleibe dabei. Ich sage nicht leicht Hingabe, aber dies wäre es wohl. Dies Verhältnis ist natürlich schwierig. Und dies zu bekommen ebenso. Aber wenn es erreicht wird; ist es schon ein anderes Wort für Glück.

Profit: „Halten Sie die Dauer einer Freundschaft… für ein Wertmaß der Freundschaft?“

Krolow: Ich glaube schon, daß das Ein-für-allemal dabei eine Rolle spielt. Ob es, um wieder vom Glück zu sprechen, glückt, auch das weiß ja niemand. Und niemand nimmt es sich, Gott sei Dank, vor. So etwas, das wäre einfach töricht, würde ich sagen, so etwas zu bedenken. Aber Schwankungen wohl, aber Zähigkeit doch, Zähigkeit der Beziehung, also Dauer. So oder so. Mit Krisen durchaus, mit manchem Einschränkenden, als Phase, aber die Dauer ist beharrlicher. Ich denke bei den wenigen, letzten Endes, wenigen menschlichen Beziehungen, wo man das Wort Freundschaft, oder gerade will ich sagen, Rückhaltlosigkeit und Hingabe, anwenden kann, ist das dazugehörig.

Profit: „Wenn eine langjährige Freundschaft sich verflüchtigt,… bedauern Sie dann, daß Freundschaft einmal bestanden hat?“

Krolow: Es kommt darauf an, wie sie sich verflüchtigt. Nur ein Satz. Ich meine, Schaden nehmen so oder so oder so, das ist wohl immer auf der Lauer, aber die Umstände sind schon zu bedenken. Wozu brauchen Sie das? Das würde mich (interessieren). Das interessiert mich sehr.

Profit: Sie meinen das Thema Freundschaft?

Krolow: Nein, überhaupt. Diese Fragen.

Profit: Warum ich sie Ihnen stelle?

Krolow: Ja.

Profit: Ich glaube, man lernt jemanden kennen, indem man

Krolow: Ah so! So ist das. Ja, ja, ja, ja, ich verstehe schon. Ein Verhör.

Profit: Ein Verhör hätte ich das nicht gerade genannt. „Halten Sie die Natur für einen Freund?“

Krolow: Sie kann eine Überwältigung sein oder eine Attrappe. Dazwischen gibt es nichts.

Profit: „Gibt es Freundschaft ohne Affinität im Humor?“

Krolow: Au! Bei Freundschaft ist alles drin: der Humor, das Leichte, das Miteinander-vergnügt-sein, das Einander-auch-in-der-Andeutung, beim Satzanfang – verstehen. Wissen Sie, Freundschaft, um das Wort jetzt wirklich anzuwenden, kann doch so sein, daß der eine den Satz beginnt und der andere endet ihn. So ist das. Ich wüßte keinen besseren Vergleich oder kein besseres Bild. So was gibt es. Zum Beispiel unter Eheleuten, aber auch unter durchaus nicht ehelich Verbundenen, zwischen Mann und Mann, zwischen Frau und Frau, mag sein. Ich kann ja nur von dem reden, was ich überhaupt nur halbwegs überschaue. Halbwegs, sage ich, denn es sind ja schon etwas heikle Fragen, auf die man nicht immer… Sie haben ja vorhin auch gesagt, sie müssen nicht immer beantwortet sein.

Profit: Eben.

Krolow: So ist es. Aber ich beantworte sie im Grunde ganz gerne, auch wenn es schwierig ist, wenn es Mühe macht, (wenn es) auch natürlich zeigt, was da spielt oder nicht spielt.

Profit: „Was halten Sie ferner für unerläßlich, damit Sie eine Beziehung zwischen zwei Personen nicht bloß als Interessen-Gemeinschaft, sondern als Freundschaft empfinden.“ Erstens: „Wohlgefallen am andern Gesicht“ ja oder nein?

Krolow: Gewiß, gewiß. Auch dies gehört dazu. Gesicht nicht nur, sondern am gesamten Verhalten, an der Gestik, an Bewegungen, an Winzigkeiten, am Mienenspiel sowohl wie Schnelligkeit oder Langsamkeit oder… Beides ist unter Umständen ziemlich unerträglich. Aber es kommt darauf an. Es kommt darauf an. Sicher spielt… Aber das schönste Gesicht, was nutzt es, wenn es nichts als das schönste Gesicht ist, hat man gesehen. Außerdem das nächste schönste Gesicht wird nicht auf sich warten lassen.

Profit: Zweitens: „daß man sich unter vier Augen einmal gehen lassen kann, d.h. das Vertrauen, daß nicht alles ausgeplaudert wird“?

Krolow: So ist es. Ich glaube, daß das dazugehört. Es ist unabdingbar.

Profit: Drittens: „daß einer den andern in den Zustand der Hoffnung versetzen kann nur schon dadurch, daß er da ist, daß er anruft, daß er schreibt“?

Krolow: Oh ja! Man hofft so gern. Man hofft manchmal ein bißchen zu schnell. Aber mit der Hoffnung, wie die Bibel sagt, oder ist es ein anderes Buch – die Bibel ist nicht mein Hauptbuch, das möchte ich denn doch sagen – „,Hoffnung… läßt nicht zuschanden werden…‘“ (Römer 5: 5), sagt die Bibel. Ja, sie sagt es. Das heißt Gott vertrauen oder Anderem, Höherem, Metaphysischem vertrauen. Ich setze ja auf das bescheidene Alltägliche und damit wieder auf das eher Unmerkliche, aber doch in seiner Unmerklichkeit Gewisse. Man spürt, daß dies, ja ein feeling, eine Sache ist, die schwer beschreibbar, aber beständig ist, eine beständige beinah… ja wie soll ich sagen… Begleitung des Menschenlebens, Menschenverhaltens, Menschenumgangs ist und bleibt. Es ist ein Schatz, den man da hat und den man nicht gleich als Schatz glänzen sieht oder sich hervorhebt. Es ist etwas Geheimes auch daran. Es sind viele Momente, die ich jetzt eben angesprochen habe. Ich kann nicht mehr als andeuten jetzt. Es ist mir nicht möglich… Ich will aber auch nicht willentlich das weiter so analysieren. Es würde schon ein bißchen zerstörerisch sein.

Profit: Empfinden Sie für eine Freundschaft als unerläßlich, viertens „Nachsicht“?

Krolow: Ganz sicher.

Profit: „Mut zum offenen Widerspruch aber mit Fühlern dafür, wieviel Aufrichtigkeit, der andere gerade noch verkraften kann, und also Geduld“?

Krolow: Ja, ja. Geduld ist schon eine wunderbare Sache, sagt ein Ungeduldiger.

Profit: Ich glaube, die Frage haben Sie schon beantwortet. Aber, „Ausfall von Prestige-Fragen“?

Krolow: Ja sicher. Sicher, sicher. Nein, die Konkurrenz, die Konkurrenz. Dieses (Reagieren) ohne jeden Vorbehalt gehört zur Freundschaft. So ist es. Das habe ich beantwortet.

Profit: „[D]aß man dem anderen ebenfalls Geheimnisse zubilligt, also nicht verletzt ist, wenn etwas auskommt, wovon er nie gesprochen hat“?

Krolow: Durchaus.

Profit: „[W]enn man sich zufällig trifft: Freude, obschon man eigentlich keine Zeit hat, als erster Reflex beiderseits“?

Krolow: Ja, sicher. Die Freude ist rascher als die Sprache. Wissen Sie, man merkt es schon am Atem, zum Beispiel am Telefonieren, ein freudiges Überraschtsein, daß man in diesem Augenblick von dem oder der angerufen wird. Oh! Es gibt die Achs und Ohs oder wie Sie es nennen wollen, den anderen Atem, würde ich mal sagen, ich bleibe bei ihm, schon vor dem Satz, vor dem ersten Satz. Dies ist es, auf das es für mich hörbar, spürbar ankommt. Ich denke dabei weniger an ein Zwiegespräch, weil es akustisch anders ist, und es ist ja ein akustisches Phänomen, was Sie jetzt ansprechen, oder (worauf) ich zu antworten versuche. Ich denke jetzt weniger an ein Zwiegespräch, wo man einander gegenübersitzt. Es ist ein Unterschied zwischen (einem Zwiegespräch) und der Intensität des Nur-Hörens, des Überraschtwerdens, sagen wir, oder ich sage es noch einmal, durch ein Telefonat, durch ein Telefonat, das erfreut. Es kann ganz unterschiedlich sein, es kann ein Freund oder kann auch eine Freundin oder eine freudige Mitteilung sein. Überhaupt ja das Telefon, dieses gefährliche und notwendige Vehikel, und wie soll ich es nennen, wie kaum etwas anderes fähig ist, ganz rasch, unterschiedlichste Reaktionen zu erzeugen. Ich meine eben die Reaktionen, wenn man freudig überrascht wird, daß man die Freude merkt, nur so am Aufatmen oder überraschten Atmen. Ich sage am Ah oder Oh vor dem Wort, vor dem ersten Satz, vor der ersten richtig verbalen Reaktion; das ist ein Naturlaut, würde ich sagen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen? Und wie gesagt, ich sagte den rascheren Atem, den überraschten Atem oder so. Wobei ich allerdings einschränke, daß dies eher Telefonerfahrungen als Gesprächserfahrungen sind und doch anders verlaufen, manchmal schon aus akustischen Gründen. Man muß ja nicht allein im Raum sein, es kann in einem größeren Kreis sein, man stößt plötzlich auf jemanden oder in dieser Art. Dies meine ich mit, daß es ganz anders ist, zugleich ein diffuses Geräusch in der Luft, beispielsweise von Menschenstimmen oder so etwas. Aber ich schweife jetzt ab. Ich bleibe bei dem, was ich vorher gesagt habe.

Profit: „[D]aß man für den andern hoffen kann“?

Krolow: Oh ja sicher. Eher als für sich selbst.

Profit: Warum sagen Sie, eher als für sich selbst?

Krolow: Ja, weil ich mit Skepsis behaftet bin, mit Skepsis begabt bin – wie Sie es nennen wollen −, weil andere eher für mich hoffen können oder ich für sie; das gelingt mir. Ja, das ist wirklich eine sehr schwierige Frage, muß ich schon sagen. Das ist schwierig, richtig zu beantworten. Es hängt ja auch von dem jeweiligen Sprechvermögen ab. Wie zum Beispiel ich heute diese Schwierigkeit habe. Aber es sind ein bißchen überfragte Fragen, würde ich meinen.

Profit: Wie definieren Sie eine überfragte Frage?

Krolow: Ja. Ein Zuviel-wissen-wollen. Ich will das manchmal nicht so genau wissen. Es bleibt immer noch genügend übrig an Forschung, Erfahrung und so, finde ich. Und es sind auch etwas spitzfindige Fragen. Und die sind schwer zu beantworten. Und man wird ihnen nicht gerecht; man wird der Antwort nicht froh, was auch nicht gleich sein muß. Nicht unbedingt. Das ist wohl wahr. Aber es sind… ja, so ist es. So empfinde ich’s. Also, es sind sehr… ja spitzfindige Fragen, würde ich schon sagen.

Profit: Gehören zu einer Freundschaft „Treffpunkte in der Begeisterung“?

Krolow: Oh oh, mein Gott! Wie literarisch! Treffpunkte in der Begeisterung? Übereinstimmung würde ich sagen. Übereinstimmung. Nichts als Übereinstimmung. Die gibt es. Die wird sich immer wiederholen. Sie kann jedes Mal sich auf andere Weise entzünden. Aber Übereinstimmung schon. Ja sicher. Das sind ihre Treffpunkte, das würde ich so nennen.

Profit: „Erinnerungen, die man gemeinsam hat und die wertloser wären, wenn man sie nicht gemeinsam hätte“?

Krolow: Ja, sicher. Es gibt sie. Aber… ja… sie gibt es. Wie die unangenehmen Erinnerungen, die man gemeinsam hat, füge ich hinzu.

Profit: „Dankbarkeit“?

Krolow: Mein Gott, ja! Man müßte dankbar sein.

Profit: „[D]aß der eine den andern gelegentlich im Unrecht sehen kann, aber deswegen nicht richterlich wird“?

Krolow: Ja so. Natürlich. Es wäre schrecklich, wenn es nicht so wäre. Rechthaben ist eine Scheußlichkeit.

Profit: „[D]aß man einander nicht festlegt auf Meinungen, die einmal zur Einigkeit führten, d.h. daß keiner von beiden sich ein neues Bewußtsein versagen muß aus Rücksicht“?

Krolow: Ja. Es gibt keine Ein-für-allemale.

Profit: „Wie groß kann dabei der Altersunterschied sein?“

Krolow: Beliebig. Aber ich gebe zu, daß es Generationsunterschiede und Geschlechtsunterschiede gibt. Und sie können sich auswirken, müssen es nicht. Es gibt Übereinkünfte, die alterslos sind, die meine ich jetzt vordringlich.

Profit: Fast die letzte Frisch Frage über die Freundschaft. „Sind Sie sich selber ein Freund?“

Krolow: Nicht unbedingt. In Fehleinschätzung.

Profit: In Fehleinschätzung?

Krolow: Ja, ja, ja. Würde ich schon sagen. Ich meine: sind Sie sich selber ein Freund? Es gibt, es gibt… ja zum Beispiel den Zweifel, zum Beispiel die Unsicherheit, zum Beispiel… ach! vielerlei, was diese sehr idealistische Übereinstimmung, wovon gesprochen worden ist in der Frage, trübt oder nur momentan macht. Auf Widerruf. Das ist allenfalls auf Widerruf. Auf Widerruf. Wie vieles, wie sehr vieles.

Profit: „Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?“

Krolow: Sie macht einiges schwierig und mich nicht genießbarer.

Profit: Wenn in Ihrem Innersten Chaos herrscht, wie stellen Sie das innere Gleichgewicht wieder her? Oder wie erholen Sie sich am besten?

Krolow: Soll ich sagen durch Reiztherapie? Es wäre nicht gut. Es sind diese reiztherapeutischen Überlegungen, einen Reiz durch einen Schmerz zum Beispiel auszuspielen, durch eine andere starke Einwirkung oder Reizmöglichkeit, die man ja nicht gleich zur Verfügung hat (zu ersetzen). Etwas, was zum Beispiel bei einem intensiv geführten Gespräch anfängt und beim Alkohol noch nicht endet.

Profit: Sie haben im Laufe unserer Gespräche mehrere Male Paul Celan erwähnt, und auch Paris, das Stipendium, das Sie hatten, die Monate, die Sie dort verbrachten, wo Sie wohnten. Ich habe so das Gefühl gewonnen, daß für Sie Paris eine Art Schlüsselerlebnis war.

Krolow: Ja, das kann man wohl so nennen. Es kommt hinzu, daß ich im Grunde als jemand gelte, der nicht reisefreudig ist, dem Reisen notwendig ist. Ein solches Angebot, eine solch halboffizielle Zeit, wie es mein Pariser Halbjahr war, bedeutet schon etwas, was ich nicht vergleichen kann mit etwas anderem. Insofern ist es ganz sicher ein Erlebnis, nicht das es sich literarisch auch noch als Schlüsselerlebnis ausgewirkt hat. Ich habe mich im Grunde eigentlich unabhängig davon entwickelt, von dem wie ich lebte, wo ich wohnte, meistens eben doch seßhaft, sei es in Göttingen – aber das kann ich nicht mitzählen – sei es in Hannover, sei es in Darmstadt (gewesen). Dies ist davon wenig berührt worden. Ich habe sofort geschrieben, ich habe sofort entwickelt, mich, obwohl ich in Paris eigentlich das Déjà-vu eher erlebt habe, als die Neuigkeit. Tatsache ist allein, daß die Monate, die ich dort verbracht habe – Monate, das ist auch noch keine große Zeit – sind doch zu einem Einschnitt geworden. Sie sagen Schlüsselerlebnis. Gut, ich will das gelten lassen, aber literarisch, wie gesagt, nicht. Ich habe sofort geschrieben. Ich hätte dasselbe geschrieben, bis auf einige Gedichte, die sich mit Paris beschäftigen. Natürlich. Ich weiß jetzt nicht mehr wie viele, zwei oder drei Gedichte sind es. Vom Thema her. Mit der sozusagen artifiziellen, bzw. künstlerischen, Seite meiner Entwicklung hat das wenig zu tun. Gar nichts zu tun. Ich hätte wahrscheinlich in Darmstadt ähnlich fortzuschreiben versucht; dennoch hatte es seine gewisse Wirkung gehabt, menschlich sowieso und nicht nur so. Das hat sich nicht so ausgewirkt, daß man sagen kann, „von nun an, schrieb er so oder so oder so. Anders.“ Das nicht, das nicht, trotz der Bedeutung, trotz der menschlichen, wie ja überhaupt, der Lebensbedeutung schließlich. Es ist nur kein literarischer Schlüssel, würde ich jedenfalls so sagen. Es sei denn, daß ich mich täusche, aber ich glaube nicht, daß ich das tue, indem ich die Entwicklung so (einschätze), die ich weitergenommen habe. Literarisch folgenreich war eher etwas ganz anderes. Ich muß sagen eine Operation, eben jene die ich damals vor zwölf Jahren, 1980, in Bonn hinter mich bringen mußte. Danach kam ich – als nicht mehr ein junger Mann – doch noch einmal ganz gut zu Kräften, auch zu literarischen Kräften. Meine Phantasie wurde angeregt. Die Prosa fällt in diese Zeit und einige Zeit danach, in diesen zusätzlichen Schreibbann, den ich mir geöffnet habe. Es war mir … noch einmal eine Chance, eine Lebenschance, gegeben worden, eine vitale und eine sensible. Also gerade das Jahrzehnt danach, also nach 1980 und bis zum Ende der achtziger Jahre mindestens, bin ich relativ produktiv gewesen. Das ist jetzt keine Qualitätsäußerung, sondern lediglich eine Feststellung von Produktivwerden, von Produktiv sein, was wiederum eben doch voraussetzt, was ich vorhin ein bißchen „über der Erde“ genannt habe, aufs Glück bezogen habe. Ich meine jetzt Schreibeglück.

Profit: Sie schreiben: „Glücklichsein beginnt immer / Ein wenig über der Erde.“ Was wollen Sie damit sagen?

Krolow: Was ja schon eine verdammte, sonderbare, seltene, ungewöhnliche, unalltägliche Sache ist, Glück zu haben, Glück zu bekommen, in diesen Zustand des Empfindens zu geraten. Es beginnt ein bißchen außerhalb von Alltagsverbringen, Alltagslebenverbringen. Es ist etwas Besonderes, es ist ein Dazwischengeraten, wie aus einer anderen Welt. Das Schweben über der Erde ist die Euphorie, sozusagen; es gibt die euphorische Präsenz, euphorische Phasen, die zum Beispiel günstig sind zum Gedichteschreiben oder überhaupt zum Schreiben. Schreiben beginnt, so gesehen, auch immer ein wenig über der Erde. Ich sage jetzt eben auch wieder nicht Inspiration, aber ich würde sagen, es beginnt über der Erde, wie dieses Glücklichsein. Insofern ist das Schreiben, das Schreibeglück nicht anders als dieses Glück bekommen, Euphorie bekommen, in diesen besonderen Zustand zu geraten von Fähigkeit, sensibler Fähigkeit; (es ist) ein Geschenk der Sensibilität auch, oder ein Geschenk, ja das würde ich schon sagen, der eigenen Empfindlichkeit, der eigenen, sensiblen Fähigkeiten.

Profit: Rilke schrieb einmal: „Auch zu lieben ist gut: denn Liebe ist schwer. Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.“ Was verstehen Sie darunter? Oder sehen Sie die Sache genauso oder ganz anders?

Krolow: Ich würde sagen, das hätte ich auch sagen oder schreiben und mir wünschen können. Natürlich… eine Sache mit Widerhaken und Widerrufen auch hier. Aber insgesamt ist es schon so, daß auch ich hätte ähnlich schreiben können. Ich habe es nicht getan, oder doch, auf eine ganz andere Weise, zerstreut, da und dort auftauchend, immer wieder auftauchend, nur freilich nicht so zusammengedrängt und so fast programmatisch. Das stört mich etwas an dieser Rilkeschen Äußerung. Liebesfähigkeit als Wunschprogramm und jetzt Liebesnotwendigkeit, eben als das was hier von ihm so zusammengedrängt, zusammengefaßt wurde. Das ist, wie gesagt, für mich schon ein bißchen programmatisch. Ich ziehe den Augenaufschlag dieser schon für mich etwas langen Äußerung vor. Das momentane Bescheidwissen, daß dem so ist. Nun gut, mit der Liebe ist ja Rilke seit dem Cornet aufgewachsen, Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Immerhin ist das der ganz, ganz frühe Rilke und das eine frühe Äußerung über dieses Thema, das kein Thema ist, sondern eine Fähigkeit, eine Kraft oder Unkraft, eine Unfähigkeit… ich habe eigentlich genügend gesagt. Es ist schon so. Rilke – das ist einer seiner Vorzüge, die ihm manche vorgehalten haben – ist einer, der ist empfindlich genug, ist sensibel genug, um es respektabel, beinah programmatisch noch ausdrücken zu können.

Profit: Ich glaube, Sie haben diese Frage schon beantwortet, aber, im Falle eines Falles.

Krolow: Ja.

Profit: „Lieben Sie jemanden… [u]nd woraus schließen Sie das?“

Krolow: Etwas ausreichend zu sagen, daß ich hoffe und manchmal sogar glaube, das meine – wie soll ich sagen – Liebesfähigkeit noch einigermaßen, einigermaßen gut geworden ist und daß man ja manchmal noch sich verhält, als wäre man zwanzig und dreißig in solchen Dingen und freilich erfährt, daß man deutlich älter, nämlich mehrfach älter ist. Das gehört auch dazu. Aber in einer Person – und das geht jetzt über die Frage hinaus – steckt ja zugleich eine ganze Reihe von Personen: der Zwanzigjährige, der Vierzigjährige, der Sechzigjährige, auch der vielleicht nie es erreichende Achtzig-, Neunzigjährige, das Wrack und der ganz junge, (soeben) ins Leben geratene junge Mann.

Profit: „Sind Sie sicher, daß Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?“

Krolow: Ich bin ziemlich sicher, daß das Interesse gleich null ist. Es beginnt jetzt schon immer mehr abzusinken. Ein Interesse an sehr vielem läßt nach. Es läßt sogar (nach), wie anderes auch, Gedächtnis, gut, es sind psychophysische Zusammenhänge, die hier ineinandergreifen und es dazu können kommen lassen. Aber was soll der Rest der Welt, wenn diejenigen, die mir wichtig waren, es nicht mehr gibt. Was soll der Rest der Welt? Sie nimmt von mir nicht Notiz und muß es nicht, und ich werde es wahrscheinlich (auch nur dann und wann) wenn überhaupt tun, selbstverständlich nur hilfesuchend. Also, ich wäre in einer schwierigen, erbarmungslosen Situation. Hilfesuchend meine ich jetzt nicht nur als Kranker sondern als Einsamer, denn die Einsamkeit oder die Isolation würde über mir zusammenschlagen. Das werde ich wahrscheinlich erleben. Das schon.

Profit: „Wem wären Sie lieber nie begegnet?“

Krolow: Haha! Manchem.

Profit: Das ist alles, was Sie sagen wollen.

Krolow: Ja. Nicht zu vielen.

Profit: Nicht zu vielen.

Krolow: Nein. Nein. Manchem. Es gibt ein paar.

Profit: „Möchten Sie das absolute Gedächtnis?“

Krolow: Eine Quälerei. Eine Folter. Eine Heimsuchung.

Profit: „Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?“

Krolow: Die meisten. Beinahe hätte ich gesagt: alle. Aber einzelne sind darunter, ich meine, die mir bekannt waren, natürlich…

Profit: Nicht unbedingt.

Krolow: Nicht unbedingt. Oh ja, dann, ist es auch wirklich einzuschränken. Ich meine, die mir lieb waren, schon. Alle, die mir lieb waren schon. Nicht? Aber das ist ja natürlich nur ein kleiner Kreis. Gewiß. Alles andere wäre schon ein bißchen, wie soll ich sagen, gesponnen. Ich meine, längst Tote haben Sie nicht gemeint, sondern irgendwie Zeitgenossen, die ich persönlich gekannt habe. So war’s doch? Ja, dann bleibe ich natürlich bei dem, was ich gesagt habe.

Prolit: „Wenn Sie an Verstorbene denken: wünschten Sie, daß der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?“

Krolow: Es gibt Augenblicke, wo das wohl der Fall ist. Vielleicht spricht man mehr als man denkt mit ihnen und merkt es selber kaum. Ein unbewußtes Weiterleben, Weitersprechen und Weiterantworten und Weiterfragen. Es ist in einem bestimmten Geisterraum. Freilich. Freilich. Aber nur der kann ja gemeint sein.

Profit: Woran oder an wen glauben Sie?

Krolow: Glauben. Das halte ich nur Minuten durch. Und damit (kommen) die Zweifel, die so oder so oder so auftauchen. Das Grübeln, die Grübelsucht, an der ich, man kann schon sagen, gelegentlich leide, sorgt schon dafür, daß mir hinlänglich ein längeres, länger anhaltendes Glaubensbedürfnis abhanden gekommen ist.

Profit: Glauben Sie an sich selbst?

Krolow: Unterschiedlich. Aber wie gesagt, um zu glauben, dazu bin ich zu skeptisch. Man muß zusehen können, sich selber zusehen können, wie das so ist, wie das so läuft, als wäre man ein anderer, als wäre man gar nicht aber doch zugleich immerhin, doch schon, dieses je suis l’autre. Es ist nicht gleich, aber so in der Nähe angesiedelt ist es schon, in der Richtung schon, ich seh’ zu, ich bedenke noch einmal, wie ich dies und jenes tat oder unterließ. Wobei das Unterlassen für mich wichtiger ist als das Tun. Das ist ja auch folgenreicher.

Profit: Sie haben im Laufe Ihres Lebens sehr viele Schriftsteller, Dichter, Schriftstellerinnen usw. kennengelernt. Wer unter ihnen steht oder stand Ihnen am nächsten, mit wem verstanden oder verstehen Sie sich am besten? Oder steht die Beziehung zu Paul Celan an erster Stelle, und ist dies weiterhin der Fall?

Krolow: Ja, das ist wirklich schwer zu beantworten. Das hat auch gewechselt. Ich meine, wenn ich von Celan gesprochen habe, kann ich dennoch… ich wüßte gar nicht, wer an erster Stelle wirklich rangiert. Es ist eine ganze Reihe von Leuten, die mir nahe gestanden haben, aber auch sich wieder d.h. durch Tod sowieso, aber auch durch ihre andere Entwicklung wieder entfernt haben. Man müßte genauso von denen sprechen, die ich einmal kannte. Zum Beispiel Holthusen, den ich einmal sehr gut gekannt habe, und jetzt weiß ich gar nicht mehr, was mit ihm ist. Und er war einer der ältesten. Oder Piontek. Wir haben ja gestern schon davon gesprochen. Heinz Piontek. Wir haben uns sehr nahe gestanden literarisch, und menschlich kann man wohl auch sagen, wenn wir uns auch nicht viel sahen. Es ist weitgehend eine Sache eben auch des geistigen Umgangs. Auch auf Entfernung, nicht? Ja, Leute wie Celan, eine solche Beziehung hat eben nur seine gewisse Zeit. Und ich habe ihn häufig, ja täglich gesehen, als ich in Paris lebte und diese UNESCO-Tätigkeit hatte im Jahre ’58. Dann ist er ja nicht etwa mir aus dem Auge gekommen, er ist auch hier gewesen, er hat Darmstadt kennengelernt durch mich, würde ich schon sagen, oder durch eine Lesung, die er hier gehabt hat. Aber er ist auch von Suhrkamp, oder von S. Fischer, von Frankfurt hergekommen, hat sich schnell angemeldet, telefonisch und kam dann rüber. Wir sind dann zusammengesessen bis zum späten Abend; wir waren ja beide noch jung und haben zusammen ein bißchen Wein getrunken, um uns zu beleben und unsere Sachen, die wir uns zu sagen hatten, zu intensivieren. Ich nenne Celan jetzt nur als Beispiel. Nicht als ersten, das könnte ich nicht sagen. Und insofern gibt es keine richtige Antwort, weil alles zu viel gewechselt hat, und ich mich im einzelnen gar nicht mehr daran über die langen Jahrzehnte erinnern kann. In dem Sinne habe ich nie einen mir so nahestehenden Kollegen gehabt, daß ich sagen könnte: er ist es! Das könnte ich nicht sagen – so viele ich kenne, so viele ich schätze – so manche, die mich schätzen. Selbstverständlich. Aber… sei es, daß sie gestorben sind, sei es, daß sie auch nur durch ihre eigene Entwicklung sich mir gegenüber auch verändert haben, weniger mit mir zu tun bekamen, oder ich mit ihnen, so daß ich eigentlich nur sagen kann, sehr gute literarische Freunde waren Personen, die eher am Rande standen. Als Freund könnte ich nur zwei überhaupt nennen. Das ist auch nicht Celan, durchaus nicht, oder nicht Eich, mit dem ich einen Briefwechsel, einen wahrscheinlich ganz interessanten Briefwechsel gehabt habe, der aber in Marbach liegt. Den habe ich gar nicht mehr hier, den hat Marbach bereits aufgekauft, wie überhaupt mein Nachlaß in Marbach ist, bis auf weniges. Diese Rollschränke mit den Notizen eben, die sind noch hier, weil das weitergeht. Aber es sind zwei Namen, die gar nicht im engeren Sinne verstanden Schriftsteller sind, obwohl sie beide Gedichte geschrieben haben. Aber sie waren beide nicht nur Lyriker. Der eine war Feuilletonredakteur an einer hannoverschen Zeitung. Fritz Rasche hieß er. Und das ist ein Mann – ich war noch jung, er ist 1900 geboren, er war 15 Jahre älter als ich – der mich in jeder Hinsicht gefördert hat, und wir uns auch gemocht haben. Ja, man muß sagen, wir waren befreundet. Und das ist der eine. Aber eben er ist schon 1965 gestorben. Jedenfalls daran sehen Sie, daß ich von jemandem spreche, der schon weit weg ist, so nahe wir uns waren. Kinder hatten sie nicht. Auch die Frau ist weg, längst tot. Aber wenn ich einen Namen nennen soll, der mir wichtig war, will ich mal so sagen, der mir wichtig war, dann war es eben der Friedrich Rasche, Fritz Rasche aus Hannover. An einer hannoverschen Zeitung, im Laufe der Zeit an mehreren hannoverschen Zeitungen als Feuilletonchef tätig, der eben mich, ja, ich will nicht sagen entdeckt hat. Das gibt’s nicht. Das könnte ich überhaupt nicht sagen, wer das wäre. Das sind Umstände, das sind Umstände eben, die einen da hineingeraten lassen in die Verhältnisse. Und der zweite und noch wichtigere, der gewissermaßen das Erbe angetreten hat, rein zeitlich, obwohl wir uns schon lange kannten, der mich hierher nach Darmstadt geholt hat und dann später der Oberbürgermeister dieser Stadt war: Heinz Winfried Sabais. Geschrieben Sabais, also französisch ausgesprochen. Das ist ein eben – wie nennt man das? – ein hugenottischer Name, also ein französischer schon, nicht? Ein hugenottischer Name. Und dieser Heinz Winfried Sabais, der auch Gedichte schrieb und sich auskannte eben in der Literatur, war zugleich Politiker. Er war als Mann der Sozialdemokratischen Partei hier Oberbürgermeister gewesen, nachdem er sich heraufgedient hatte im Kulturamt und hat erst nach Jahren natürlich diesen Posten bekommen. Er ist jung gestorben, mit 58 Jahren, auch an Krebs, an einem auch sehr üblen… was war es, ist ja auch im Grunde egal – Leberkrebs, ich weiß es jetzt nicht im Augenblick. Ich kann es im Augenblick nicht sagen. Jedenfalls ist er mit 58 Jahren gestorben. Und Fritz Rasche, Friedrich Rasche, ist auch nicht alt geworden; er ist 64 geworden. So habe ich eben diese beiden relativ früh verloren. Und mit dem zweiten hat auch die Stadt Darmstadt sehr viel verloren. Und ich habe jetzt, anläßlich unserer Kommunalwahl, dem neuen, meinem Kandidaten sozusagen empfohlen, nach seiner Weise freilich, es so ähnlich mit der Kulturpolitik der Stadt zu halten, wie es der Heinz Winfried Sabais, einer seiner Vorgänger, gehalten hat. Das war eine Stadt eben der Künste. Spätestens durch Sabais, aber auch vorher hatten wir Glück mit den Kulturveranstaltungen. Schon seit der Zeit des Großherzogs. Es war hier ja früher ein Großherzogtum Hessen-Nassau und Hessen-Darmstadt. Es hat zwei Hessen gegeben bis 1918, dann war das abgeschafft mit der Revolution ’18/’19 und war dann nur ein Freistaat Hessen, wie andere, Niedersachsen auch. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dann noch einmal zu einer anderen Aufgliederung des Landes, und jetzt ’89 noch einmal. Aber das hat jetzt nichts mehr mit dem zu tun, was ich Ihnen als Antwort so etwas hingestottert habe. Was Sie damit anfangen können, kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich würde es so sagen, das ist kein Ausweichen. In dem Sinne sind es zwei Leute, die als Schriftsteller gar nicht so sehr bekannt waren und blieben. Und die nicht nur Schriftsteller waren, sondern eben im tätigen Leben waren, d.h. der eine Journalist, ja muß man schon sagen, und der andere eben auch Politiker, der es hier bis zum Chef einer Stadt, Oberbürgermeister einer Stadt, wie Darmstadt, gebracht hat. Und von dem ersten habe ich auch den Nachlaß mitherausgegeben, so weit das möglich war. Aber dann kommen die vielen, die ich schon sehr gut kenne, die ich schätze, ich wiederhole mich jetzt, und da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Aber die zwei Namen habe ich genannt, die mir, von Holthusen angefangen bis zu Günter Eich, bis zu Paul Celan wichtig waren.
Auf Celan berufen sich freilich heute allzu viele. Ich habe ihn wirklich kennengelernt und seine Familie und sein Familienleben. Der ist hier mit seiner Frau gewesen, hier in dieser Stadt, um mich aufzusuchen; er kam selten nach Deutschland. Er hatte eine gewisse Vorsicht gegenüber den Deutschen, die ihm seine Familie ermordet hatten. Er ist Jude, das muß man hinzufügen, oder war Jude und hat in Paris studiert, zunächst Medizin, dann kam er ins Schreiben und ist also entdeckt worden auf einer der Tagungen der Gruppe 47. Es war eine literarische Vereinigung hier der ersten zwanzig Jahre, sagen wir mal, nach dem Krieg. Gibt’s auch jetzt nicht mehr. Und Celan gehörte wohl zu denen, die die wichtigsten waren. Und auch heute noch gilt er möglicherweise als der bedeutendste Lyriker. Nun es kommt manches hinzu. Es sind natürlich auch Elemente von Wiedergutmachung dabei, als Jude und so. Das ist ein, nicht gleich ein literarischer Gesichtspunkt, aber schon ein menschlicher. Man muß einen Menschen ja schließlich nicht nur als den sehen, der Gedichte geschrieben hat, sondern auch als den, der ein ganz bestimmtes Leben geführt hat, ein bestimmtes Schicksal gehabt hat und dann wieder daraus für die Literatur gelernt hat. Es gibt eine Zeile von Paul Celan, die steht in seinem berühmtesten Gedicht, vielleicht dem überhaupt bekanntesten Gedicht nach dem Weltkrieg: der „Todesfuge“. Das werden Sie wissen. Da steht drin diese Zeile: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Das werden Sie auch kennen. So etwas gibt es nicht noch einmal wieder an Bekanntheitsgrad, auch an Verwendungsgrad. Das hat auf Spruchbändern gestanden, viel später, Jahre nach dem Tod. Als er lebte, war das zwar auch ein ihm schon zu bekannt gewordenes Gedicht. Er wollte das schon gar nicht mehr hören, weil es ihm so oft präsentiert wurde. Aber jetzt bin ich ausgewichen und habe immer noch nicht gesagt, wer mir am nächsten steht, weil ich’s nicht kann. Jeder auf seine Weise. Verstehen Sie? Der Celan auf eine andere als dieser Günter Eich, der hierher kam als entlassener Soldat mit dem Rucksack, mit den Soldatenkleidern, in Hannover, nicht hier in Darmstadt. Da habe ich das noch erlebt. Bei meinem Freund Rasche habe ich ihn zum ersten Mal gesehen, als Heimkehrer, wie man das damals nannte, als Soldat, der sich noch die Wohnung suchen mußte, der sich die Frau wieder suchen mußte und alles dies. Das war ein Vorgang, der sich millionenfach wiederholt hat. Natürlich. Und also auch Holthusen ist es genauso ergangen. Nur ich hab’s nicht erlebt, nicht? Holthusen habe ich als damals wichtigsten Essayisten der ersten, mindestens zehn Jahre nach dem Kriege kennengelernt. Und so entstand auch die Bekanntschaft, die dann unter anderem zu dem Aufsatz führte, den Sie kennen.  Und so war das. Und das war schon eine gute Beziehung. Ob man das Freundschaft nennen kann, weiß ich nicht. Es ist eben so, wir haben uns nachher anders entwickelt. Das kam nicht zuletzt durch seine Amerikajahre, die haben ihn hier vielen entfernt, vielen. Das ist ein Unterschied, ob jemand in Chicago sitzt oder in München, wo er jetzt wieder ist und wo er herkam. Obwohl er… Nein. Er ist noch Deutscher, er kommt aus Hildesheim, wie Sie wissen. Darüber haben wir ja gestern gesprochen. Wir sind gemeinsam – als er hier einmal war, hier eben nicht, sondern in Hannover – von Hannover sind wir nach Hildesheim gefahren, und seine Mutter habe ich auf diese Weise kennengelernt, und so, nicht? Aber das ist keine Beantwortung Ihrer Frage…

Profit: Doch, doch.

Krolow: Doch? Wir werden ja sehen, was Sie daraus machen.

Profit: Haben Sie jemals Wolfgang Borchert kennengelernt?

Krolow: Nein. Da war ich noch… Der war zu früh und ist zu früh gestorben.

Profit: ’47.

Krolow: Ja. Er ist einfach zu früh gestorben. Einige Hamburger haben ihn kennengelernt. Er kam ja aus Hamburg und da war ich noch kein Schriftsteller. Der ging zu schnell. Borchert. Borchert. Und im Grunde war er auch eine typische – unmittelbar nach dem Kriege – eine Nachkriegserscheinung. Wie er sich gehalten hätte, wie das weitergegangen wäre, wissen wir alle nicht. Er ist zu früh gestorben. Und war draußen vor der Tür. In gewisser Weise ist dies Wort auch für ihn passend: draußen vor der Tür der Nachkriegsliteratur, würde ich sagen, wenn ich an Borchert denke. Die war noch gar nicht sozusagen da, da war er schon, als erster. Buchstäblich.

Vera B. Profit: Menschlich – Gespräche mit Karl Krolow, Peter Lang Publishing, 1996

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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