STELE FÜR DOMENICO SCARLATTI
Ein Hut in der Luft
ist ein Vogel,
der seinen Namen sucht
oder die Verbeugung des Leichtsinns
vor allen, die auf Erden
ohne Klavier zurückblieben.
Ein Hut – eine Botschaft
an den Himmel,
der Sonaten erntete,
als die Finger traurig waren
und vergaßen, sich zu bewegen.
Ein Hut – eine Weile
zwitschert er aus hellem Gefieder.
Dann verliert er sich langsam
in deinem Licht.
Karl Krolows Werk sollte in diesem Lesebuch von vier Seiten her vergegenwärtigt werden. Zunächst die Lyrik – in ihrer exemplarischen Bedeutung und Entwicklung vom anfänglich eher „melancholisch-schweren“, später sich „aufhellenden“ Naturgedicht, vor allem unter dem Einfluß der „präzisen Zeichenreihe“ Wilhelm Lehmanns (Krolow hat bekannt, daß Lehmanns „ökonomischer Sinn, der bis zur Nüchternheit geht, seine optische Klarheit und Wahrnehmungs-Zartheit“ für ihn wichtig geworden sind), über die zum Teil vom französischen Surrealismus und der spanischen Lyrik der zwanziger und dreißiger Jahre bestimmten Gedichte, die jene „intellektuelle Heiterkeit“, jene Porosität, jene Offenheit haben, von denen Krolow verschiedentlich gesprochen hat, bis zu den immer metaphernärmer, einfacher, einsilbiger, lakonischer, scheinbar beiläufiger werdenden, ganz subjektive Themen bevorzugenden Strophen, wie sie etwa seit den Alltäglichen Gedichten (1968) sichtbar werden, in denen man „das unterirdische Beben der Geschichte im Intimen“ (Klaus Jeziorkowski) wahrnehmen kann.
Um noch einen Augenblick an Befunde von Literarhistorikern, von Literaturwissenschaftlern zu erinnern, die wesentliche Aspekte ergeben: Hugo Friedrich sieht Krolow – in einem Aufsatz, der dessen Ausgewählte Gedichte begleitet – in einer Linie mit Baudelaire, Mallarmé und Guillén, wenn er etwa von der Annäherung von poetischem und mathematischem Sehen handelt. Er betont, daß in Krolows Lyrik das „Ungewöhnliche mit Meisterschaft“ gesagt ist.
Klaus Günther Just beobachtet – in seiner Geschichte der deutschen Literatur seit 1871 −, daß sich bei Krolow eine große „Wandlungsfähigkeit“ vereint mit einem „ebenso bewundernswerten Bewahren der eigenen Substanz, des eigenen Kerns“. Er bezeichnet Krolows lyrisches Werk als „subtilen Kommentar der Fühlweisen einer ganzen Epoche“, als „permanente Konfession“, als Ausdruck einer Sensibilität, die sich als erhöhte Schmerzempfindlichkeit äußert.
Daß Krolows Werk im „Schnittpunkt verschiedener Richtungen“ steht, daß es alle Voraussetzungen mitbringt, um „besonders repräsentativ für die deutsche Lyrik in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts“ zu sein, verdeutlicht Otto Knörrich in seiner Darstellung der deutschen Lyrik der Gegenwart. Er hebt hervor, daß gerade die „Kargheit des Sprechens“ in den jüngeren Arbeiten Krolows eine „neue lyrische Intensität“ zeigt:
Wie das naturmagische Gedicht, wie die surrealistische Metaphorik, so hat Krolow auch den lyrischen Lakonismus zu einem seiner Höhepunkte in der modernen deutschen Dichtung geführt.
Neben der Arbeit an seiner eigenen Gedichtwelt hat sich Krolow – und auch das war in dem vorliegenden Band entsprechend zu dokumentieren – als Übersetzer intensiv mit französischer und spanischer Lyrik beschäftigt. Diese Beschäftigung verhalf ihm, wie er schrieb, unter anderem zu einer Lösung vom Stoffzwang des Naturgedichts. Im Bereich der französischen Literatur waren es zunächst Autoren von der Zeit der Villon-Nachfolge bis zu Valéry, die ihn anzogen. Der Akzent lag dabei auf dem neunzehnten Jahrhundert. Die Übertragungen sammelte er in dem Band Nachdichtungen aus fünf Jahrhunderten französischer Lyrik (1948).
1957 folgte Die Barke Phantasie, in der er Autoren der zeitgenössischen französischen Lyrik vorstellte. Im Vorwort skizzierte er ein Bild vom Wesen, von der Eigenart dieser Lyrik, das deutlich erkennen läßt, worauf es ihm vor allem ankam. Im Blick auf Apollinaire zum Beispiel stellt er fest: „Das Spiel seiner Assoziationen, das freie Spiel seiner abenteuernden lyrischen Phantasie schuf recht eigentlich den Raum, in dem man sich von nun an bewegen konnte.“ Er spricht von der „kristallinischen Landschaft“ des zeitgenössischen französischen Gedichts, von der „versponnenen, musikalischen Zartheit“ der Lyrik Fargues, der „wohllautend-melancholischen“ Sprache Supervielles, der „scharfen Transparenz Eluard’scher Strophen“, den „kryptischen“ Elementen bei Char, der „finsteren Größe“ der Dichtung von Michaux, den „wie mit halber Stimme hin gesprochenen Traum-Diktaten“ Reverdys; davon, daß die vieldeutige Erscheinung des Surrealismus dem französischen wie dem Gedicht anderer Länder „zu einer bis dahin unerhörten Handlungs- und Mitteilungs-Freiheit verholfen (hat). Er ist hinter manches Geheimnis der Wirklichkeit gekommen und hat sie zugleich neu verschlüsselt.“
Formulierungen, die spürbar machen, welcher Art die Anregungen, die Impulse waren, die Krolow aus dieser Poesie aufnahm. Was ihn an der zeitgenössischen spanischen Lyrik faszinierte, war das „Nautische“, die „alte neptunische Heiterkeit, die Serenität elementarer Herkunft“, die er vor allem an den Gedichten Rafael Albertis erkannte, bei dem sich dieses Element, wie er im Nachwort seiner Übertragungen spanischer Gedichte des zwanzigsten Jahrhunderts (1962) schreibt, zu „arielischer Leichtigkeit, zu vollkommener Liquidität verfeinert“ hat. Im übrigen interessierte ihn nicht so sehr das Folkloristische des neuen spanischen Gedichts als vielmehr die darin erkennbar werdende „Landschaft ernster und klarer Umrisse“, die „Aridität“. Gefühl, notiert er, würde in dieser unsentimentalen Lyrik eher „versteinern“ als sich in Weichheit auflösen. Zugleich weist er hin auf den „harten Jubel“ Jorge Guilléns, auf diese „unerbittliche, unter einem von Bläue eisernen Himmel ausgestrahlte Helligkeit“. Er bemerkt, daß bei Guilléns Jubel „Entzücken in Sprödigkeit umschlägt“; daß dabei „Schattenlosigkeiten“ entstehen, die ebenso streng sind wie die „schwarzen Schattenblöcke, die in manche Verse Dámaso Alonsos eingesprengt sind“. Vielleicht waren diese Spanier für Krolow von noch größerer Bedeutung als die französische Lyrik.
Den Gedichten und Übertragungen folgen Prosa-Stücke, jeweils wenige Seiten umfassende Texte aus den Minuten-Aufzeichnungen (1968). Diese Prosa, in der Krolow eine Möglichkeit literarischen Sprechens zwischen Tagebuch und Essay realisiert, enthält (wie die des 1966 erschienenen Poetischen Tagebuchs) Züge, die für seine Seh- und Denkweise so charakteristisch sind, daß sie hier angemessen berücksichtigt werden sollte. Sie gehört mit ihrem rasch wechselnden Blickwinkel, der spezifischen Anschaulichkeit, der geistigen Spannung, der Intimität der Mitteilung – als unübersehbarer Aspekt zu seinem Werk. Unverkennbar ist ihre häufige Nähe zum Gedicht („Die Nacht raschelt mit Sternen und unsichtbaren Uhren“); ist das Ineinander von Imagination und Reflexion (über Jean Follain: „So könnte ein sensibler Gorilla aussehen.“ über Paris: „Ein früherer Chirico-Traum.“)
Außerdem ist zu sehen, wie das Zitat ein integrierender Bestandteil dieser Prosa wird. Das Zitat nicht nur als „Beleg“. Krolow zitiert das, was er – gespiegelt im Wort des andern – selber „ist“. Schreiben sei auf Stichworte angewiesen, sagt er einmal. Das Zitat kann Stichwort sein.
Schließlich die – bisher verstreut gedruckten oder gesendeten Essays. Auch sie gehören ins Bild. Etwa der Aufsatz über Hölderlin. Krolow hat zu diesem Dichter erst durch spätere Autoren wie Rimbaud und Trakl literarisch Zugang gefunden. Ein wiederkehrendes Thema dieser Essays: Aufmerksamkeit. Über Hofmannsthal: „Aufmerksamkeit beherrscht… das, was von Hofmannsthal stammt, eine ganz bestimmte Wachheit, ein Hinhören nach dem andern, dem Partner, dem Gegenüber, nach der Ferne, in die Geschichte zurück, in den Geisterraum der Historie.“ Im Zusammenhang mit Valérys Monsieur Teste ist die Rede von der „höchsten Aufmerksamkeit eines Leidenden“, von einem „zugleich komplizierten und einfachen, mit wenigen Gewohnheiten und Umständen auskommenden Leben“. Sind das nicht Sätze, die zugleich Karl Krolow selbst meinen? Aus den Strichen, mit denen er die Porträts anderer entwirft, bildet sich auch – wie könnte es anders sein – sein eigenes Gesicht.
Walter Helmut Fritz, Nachwort
Ich habe zum erstenmal, wenn ich mich recht erinnere, im Jahre 1945 ein Selbstbildnis 1945, ein literarisches Selbstporträt geschrieben, ein Mann von dreißig Jahren, der seit einigen Jahren Verse zu schreiben versuchte, um mir dabei einen Vers auf dieses und jenes zu machen, auf meine wüste Zeit, die finstere Gegenwart dieses Jahres Null, aber nicht nur auf sie, meine Umwelt, vielmehr auch auf mich, der da vor dieser Umwelt auftauchte und sogleich – im Gedicht – wieder verschwand. Denn es war ein zwar im Geschmack dieses Augenblicks, in dem ich außerordentlich im Banne damaliger Naturlyrik stand, verfaßtes Stück, ein hochstilisiertes Gedicht sogar, aber zugleich ein flüchtiges Tuschwerk, ein Text, der in sich seinen Widerruf trug:
Aus dem Schweigen bin ich kaum entlassen,
Das mir bitter in der Kehle steigt.
Und ich spüre manchmal mit Erblassen,
Wie mein Atem sich im Nichts verzweigt.
Es war tatsächlich eine aus dem literarischen und menschlichen, dem persönlichen Nichts gefertigte Studie. Ein Orientierungsversuch, der Versuch, sich mühsam zurechtzufinden in einer gespenstischen, abgerissenen Umwelt. Damals hatte ich damit begonnen, meine Gedichte da und dort unterzubringen, fand Redakteure, denen sie gefielen, die mich ermutigten. Das Mut-Machen gehört ja zum Handwerk wie die Skepsis, das Mißtrauen, die Selbstbeobachtung, gehört dazu wie anderes, von dem erst gar nicht die Rede sein soll. Das Selbstporträt war ein „magisches“ Porträt, ein bengalisch angeleuchtetes, ziemlich geheimnisvolles und naturverfallenes, ein stammelndes Porträt meiner Selbst, auf der Suche, zu entdecken, was es mit mir – einem Talent – auf sich haben könne, und dazu noch in solchem Moment. Aber viele haben sich so oder anders geprüft, in jenen 12 Monaten des Jahres 1945: „Aus dem Schweigen bin ich kaum entlassen“. Ich glaubte, nie zu Stimme zu kommen, geschweige denn, daß diese Stimme mich im geringsten eine Weile „tragen“ könne. Ich fühlte mich stimmlos. Das Stammeln war gewiß kein Trick. Ich konnte nicht anders.
Drei, vier Jahre später wahrscheinlich habe ichs noch einmal mit dem Porträtieren versucht. Es entstand das Selbstbildnis mit der Rumflasche, wiederum einerseits ein ziemIich stilisiertes Stück, sehr expressiv, unruhig, fahrig, und zugleich – wenig mehr erfahren als der erste Versuch – voller Flüchtigkeit, Verwischtheit, jedenfalls erscheint es mir heute, bald ein Vierteljahrhundert später, so, exotisch verfremdet zudem:
Trügerisches Bild aus diesen Jahren,
Antlitz, das sich durch die Flasche dehnt
Und ertrinkt im tiefen, wunderbaren
Geisterwasser! Das mit Aschenhaaren,
Schwarzen Zähnen nach dem Mond sich sehnt,
An die Nacht gelehnt!
Selbstporträt und Nachtstück zugleich, wieder in einem magischen Zirkel von Naturerscheinungen und Naturverfallenheit und persönlicher Hinfälligkeit und Zufälligkeit gesehen, auch dies: ein widerrufbares Bild, momentanes Bild der Selbstvergewisserung, ein nicht ermutigendes Bild und ebenso gespenstisch verzerrt und in der Verzerrung manieriert und müde:
Augen, blauumrändert, nicht geheuer,
Und das Kinn umschattet schon ein neuer
Stoppelbart, in dem der Staub sich fängt,
Gelber Zucker hängt.
Es ist die Zeichnung eines Trinkenden aus Abgeschlossenheit, Kontaktarmut und Illusion und hinzukommender Illumination. „Trügerisches Bild“, wie es später heißen wird. Wieder ist vom Nichts die Rede. Das war gewiß nicht lediglich eine modische Floskel jener ersten Nachkriegsjahre. Das hatte Realität, noch auf banalste Weise. Ein betäubtes Bild, wie es sich mir heute zeigt, schwankend in einem merkwürdigen Zwielicht – als eine Art Windlicht flackernd. Leise die Stimme, erstickt, gedrückt.
Zwischen beiden sehr frühen Versuchen und einem aus jüngster Vergangenheit, der meinen letzten veröffentlichten Band abschließt und charakteristischerweise Sich vergewissern heißt, liegt eine Entwicklung von gut zwanzig Jahren, liegen Sackgassen, Hoffnungen, Veränderungen, Beharrlichkeit und jedenfalls der Versuch, auf ein Thema zurückzukommen, das wie nichts anderes mit mir, mit meiner physischen und meiner Schreib-Existenz zu tun hatte. Lese ich die drei Gedichte jetzt nacheinander, so sehe ich, daß sich viel geändert hat, in der Sprache, in ihrem Duktus, ihrer möglichen Disziplin und Zurückhaltung, ihrer viel größeren Nüchternheit und vermutlich größeren Klarheit, auch deutlicheren Sicherheit, und daß zugleich die Unterschiede der Gesinnung, des Verhaltens beim Porträtierten nicht so erheblich divergieren:
Ich versuche,
mich zu vergewissern,
daß ich vorkomme.
Im selben Augenblick
gib es mich, bartlos,
mit bleichem Zahnfleisch
hinter der Lippe
und halb geöffneten Augen,
aus Furcht, zu viel
zu sehen, was anders ist
als Haut und Haar,
die sich im Zusehen
verlieren.
Ich bin da. Meine
rechte Hand fällt mir
nicht durch die Tasche.
Ich führe sie über Papier,
um aufzuschreiben,
daß ich lebe.
Denn einiges ist unverändert geblieben: das Momentane, das Widerrufbare, das Zögern im Erscheinen und eine Art Furcht, zuviel Aufhebens von diesem Erscheinen zu machen. Es ist nichts von einem In-Szene-Setzen zu erkennen, glaube ich sagen zu können, nur diese flüchtige Da-Seins-Umschreibung und Fixierung in einer Handvoll Wörter, die sich zu einem Gebilde zusammenziehen, einem knappen literarischen Text, der solches literarisches Da-Sein festhält. Er wird festgehalten durch die Schreibhand, die – noch – handfest ist, noch konsistent, noch dem Schreibenden zugehörig und ihm zu Gebote, um zu tun, was ihm zu tun als möglich erscheint – zu schreiben, um schreibend zu erfuhren, daß der Schreibende – mit seiner physischen wie intellektuellen Existenz – am Leben ist.
Im Grunde ist wohl nicht mehr vom Schreibvorgang zu sagen: eine Sache ohne Aufwand, ein sachlicher Vorgang vor allem, hinter dem die Biographie desjenigen, der schreibt, verschwindet oder doch zurücktritt und uninteressant wird. Ich habe im Laufe der Jahre mich immer wieder aus den Gedichten, die ich schrieb, zurückgezogen. Ich mußte ohnehin sofort nach ihrem Entstehen das, was ich schrieb, sich selber und den anderen überlassen. Natürlich haben sich die Gedichte im Laufe einiger Jahrzehnte erheblich verändert, wie in das Leben dessen, der sie schrieb, Veränderungen kamen, veränderte Vorstellungen und Absichten, verändertes Vermögen und verändertes Interesse an dem, was entstand, was gelang oder mißlang.
Ich habe mich – denke ich zuweilen – in zunehmendem Maße in Gedichten erleichtert. Ich meine damit, daß ich versuchte, sie und mich von allerhand zu befreien, was ihnen anhing: Bedeutung als Ballast, Tiefsinn als Ballast, Absichten als Belastung. Allmählich gelang es mir besser, daß die von mir im Gedicht bevorzugten Gegenstände ohne die Drastik ihrer Gegenständlichkeit, ohne das Gewicht ihrer Materialität auskamen. Es waren – möchte ich sagen – in Veränderung befindliche Stoffe, Übergänge von einem zum anderen. Und also bewegliche, sich entmaterialisierende Mitteilungen. Von ihrer Stofflichkeit erleichterte, zuweilen über ihr schwebende, balancierende Themata.
Während die ersten Menschen auf dem Mond landeten, sah ich mich dabei, über den menschlichen Körper, seine lebenslangen Funktionen, seine Illuminationen und Illusionen nachzudenken. Ich fand, daß dieser menschliche Körper, angesichts von Robotern, Computer-Intelligenzen und inmitten einer anonymen Massengesellschaft, immer noch ein bemerkenswerter Gegenstand der Auseinandersetzung geblieben war. Der klassische Gegenstand unserer abendländischen Geistes- und Kunstgeschichte immerhin, dieser nach dem Goldenen Schnitt gearbeitete Menschenkörper! Wie seine Anfälligkeit, seine Leiden sich nicht verändern werden, bei allem Fortschritt an hygienischer, an medizinischer Erfahrung, wie ein Karzinom nicht durch das Funktionieren eines künstlichen Himmelskörpers zu widerlegen sein wird, so ist auch das andere, Schönheit, Proportionen, Körper als Skizze gegen das Ungeheure um ihn her, auch gegen das Unbestimmte und den schließlichen Verfall seiner Umwelt geblieben. Es entstand ein Zyklus von fünf Gedichten. Ich nannte ihn Körper und versuchte in ihm zu sagen, was ich andeutete. Ich versuchte, ihn in seiner alten Gegebenheit, seiner Mechanik, dem Spiel der Muskeln, der Glieder, in seinem ganzen vorübergehenden Wesen festzuhalten. Ich versuchte es mit Entfernung, Distanz, so gut das möglich war, mit ironischer Fixierung des nie zu Ende gesagten Einfachen, des Unbeschreiblichen an ihm. Körper als Spielball provisorischer Empfindungen, mit Fluchtversuchen beschäftigt, die die Metaphysik bereit hält, seiner selbst bewußt, aber auch der trägen Verschwörung der Zeit – um ein Wort Chateaubriands aufzugreifen – schließlich erliegend: der menschliche Körper mit seinen Chancen, in seiner Schwäche, kühl, sachlich beobachtet – das schien mir der literarischen Bemühung wert, während die Zeit der üblichen Vergänglichkeit überantwortet bleibt. Ein neues Thema für mich? Ein neues Selbstporträt, am Ende? Ein altes Thema, wie gesagt.
Karl Krolow, 1969, aus Karl Krolow: Ein Gedicht entsteht, Suhrkamp Verlag, 1973
Ohne die Wirkungen, die von Karl Krolows Dichtung ausgehen, ist die deutsche Poesie seit 1945 nicht mehr zu denken.
Diese Feststellung von Walter Helmut Fritz, die 1965 im Klappentext des Bandes Gesammelte Gedichte von Krolow zitiert wurde, ist heute noch immer richtig. Die Wirkungen Krolows sind vielfältiger Art: Nicht nur hat er mit seiner Lyrik eine ganze Reihe jüngerer Dichter nachhaltig beeinflusst; auch als Uebersetzer, Interpret und Essayist hat er immer wieder Interesse und Verständnis für Dichtung zu wecken gewusst. Als Rezensent hat er die unterschiedlichsten literarischen Talente wohlwollend gefördert – weniger als streitbarer Kritiker, mehr als Vermittler, auf Verständigung, Ausgleich und Balance bedacht.
Wie nur wenige zeitgenössische Schriftsteller ist Karl Krolow der Lyrik treu geblieben. Von den Diskussionen und Polemiken der letzten Jahre, von den weithin ideologisch bestimmten Attacken, die das gesamte Genre Lyrik als gesellschaftlich irrelevanten spätbürgerlichen Plunder wegwerfen wollten, hat er sich nicht beeindrucken und kaum irritieren lassen. Zu seinem 60. Geburtstag im März 1975 erschien ein zweiter Band der Gesammelten Gedichte, und nun legt der Suhrkamp Verlag (Frankfurt a.M.) unter dem Titel Ein Lesebuch einen Sammelband mit Gedichten und Prosa Krolows vor. Der Herausgeber Walter Helmut Fritz stellt zunächst den Lyriker Krolow mit Texten aus drei Jahrzehnten vor; es folgen Gedichtübertragungen aus dem Französischen und Spanischen, kurze Prosastücke aus den Minuten-Aufzeichnungen von 1968 und einige Essays. Den Abschluss bildet eine kurze Bio-Bibliographie die jedoch nicht ganz vollständig ist. Genannt werden zwar Nebenarbeiten Krolows wie Deutschland deine Niedersachsen, doch es fehlt jeder Hinweis auf den Band Bürgerliche Gedichte, drastisch-erotische Verse, die Krolow 1970 unter dem bewusst durchsichtigen Pseudonym Karol Kröpcke publizierte und die seinerzeit ein gewisses Aufsehen erregt, hatten.
Noch immer fällt beim Namen Krolow das Stichwort „Naturlyrik“. Doch inzwischen hat sich der Dichter weit entfernt von den Anfängen, als er noch im Bann der naturmagischen Dichtung Wilhelm Lehmanns und Elisabeth Langgässers stand. Seit den fünfziger Jahren bereits nahmen die romanischen Einflüsse zu; die Gedichte der französischen und spanischen Surrealisten, die Krolow übersetzt hat, wurden zum Stimulans seiner eigenen Poesie, in der er Naturlyrik und Surrealismus zu verschmelzen suchte.
Inzwischen hat er sich sowohl von der liedhaften und gebundenen Form als auch von der spezifisch surrealistischen Metaphorik gelöst. Sein Ideal ist nicht das starre, statische Kunstwerk, er plädiert für das offene, durchlässige Gedicht, für lyrische Gebilde, die miteinander korrespondieren. Wichtiger als die Perfektion des Einzeltextes ist ihm die lyrische Summe einer Kollektion von Texten. Damit wird es auch zusammenhängen, dass selbst der Lyrikkenner nicht – wie etwa bei Celan, Bachmann oder Eich – ganz bestimmte Gedichte Krolows in Erinnerung behält, sondern Eindrücke, die nach der Lektüre eines Gedichtbuchs zurückbleiben.
Karl Krolow schreibt, vergleicht man ihn mit anderen dichtenden Zeitgenossen, viel und, wie es scheint, mit leichter Hand. Er meisselt seine Worte nicht, die Sprache steht ihm zur Verfügung für seine nichthermetischen, luftigen Verse, denen schwebende Leichtigkeit, Eleganz und Grazie nachgerühmt wird. Hugo Friedrich hat über sie gesagt, einige von ihnen seien „lyrische Anekdoten“, seien „kurze, unwirkliche, ja spukhafte Vorgänge, in denen, gleichsam geisterseherisch wahrgenommen, Dinge, Tiere, Menschen Beziehungen zum Unbeziehbaren anknüpfen oder auf andere Weise Geheimnisvolles tun. Dabei kann den Leser eine Beklemmung befallen, die indessen wieder gelöst wird durch das Arabeskenspial der Worte.“
Wenn Peter Rühmkorf Krolows Gedichte 1962 charakterisierte als „Surrealismen des Alltags“, so trifft diese Kennzeichnung heute vielleicht noch stärker zu als damals. Diesen Poeten, dessen Zentralbegriff „Sensibilität“ heisst, inspiriert Konkretes, ihm reicht bereits ein „minimaler Reiz der Wahrnehmung“. Irrealität wird erzielt, indem die Details dar Alltagswelt in eine ungewohnte Anordnung gesetzt werden; die Realität wird so transparent für Unwirkliches, auch für Bedrohliches.
Wie im Spätwerk Günter Eichs, so lässt sich auch in der neueren Lyrik Krolows eine Tendenz zum Skurrilen und Saloppen beobachten, eine Schau vor auftrumpfender Bedeutungsschwere. Während Eich jedoch zuletzt immer einsilbiger, verschlossener und lakonischer wurde, ist das Krolowsche Gedicht offen und flexibel geblieben: offen für Alltägliches, Banales, für Subjektives und Privates, offen aber auch in der Form. Da gibt es keine Formanstrengung bis an die Grenze des Verstummen „und Zerbrechens (wie bei Celan etwa), keinen unwirschen Rückzug im mürrische Monologe (wie gelegentlich bei Eich). Auch als Poet ist Krolow ein Mann des Ausgleichs, und im Blick auf seine jüngste Lyrik hat er selbst treffend von einem „formalen understatement“ gesprochen, das gelegentlich „bis zur Vernachlässigung von Form getrieben wird“.
Sind Karl Krolows Gedichte auch nicht frei von Dunkelheit und Melancholie, so versteckt sich der Ernst doch gern in intellektueller Heiterkeit. Einen Mann „mit Singvögeln unter seinem Hut“ hat Krolow den Dichter einmal genannt, einen „heiteren Zauberer“.
Ingeborg Drewitz: Trotz und Trauer
Nürnberger Nachrichten, 14.1.1976
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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