Karl Krolow: Fremde Körper

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Fremde Körper

Krolow-Fremde Körper

VERÄNDERUNGEN

Es hat keinen Zweck,
Lichter auf der Hand zu tragen.
Der Windstoß, der sie löscht,
Ist einleuchtender.
Die Barhäuptigen zählen
Im Mond die Minuten,
In denen ihre Antwort sinnvoll bleibt.
Da lächeln schon welche
Aus dem Dunkel.

Sicher ist jemand vorhanden,
Der die Goldenen Zeitalter
Auf den Nacken der Freundin schreibt.
Doch wird die Untreue
Nicht auf sich warten lassen,
Die sie an seiner Phantasie begeht.

So wird dafür gesorgt,
Daß die Veränderungen nicht zu langsam
Aufeinander folgen!…

 

 

 

Die neuen Gedichte Karl Krolows

führen in ein unbekanntes Reich des Schwerelosen, in einen Bezirk, der sich nur den Ahnungen der Dichter erschließt. Was unseren Sinnen ungreifbar scheint, wird durch das lyrische Symbol sichtbar gemacht. Wir erblicken ein Land hinter dem Horizonts erkennen in ihm Elemente unserer Wirklichkeit wieder und werden doch über diese hinausgeführt.

Suhrkamp Verlag, Klappentext zur Ausgabe von 1985

 

Von der Fremdheit der Erde

Karl Krolow, dem sich die Natur mit ihren sanften und schrecklichen Dämonien wie kaum einem zweiten erschloß, hat in seinen neuen Gedichten, den Fremden Körpern, jeden Anschein des Objekts getilgt. Die Phänomene, deren Kontur er in früheren Bänden mit sicherer Schrift nachzog, sind ihm offenbar rätsellos geworden, er hat ihre Metaphern längst kultiviert, sie wollen sich nicht mehr zur Poesie ordnen. Nun faßt sein Wort nach der Metaphysik der Naturprozesse, nach dem Schauspiel der unbegreiflichen Wandlung, das auch in die Natur des erkennenden Subjekts hineinreicht. Die bunte Staffage der Vordergründe ist beiseitegesetzt.
Das Gedicht erscheint nunmehr auf einem unbewegten philosophischen Grunde, der die Vieldeutigkeit der Worte und Vorgänge in seinem Spiegel konzentriert, wie die Einfalt der Sprache die Sinnvielfalt alter Weisheitssprüche zu uneingreifbarer Dichte bringt. Wieder einmal ist zu sagen, daß Krolow heute wohl die reinste Fähigkeit zur Poesie in unserer Sprache repräsentiert. Seiner lyrischen Kunst sind die zartesten Scheidungen wie die überraschendsten Verbindungen möglich geworden. Sein bis in die Gefährdung hinein verfeinertes Empfindungsvermögen scheint nun zu seiner Summa gebracht, die sich keiner Mode mehr auszuliefern braucht.
Die neuen Gedichte gehen mit Irrealität um, vielmehr mit Realität, die sich nicht verwissenschaftlichen läßt. Sie sind in ihrer Sageweise einfach, rational ausgeleuchtet. Vom Schlaf wird z.B. gesagt:

Während ich schlafe
altert das Spielzeug
das ein Kind in Händen hält
wechselt die Liebe ihre Farbe
zwischen zwei Atemzügen
(…)

Inseln werden kenntlich:

Aus den Rümpfen von Schaluppen
sind sie gebildet, weiß
wie die Wolle des Pappelsamens
über dem Wasser!

Der Schritt vom Bildhaften ins Plastische ist offenkundig. Die Surrealismen französischer Schule sind geschwunden. Diese Lyrik ist autonomes Gebiet unserer Sprache. Nur wenige ungewichtige Metaphern geraten noch in die bildliche Nähe von Chirico oder Ludwig von Hofmann. Das neue Prinzip, das Krolow sich gegeben hat, entwirft Poesie nicht mehr aus Farben, sondern aus Klarheit.
Die schönsten Verse sind wie mit einem Sekundenzeiger geschrieben. Der lyrische Augenblick blitzt auf in fast körperlosen Partikeln, die nur im Lichteinfall einer übergenauen Sprache sichtbar werden können. Die sprachlichen Chiffren winken nicht mehr, wie im Surrealismus, mit Bedeutungen, sondern gittern eine hauchzarte Stimmung ein, die sich gleichsam in der Schwebe mitteilt. Der Leser muß warten, bis das Gedicht sich in ihm selber intoniert, im Gleichklang der Schwingung selbstverständlich wird.
Die lyrische Szene ist großräumig und von leichtestem Umriß:

Manchmal ist der Himmel
sehr blau über dem Grab
der enthaupteten Stunde.
Eine große Hand
zog in der Ferne
die steinerne Linie des Horizonts.
Junge Katzen spielen unterdessen
mit der heimatlosen Zeit,
da der methodische Schrecken
des Mittags von ihr abließ
(…)

Landschaften stehen auf und zerfallen im Moment des Anblicks, seltsam überbelichtet von den lautlosen Blitzen einer Erkenntnis, die den statischen Augenblick nicht mehr zuläßt. Im Schweigen und in der Stille – den Fallen für schwächere Talente – sammelt sich Drohung. Jedes Zeitelement ist Spannung. Er hat einen Pfeil auf der Sehne, ein geistiges Geschoß, das nach dem Ende des Gedichts unweigerlich trifft.
Mancher Freund Krolowscher Lyrik wird den unheimlichen Zug, der der Naturidee der neuen Gedichte eine sonderbare Benommenheit gibt, bedauern. Aber es ist kein Zweifel, daß ich gerade in ihm eine reifere Qualität des Weltbewußtseins aussagt. Es ist das Bewußtsein von der eigenen Eingebundenheit in die unaufhaltsamen Abläufe irdischer Existenz, das stoisch oder religiös ausbalanciert werden könnte. Die Götter (etwa Wilhelm Lehmanns) aber sind bei Krolow nur Mythologie, mit der man ironisch umgeht, sterbliche Partner für das Schachspiel um den Augenblick. Hinter Hölderlins elegischer Wahrnehmung vom Schwinden und Fallen „der leidenden Menschen“ ins „Ungewisse“ steht bei Krolow „das gesichtslose, das lautlose Gespenst: Die Zeit nach seinem Tode!“ Von solchem Erkenntnisstand ab wird selbst alle Erinnerung eine „poröse Materie“, durchlässig für letzte Zweifel und Infragestellungen. Die Gegenwart ist ohnehin ein unübersehbarer Zustand bedrohlicher Verwandlungen. Eine philosophische oder religiöse Balance (wie bei Benn oder Langgässer) wird bei Krolow nicht gesucht. Was sich bei ihm dem Sog ins Nichts widersetzt, ist romantische Ironie, in kleine feste Sprachkristalle verdichtet, eine melancholische Geste, die das sinnlose Spiel mit dem vorbekannten unfairen Ausgang so beiläufig wie möglich annimmt und mitspielt.
Die Fremdheit der Erde, welche die Kontrasignatur dieser Verse ist, bleibt keiner irdischen Erscheinung, weder Mensch, noch Pflanze oder Bild, erspart, sie macht alles flüchtig, schwebend. Und als Flüchtigkeit wird hier alle Existenz aufgezeichnet. Eine merkwürdige Selbstbejahung gewinnt diese lyrische Stimme nur im erotischen Gedicht, selbst wenn es von Überwältigung und Abschied durchkreuzt ist:

Die mit Kreide
gezogenen Herzen der Sage
beginnen noch einmal zu schlagen,
leuchten auf an der Wand
(…)

Aber auch hier stellt die Einsamkeit ihre Mauern auf, wenn „die frigide Nacht kommt“. Die Robinsonade des Individuums auf seiner treibenden Insel endet zuletzt mit einer erstarrenden Statue:

Gezählt sind alle Blitze,
alle Streichhölzer, die übrig blieben.
Bis man es leid ist,
und den letzten Wimpel
im Meer versenkt.

Das wäre ein letztes Wort, wenn es letzte Worte überhaupt geben könnte. Krolows lyrisches Ich widerstrebt selbst allen unwiderruflichen Verfestigungen. So wird der „letzte Wimpel“ am Ende des Bandes wieder neu aufgezogen, wenn das Zeitgedicht den Widerstreit zwischen Gewalt und Freiheit aufnimmt. „Da der Zyklon sich nähert“, bietet der Dichter „das grüne Denken des Laubes, die Glocke Nachtigall darin und die Droge Sommer und Stille“ mit fast polemischer Heftigkeit wieder an. Auch dieses Angebot bleibt von der entsetzten Frage gestört:

Lohnt es sich noch,
nach den Blumen zu sehn,
die mit den zärtlichen Worten
umkommen?

Und die tiefste Resignation vor der Geschichte weiß:

Übrig bleibt schließlich die Hand,
die sich um eine Kehle legt.

Doch würde man Karl Krolow trotzdem zu banal verstehen, wenn man seinen Gedichten nur Totenfeiern ablesen wollte.
Die Fraglichkeit alles Seins auf dieser fremden Erde spielt unerkennbaren Sinns mit den zufälligen Fragmenten unserer Lebenszeit. Dieses Spiel ist in der Form des Gedichts aufgehoben.

Heinz-Winfried Sabais, Darmstädter Echo, 16.2.1960

Gedichte

Eine nicht geringe Anzahl der heute Dichtenden hört sich gern als „modern“ bezeichnen, was etwa sagen soll „zeitnah“, nicht von gestern. Dieses, jetzt auf allen Gebieten von der Reklame albern mißbrauchte Wort, wurde jedoch seinerzeit von Baudelaire ernsthaft in die Kunstbetrachtung eingeführt, aus Opposition gegen eine Romantik, die noch wähnte, eine Gegenwelt zur materiell mächtig aufstrebenden Bürgerlichkeit zu sein. Baudelaires Haltung der Vergangenheit gegenüber war ruhig schätzend und betrachtend; über ihren Werten, das war seine Meinung, sollte die Gegenwart nicht vergessen werden:

il s’agit de dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de poétique dans l’historique, de tirer l’eternel du transitoire.

Das Gedicht müsse, selbst durch die Symbolik niedriger Bilder, hinweisen auf eine Region über dem Leben, die freilich unbestimmtes Postulat in Permanenz bleibt, niemals zu erreichen ist. Mensch und Ding werden so durchdrungen, daß das Menschliche zum Material neben anderem des selbstherrlichen Dichtergeistes reduziert erscheint.
Alltägliche oder „große“ Gefühle finden keine Verlautung. Der, vielleicht selbstgefällige, Leser soll vielmehr herausgefordert werden – épater le bourgeois – durch Befremdendes, Brutales, Exotisches, Skurriles in Bild und Sprache. Das „Befremden“ wurde später von Mallarmé geübt, mit komplizierteren und anspruchsvolleren Mitteln, in derselben Absicht: den Sinn auf höhere, unbekannte und unerkennbare Regionen hinzulenken. Einst, nachdem er einem Freunde ein Gedicht vorgelesen, griff er zur Feder und neigte sich über das Blatt „pour y mettre encore un peu d’obscurité“.
Die von Frankreich ausgehenden Tendenzen haben sich im spätem neunzehnten und noch sichtbarer in unserm Jahrhundert in Kreisen des europäischen Schrifttums durchgesetzt. Nicht das Was, das Wie war fortan das Wesentliche. Hierzu wäre noch zu bemerken, daß die romanischen Stifter der Lehre bis zu Valéry formbewuß, somit, auch wo sie gewollt deformierten, Gestalter geblieben sind, wohingegen im deutschsprachigen Dichten hauptsächlich auf die Autarkie der Verfasser abgestellt wurde. Das Ergebnis: in zunehmendem Maße Abdankung der durch die Jahrhunderte überlieferten Kunstmittel, Verzicht auf erfüllte Rhythmen, auf Melos, Reim, organische Bildeinheit, Architektonik eines tragfähigen Sprachgefüges – als auf „Unwahrheiten“, wie kunst-unbeflissene Veristen sagen (unwahr wäre, so bemessen, auch Mozarts Musik, die gewiß nicht der Ausdruck seiner Zeit- und Lebensumstände sein wollte). Da es seelische Halbheiten und überall in unserem zivilisatorischen Betrieb Fragmentarisches gibt, ward solches hereingeholt, um auf diese Weise dem Gedicht den Charakter des Abgründigen und Geheimnisvollen, oder den einer „unkonventionellen“ Sinnbildlichkeit zu verleihen, was Mallarmé durch spirituellere Verfahren zu verwirklichen verstand.
In summa hat die Freiheit, die man meinte, sich vornehmlich als Auflösung erwiesen. Doch klingen im heutigen neuzeitlichen Dichten sporadisch die… Ismen nach, die wir seit dem Expressionismus kennenlernten (dem Kreativismus dürften bald weitere folgen).
Von den oben verzeichneten Autoren haben alle, wenn auch in verschiedenem Grad, teil am Wesen und den Errungenschaften modernen Dichtens. Am entschiedensten verschrieb sich beiden, wie schon früher, wieder in seinem neuen Band Karl Krolow. Ungleiche Zeilenlängen schließen sich bei ihm zu einem Ganzen, das meist einen Zustand wirksam vermittelt, ungeachtet der Unterbrechungen durch Nichtiges oder Absurdes. Alles ausgesagt in harter Objektivität. Unverhoffte Zusammenhänge werden angetönt. Das Ich des Verfassers jedoch verharrt in Schweigen.

MIDI

Eine Gruppe weißer Baskenmützen.
Wer sich ihr nähert,
Muß mit goldenen Schultern und Händen
Ueber den Platz.
Der Schattenfisch ließ sich an dieser Stelle
Noch gestern fangen.
Jetzt lebt er auf dem Grunde
Leerer Weinfässer in Hauseingängen.
Midi, gegerbt von Katzenharn!
Eine dünne Glocke fällt einer anderen
Ins Wort.
Zwei kraftlose Augäpfel
Werden vom Licht geerntet.

L., Die Tat, 14.5.1960

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Peter Alt: Reine Lyrik und wilder Gesang
Die andere Zeit, 3.12.1959

Curt Hohoff: Lyrische Reiche und Provinzen. Sammelrezension
Süddeutsche Zeitung, 4./5./6.6.1960

Josef Mühlberger: Lyrik am Scheideweg
Welt und Wort, Heft 5, 1960

Heinz Piontek: Lyrik soll nicht säuseln
Der Tag, 6.3.1960

Heinz Piontek: Gedichte von Karl Krolow
Neue Zürcher Zeitung, 30.10.1959

Heinz Winfried Sabais: Von der Fremdheit der Erde
Darmstädter Echo, 16.2.1960

Friedrich Rasche: Kaleidoskop der Lyrik. Sammelrezension
Hannoversche Presse, 17./18.12.1960

Peter Schümann: Lyrische Geheimzeichen
Münchner Merkur, 5.12.1960

Werner Vordtriede: Benennungen
Neue Deutsche Hefte, Heft 71, 1959/60

Heinz Weder: Die neuen Gedichte von Karl Krolow
St. Galler Tagblatt, 27.11.1959

Alfredo Dornheim: Siete poetas y un tema: la realidad […]
Boletin de estudios germanicos (Mendoza), 1961

 

Vernunft ist etwas Sicheres

− Festrede zum 70. Geburtstag von Karl Krolow in Hannover. −

Die Entwicklung der neueren und neuesten Poesie ist ein artifizielles Abenteuer, dessen Folgen nicht auszumachen sind. Es ist ein von langer Hand vorbereitetes Abenteuer und erstaunlich nur für denjenigen, der nicht bedenkt, daß Poesie eine konsequente Sache ist.
(„Die Rolle des Autors im experimentellen Gedicht.“)

Im allgemeinen gilt: wer sich versteckt, hat etwas zu verbergen. Es sei denn, solches geschieht als Kinderspiel. In die Jahre gekommen, versteckt sich der Mensch vor Menschen, denen er entgehen will. Verständlich. Der Dichter versteckt sich im Gedicht. Warum?
Warum trägt man Masken, und wer zeigt schon sein wahres Gesicht? Aber gerade das war es doch, was man suchte, im Gedicht, früher. Lange genug ist das her. Eines Tages ging es um die Zulässigkeit der poetischen Individualität im Gedicht. Was ist denn das, werden Sie fragen: die poetische Individualität? Ganz einfach: wenn Poesie und Individuum eine Einheit sind nach Form und Inhalt, unteilbar in Ausdrucksform und Erscheinung. Eines Tages waren die Inhalte weg. Die individuellen und die poetischen. Das hatte mancherlei Gründe. Vor allem solche des Kulturzerfalls. Bewußtseinskrise war dafür nur ein Stichwort. Ein anderes hieß Grundlagenkrise. Ein zu weites Feld, um es jetzt abschreiten zu können. Nichts war mehr deckungsgleich, zerfallen waren die Kunstformen und die Erlebnisformen. So kam es zum Verschwinden des Autors hinter seinen poetischen Gegenständen. Neue Formen mußten einem neuen Bewußtsein Ausdruck geben. Um die Jahrhundertwende wurde das akut, aber es zeigte sich bald auch das Fatale: je gründlicher das Ichbewußtsein sich aufgelöst hatte, um so lauter wurde es zitiert. Der Expressionismus überstürzte sich in der Heranrufung von Ich und Welt, von Gott und Menschheit. Die Zugehörigkeit aller Bestandteile dieser Welt zueinander war fragwürdig geworden, damit auch diejenige von Dichter und Gedicht. Die Identität war ins Wanken geraten. Soweit die Geschichte.
„Die Reduzierung der Anteilnahme des Lyrikers an seinem Text ist inzwischen sehr weit gediehen.“ Ein Kernsatz des Essayisten. Wir befinden uns Anfang der 60er Jahre. Die Rolle des Autors im experimentellen Gedicht. Angesprochen sind vorwiegend Texte der Konkreten Poesie. Aber das Phänomen ist ein allgemein gültiges, seit der Abstraktionsprozeß des Modernismus in seine Endphase getreten ist. Die poetische Individualität ist insgesamt fragwürdig geworden. Das sind keine Thesen, das sind Tatsachen, und der In-Frage-Stehende konstatierte sie mit geübter Kühle. Das betrifft im besonderen die poetische Emotion, das seelische Engagement, die Stimmlage, sofern sie pathetisch sich emporschraubt, das betrifft insgesamt die Anstrengung im Gedicht, denn sie zeugt von dem, was nicht sein darf. Weil es der Wahrheit der Verhältnisse zuwider ist. Die Negation als Grundverhaltensform des künstlerischen Modernismus ist ja keineswegs eine Marotte, so wenig wie der heftige Abstraktionsprozeß von Anfang an. Die Reduktionen der Künste sind der konsequente Ausdruck eines gestörten Weltverhältnisses, das unser Verhältnis zur Welt ist. Die deutsche Lyrik hat das zwar früh begriffen, aber doch nur in wenigen, unbeachteten Vertretern. Etwa denen der Neuen Wortkunst. Oder im dadaistischen Lautgedicht. Im allgemeinen überwog der Expressionismus, und damit jene Innerlichkeit, für die wir berühmt und berüchtigt sind.
Solchen Exzessen, die lange vorhielten, ist unser Autor entgegengetreten – ich spreche mit Absicht in verdeckter Rede – die überanstrengte Attitüde des Gefühls, des Persönlichen, der stomichen Annexion muß ihm von frühauf zuwider gewesen sein. Lakonisch treten in seinen Essays die Feststellungssätze hervor. „Die Poesie ist in unserem Lande in bedeutendem Maße ein Produkt der Strapaze, der überanstrengten Sensibilität.“ Über das Lakonische in der modernen Lyrik. Die Poesie ist an der Poesie erstickt. Und das hat Tradition in deutschen Landen. Wird der Lyriker von der Leidenschaft zur Poesie überwältigt, ist sein Metier schon ramponiert. Zu großes Beteiligtsein, zu starke Hingabe an den Stoff, die daraus resultierende Identifizierung, solche Gefühlslagen verderben notwendig das Gedicht. In der Tat, das sind poetische Maximen, von ihrer Beachtung hängt entscheidend die lyrische Qualität ab. Die Kardinaltugend des Lyrikers heißt nun einmal Distanz. Thesen und Tatsachen sind deckungsgleich in dieser apodiktischen Poetologie des Poeta doctus. Seinem Verdikt fällt rückblickend auch die Rilkesche Rühmung zum Opfer.
Wer spricht hier? Ein Theoretiker? Nein, ein Lyriker, der in eigener Sache spricht. Auffallend engagiert für jemanden, der nicht auffallen möchte. Etwas muß angeboren sein. Distanz zum mindesten. Dazu ein hohes Maß an kritischem Bewußtsein. Die Kombination aus Lyrik und Essayistik hat in unserem Jahrhundert ihren hohen Stellenwert, weil sie eine wichtige, nämlich kritische Funktion ausübt. Namen will ich nicht nennen, weder im französischen noch anglo-amerikanischen Bereich, sie sind ohnehin bekannt. Und wie sollte ich Namen nennen, wenn ich bisher nicht den Namen dessen nannte, um den es hier geht. Aus Vorsicht gleichsam, aus Rücksicht vielleicht vor jener Tugend, die dieser Autor allen Tugenden voranstellt: Diskretion. Und doch geht es heute um ihn, nicht nur um sein Werk. Sie hören schon, wie sich das anhört: nicht nur um sein Werk. Worum sonst? Was ist der Autor ohne sein Werk, und vice versa, wie gäbe es dieses ohne ihn? Das Œuvre. Titelmäßig in einem hohen Plural zu verzeichnen, wie das hier der Fall ist, und darüber geschichtet der Berg der sogenannten Sekundär-Literatur. Von dieser soll heute gar nicht erst die Rede sein, das erleichtert schon manches, schließlich hat es der Autor nicht gewollt, daß solches monumental über ihm und seinem Werk aufgetürmt wird. Fast schon ist Archäologie erforderlich. Im übrigen, manches beachtenswert, aber wie soll man, in der gebotenen Kürze, zu dem vordringen, um den es hier geht? Also, was hat der Autor mit seinem Werk zu tun? Wahrhaftig, kein leichter Verhandlungspunkt, wenn derjenige, um den es geht, erst erfunden sein will. Nach Maßgabe seiner eigenen Forderung, und die sollte man respektieren.
Die Situation ist brisant. Wir müssen ihm voraus sein, weil er sich entzieht. Wir besteigen die Zeitmaschine, um dem Flüchtenden auf die Spur zu kommen. Fast amüsant ist die Situation. Wir befinden uns im 21. Jahrhundert. Wir halten Rückschau, wir sind diskret, wir suchen, um das einmal amtlich auszudrücken, den Repräsentanten des lyrischen Modernismus in der letzten Jahrhunderthälfte, des 20sten natürlich. Denn der Postmodernismus ist ja inzwischen auch schon wieder in die Jahre gekommen. Wir halten uns an ein Wort des schon georteten Autors. Die ohnehin „fadenscheinige Individualität des Lyrikers“, so ist zu lesen, hatte einen letzten Stoß bekommen. Nicht gerade den Todesstoß, aber beinahe doch. Zerfallen sind die organisierten Besonderheiten der Person, das Einmalige ihrer Existenz, ihres Selbstbewußtseins. Die Offenheit der personalen Struktur ist phänomenal. Nicht tragisch, wohlbemerkt, auch ist von existentieller Befindlichkeit nicht die Rede. Schon gar nicht von Geworfenheit. Was nicht besagt, daß unserem Autor diese Sprache nicht begegnet ist, nachweislich hat er sie studiert. Und offenkundig als zu schwer befunden. Mit ästhetisch leichtem Gepäck ist er der Ontologie davongestiegen, gerade der fundamentalen. Wenn dem Befinden überhaupt noch Beachtung zukommt, dann gebührt ihm vielleicht ein Adjektiv: porös. Der Autor verwendet es gerne für seine Gedichte, auch spricht er ihnen dezidiert die Eigenschaft des Offenen zu. Licht-, luft- und geistdurchlässig habe das Gedicht zu sein. Kein Wunder, daß der Autor solcher Gebilde erfunden sein möchte. Wie sollte es anders sein, spezifisch ist das Gewicht der Schwerelosigkeit. Nun sagt das ganz und gar nichts darüber aus, wie schwer dieses Gewicht zu tragen ist. Nur selten äußert sich der Träger selbst dazu, man muß die Ohren schon spitzen, um vom Geräusch der Druckbelastung etwas zu vernehmen.
Wie schnell ist alles verstellt, wenn das Offene fehlt. Die Offenheit zur Welt und zum Ich. Mehrdeutigkeit ist geboten. Der Verlust eindeutiger Information ist zu akzeptieren, gerade im Hinblick auf die Person. Das Offene als Merkmal des Kunstwerks läßt Rückschlüsse zu. Stellt Forderungen. Und damit sind wir mitten im Schattengefecht. Der Autor führt es uns vor, er stellt sich vor, indem er sich aufteilt. Die Rede ist von einem Dichter, der ausweicht in seinen Gedichten, der sich nicht festlegen läßt, der auf der Flucht ist, ständig, der sich nicht aufhalten läßt. Es geht um die Freiheit. Dieser Poet mit der Tarnkappe wirft zusätzlich noch Nebelgranaten, spaltet sich auf in Verfolger und Verfolgten, läßt den Verfolger verdutzt feststellen:

Es ist wahr: ich sehe mich vergeblich nach Ihnen um. Man hat mir gesagt, daß es schwer sei, Ihrer habhaft zu werden, und ich habe schon manchmal gemeint, es gäbe Sie gar nicht, wenn ich nicht von Ihnen Gedichte gelesen hätte.

Der Verfolgte kontert wie Gulliver:

Ich werde mit Ihnen handgemein, indem ich Ihnen durch die Finger schlüpfe.

So bleibt der Verfolger allein, wie es ihm gebührt, und der Verfolgte löst sich auf – in Luft. Wenn jemand eine Rede hält, über ihn, was dann? Er muß zum Luftschiffer werden, wie Giannozzo, aber auch das garantiert keineswegs den Erfolg. Als sei Giannozzo jemals hinter Ariel hergewesen. Zurück zum Boden. Zu bieder wäre es, unterwegs zu sein mit Schmetterlingsnetz und Botanisiertrommel, als Metaphernjäger, als Sammler. Gewiß, sagt der Poet, ich habe Gedichte hinterlassen, Zeilen auf der Flucht, aber die Richtung, so er selbst, ist mit Hilfe eines Kompasses nicht zu messen. Jede Brise verführte ihn, wenn er sie im Gesicht spürte. So er selbst. Und wenn er ihr zu vertrauen begann, sprang der Wind um, und er war sprachlos vor Überraschung. Nein, dieser Mann führt uns nicht an der Nase herum, er wird selbst geführt, wird gegangen, so sagt er Im Gehen. Leben – das ist ein Sich-Gehen-Lassen. So, wie man getrieben wird, unmerkbar vom Wind. Die Füße merken nicht, daß sie gebraucht werden.
Ein merkwürdiger Zeitgenosse, wir merken es schon, mit den gewohnten Gehwerkzeugen ist ihm nicht beizukommen. Denn die Wegstrecken, die er zurücklegt, auch das sagt der Schattenfechter, sind nicht abmeßbar.

So wenig ich die Richtung angeben kann, in der ich mich fortbewege, so wenig halte ich vom Messen von Entfernungen. Ich kann das Tempo, das ich anschlage, nicht einmal vermuten.

Hinzufügen müsse er, fügt er listig hinzu, daß er nicht einmal wisse, ob es horizontal oder vertikal weitergehe. Manchmal benutze er Fallstricke, manchmal lege er Leitern nach oben an – in die Luft.

Sind Sie noch nie darauf gekommen, daß ich mich ebenso gern nicht von der Stelle rühre?

Die Leibhaftigkeit von Scherenschnitten und Schattenrissen kann beängstigend sein, wenn sie zwischen Tisch und Wand zum Leben gekommen sind, dieses Leben nicht wieder aufgeben können, an ihm hängen, so wie die Verfasser von Versen an ihren Versen hängen, So der Verfolger, fast penetrant. In der Tat. Gedichte hinterlassen Spuren, nur, wenn man sie sichern will, ist derjenige, der sie schrieb, schon wieder über alle Berge. In den komfortabelsten Siebenmeilenstiefeln, wie er uns gesteht. Für emsige Arbeiter hinterläßt er höchstens die Problematik des stofflosen Gedichts. Als Entzugs-Syndrom.
Den Kopfjägern und Stoffjägern stellt er Fallen, wie er indigniert bemerkt, Luftfallen, dahinein mögen sie fallen und sich wundern, daß sie nichts finden. Bedeutungen finden sie nicht, es gibt sie nicht mehr:

wie die großen und kleinen Gegenstände gar nicht mehr beschwichtigt werden müssen, weil sie ohnehin zerfallen, weil das Flüstern zum Schweigen gebracht werden möchte, mit dem es sich in einer langen Umarmung befindet. Wollten Sie auf das alles Jagd machen, indem Sie Stoff sagten?

So der Verfolgte. Und doch ist im Gedicht die Stunde, die Minute aufgehoben, in der es geschrieben wurde. Und damit auch der Autor. Aber auch wieder vergangen, wenn man ihn sucht, den Dichter. Seine Gedichte sind Hinterlassenschaften empfindlich notierter Augenblicke, Von Kulmination zu sprechen, wäre schon zuviel. Die Auslassungen sprächen dagegen. Und doch summiert sich gerade aus diesen, den zarten Gebilden der Auslassung, ein Bild, fast ein Porträt. Das leugnet nicht einmal der flüchtige Poet.

Doch bedenken Sie, wie es war, als ich sie schrieb! Man sucht sich seine Gedichte nicht aus, wie man sich die Geschichte seines Lebens nicht aussucht. Sie haben einiges mit der Konstitution zu tun, die man mitbekam.

Bruchstücke seiner Konstitution also überläßt er ihnen, der Autor seinen Gedichten. Damit müssen sie auskommen und weiterleben. Das Dasein eines Gedichtes ist allein auf sich selbst verwiesen. Verstreutes Fluchtgepäck, das zurückbleibt. Das ist eine Art von Bekenntnis, bei aller Zurücknahme. Denn das Aufreizende sei doch, bei allen Worten, die das Gedicht macht, daß es von einem gewissen Moment an schweigt. Dieses Schweigen zeugt von der Absenz des Autors. Man solle ihn gefälligst sich selbst überlassen. So der Verfolgte zum Verfolger. Den Flüchtenden seiner Flucht, ins Offene, wohin sonst, seinen Ungewißheiten, seinem poetischen Schicksal – hätte man früher gesagt. Aber was bedeutet hier früher, und was bedeuten alle diese Wörter überhaupt noch? Schattengefechte. Das Alltägliche bleibt zu tun. Das Schwierigste. Die Vorstellung immer erneut, daß die einfachen Vorgänge einfache Vorgänge geblieben sind und nicht zur Routine verkommen.

Wer gibt schon in diesen Dingen ein Training zu! Die Verzweiflung näme überhand. So macht man allenfalls Bekanntschaft mit der Resignation.

Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Das ist der letzte Satz vom Mythos des Absurden. Schattengefechte. Was bedeuten die Wörter noch – etwa Melancholie und Angst bei jemandem, der bei jedem Wetter Vokale auslegt wie Leimruten und lauert auf die Worte, die sich auf diese Weise fangen lassen? So er selbst. Er habe gescherzt mit der Melancholie, um sich über Wasser zu halten. Gesteht der Schattenfechter.
Einen Spieler nennt er sich, der die Lyer hinter der Bühne versteckt hat. So spricht er, indem er sein Alter ego sprechen läßt, dieser Spieler, der die eigene Koketterie anspricht und sich selbst einer gefährlichen Munterkeit bezichtigt. Wenn es um die Einordnung seiner Person, seiner Werke geht. Dann stiftet er in der Tat ein Übermaß an Vieldeutigkeit. Buchstabentreue Dichter habe es nie gegeben, betont er apodiktisch. Da hat er recht. Die dichteste Dichtung war immer noch die offenste.

Was mich betrifft, so beschäftige ich mich damit, die poetischen Zimmer immer geduldiger auszuräumen und ihr Inventar an einen Himmel ohne Ergriffenheit zu versetzen. Die Wände meiner Wohnung werden immer leerer.

Daß etwas dicht wird durch Aussparung, ist eine Faustregel der Ästhetik. Ausführungen erübrigen sich. Von der Minimalisierung der Künste im 20. Jahrhundert wäre noch einmal zu reden, Vergleichsfelder ließen sich eröffnen, Abstraktion und Reduktion bis hin zum Monochromen wären zu besprechen, Negation und Anti-Kunst zu durchleuchten, aber unser Autor wäre schon wieder über alle Berge, auf und davon, wie das bei Kindern der Fall ist, die ein Spiel langweilt. Daß ihn seine Gedichte manchmal einholen, steht auf einem anderen Blatt, dann wird das Fluchtgepäck zum fliegenden Koffer, der ihm nachreist und seinen Inhalt über ihn ausschüttet. „Manchen Gedichten kann man anscheinend nicht davonlaufen.“ Kein Bekenntnis, aber doch ein lakonischer Lebenskommentar. So endet das Schattengefecht. Der Verfolger erreicht den Verfolgten. Diese Gedichte, seufzt dieser fast, diese rachsüchtigen Gebilde, sie zahlen einem die Labilität heim, der man nachgab, als man sie zeugte. Sie wollen mich nicht loswerden, klagt der Autor, das ist ihre Rache. „Sie wollen mir ähnlich bleiben.“
Diese rachsüchtige Treue. Der Fadenscheinigkeit der Individualität hängt sie immer noch an. Die Kunst hat sich vom Künstler noch nicht getrennt. Noch nicht ganz. Wie ein Aufatmen geht es durch das Raumschiff, das im 21. Jahrhundert kreist. Schon wird die Rückschau humaner und der Auftrag greifbarer. Sammlung ist geboten, zunächst das Vorliegende: so also endete das 20. Jahrhundert, mit solchem Bewußtsein, mit solcher Nervenlage, mit solchen Schwingungswerten eines sich selbst registrierenden Bewußtseins. Wenn schon keine Individualität mehr im Sinne jenes Unteilbaren, wie es Goethe vor Augen stand, so doch eine individuelle Sprachform. Das heißt: eine unverwechselbare. Und im übrigen: wer war denn damals noch er selbst? Im Zeitalter der frenetisch demonstrierten Kollektivismen. In diesem Punkte war er widerständig, und nicht nur in diesem, unser Autor. Also die Sprachform, einzigartig, nicht angepaßt, nicht modisch überformt. Beständig aus eigenem Antrieb. Die Bücher verraten es: der Repräsentant ist gefunden. Viele Bücher sind es, wie gesagt, die stellvertretend stehen für ein Gehirn, für ein Nervensystem, für einen einzigen Menschen und doch auch für seine Zeit. Natürlich ist das bestürzend im fortgeschrittenen Zeitalter des Analphabetentums. Jeder von uns kann sich vorstellen, was geschehen ist inzwischen. Dieser Mann, staunt man, hat diese Bücher nicht nur geschrieben, er hat sie gelebt. Mag er sie noch sosehr verleugnen, die Arbeit, die Mühe. Sein Leben lang hat er daran gearbeitet. Ein Leben hat er damit beschrieben. Umschrieben, wie man magische Kreise zieht. Mögen es Schatten sein, die da umzirkelt sind, er besteht ja darauf, so sind es doch die seinen. Auch andere warfen solche Schatten, er hat sie genau beobachtet.
Nehmen wir an, solche Rückschau geschieht hier in Hannover, der Geburtsstadt des Autors, das Interesse ist verständlich. Man wählt einen Stichtag, ein historisches Datum, man nimmt das Jahr 1985, der berühmte Sohn dieser Stadt, Mitglied hochangesehener Akademien, Ehrendoktor, Akademie-Präsident über Jahre, ausgezeichnet mit vielen Literaturpreisen, Träger des Georg-Büchner-Preises und großer Verdienstkreuze, dieser Poeta laureatus ist siebzig Jahre alt geworden.
Er sieht nicht so aus, die Bilder bezeugen es, das Wort vom biblischen Alter ist obsolet. Im Gegenteil: man erinnert sich, es war die Epoche einer nicht kleinzukriegenden Jugendlichkeit. Man schaut zurück, man rechnet zurück, 1915 wurde er geboren, seine Eltern nannten ihn Karl, vermutlich des Stabreims wegen, sie wählten recht, denn es spricht sich leicht und ist einprägsam: Karl Krolow. Lakonisch fast klingt der Name, nüchtern, rhythmisch geschlossen. Sollte das der Name eines Dichters sein? Da war man 1915 noch anderes gewohnt – Hugo von Hofmannsthal etwa oder Rainer Maria Rilke. Karl Krolow – mit diesem Namen mußte sich notwendig etwas anderes entwickeln. So geschah es. Die Bücher geben Kunde. Entsteigen wir der Zeitmaschine. Nehmen wir Buch für Buch in die Hand. Beginnen wir zu blättern. So, wie es der Autor empfiehlt: locker, entspannt, mit gut durchlüftetem Gehirn. Nicht ohne Grund spreche ich von frischer Luft, eine luftige Beschäftigung nennt dieser Dichter selbst sein Schreiben (Nichts weiter als Gedichte). Hintergründig, wie es seine Art ist, denn was geschieht nicht alles mit und in der Luft – man kann in sie gehen, sie anhalten, man kann sie aber auch reichlich schlecht finden, wenn man zum Himmel schaut, der keiner mehr ist. „Zum Himmel stinkt, was einmal Himmel war.“
Das schrieb er jüngst, und man riecht es gleichsam, was ihm die Luftverhältnisse bedeuten. Schon als Kind drängte es ihn nach frischer Luft. So schrieb er Gedichte, zur Verwunderung der Eltern, so beschreibt er es selbst, eine luftige Beschäftigung, wie gesagt: für Beobachter. Für eine Umwelt, die anderes gewohnt ist. „Verseschmieden, nannte man das in meinem Elternhaus.“ Eine kindliche Beschäftigung, zunächst, wie manche andere, man nahm das hin, was blieb schon übrig.

Nichts als Luft – für andere, für die meisten auf alle Fälle. Ich merkte es ihnen an. Sie hielten mich bald für einen Luftikus, wie ich beim Schreiben von Gedichten mehr und mehr die Luftlinie genoß, auf der ich balancierte und das bekannte Kopfschütteln, an das ich mich zu gewöhnen versuchte und das mir schließlich gleichgültig war…

Eine Empfehlung für junge Autoren, nicht nur für diese, überdies vorbildlich in der Zurücknahme von Pathetik und tragischem Selbstaufbau. Also Distanz, also Diskretion von frühan. Tugenden dieses Autors, gar nicht hoch genug einzuschätzen. Dem Gedicht geben sie sein spezifisches Gewicht. Es ist paradox: die Leichtigkeit der Struktur erhöht das Schwergewicht. Das ist ein Spezifikum aller modernen Künste, die von der Reduktion, von der Abstraktion leben. Surrealität ist dabei nur eine Ausdrucksvariante. Die Umgehung von Weltanschauung, von tragischer Attitüde im besonderen, schafft jene Oberflächen, die mit Spannung geladen sind, weil sie den Formelvorrat heutiger Existenz angemessen zur Verteilung bringen. Das Erleben neutralisieren, sagt Krolow, mit Blick auf Loerke, mit Chiffren arbeiten, nicht mit semantischen Versatzstücken des Gefühls. Den verbrauchten Sinn den Epigonen überlassen, dem Wortmaterial seine Autonomie zurückgeben, die Zeichenhaftigkeit der Sprache entdecken, immer erneut.
Das alles hat er von seinen Lehrmeistern gelernt, Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke, und er hat es ihnen gedankt mit der Klarheit essayistischer Analyse. 1935 las der Zwanzigjährige die Gedichte Lehmanns, über diesen kam er zu Loerke. (Literarische Vorbilder). Ihn faszinierte der lyrische Objektivierungsprozeß, den beide Dichter durchlaufen hatten, die Eliminierung des persönlichen Temperaments, die Zurückdrängung der Gegenständlichkeit im Sinne anthropologischer Fakten; ihn faszinierte der poetische Aperspektivismus, dieser moderne Raum-Zeit-Relativismus, und übernatürlich oder natürlich faszinierte ihn die naturmagische Komponente, insgesamt wohl der konzise lyrische Habitus; die spröde Äußerungsweise Lehmanns hebt er besonders hervor. Tendenzen zur späteren lakonischen Sprachbehandlung zeigen sich hier schon an, Reduktionsvorgänge im Stofflichen und Metaphorischen, Zurückdrängung von Aufwand, von Geste, zur gegebenen Zeit die Streichung des Reims. Lehmann und Loerke hielten zeitlebens an ihm fest. Aber wichtiger als diese äußere formale Bereinigung sind Stoff-Verflüchtigung und Bild-Verdünnung, als Termini schon unverwechselbar. Von Krolowscher Art auch die Weise der Würdigung: Bewunderung, aber kontrollierte Bewunderung, Enthusiasmus, aber mit aufmerksamer Kühle gepaart.

An Loerke lernte ich den Vorgang der Entindividualisierung einsehen, der für das Gedicht in unserer Zeit so wichtig und folgenreich sein sollte.

Den zornigen Ausbruch Loerkes gegen die dummen Gefühle in der Lyrik, den habe er sich gemerkt. Und so setzte jene Entwicklung ein, die zur Skelettierung von Stoff und Sinn führte, zur Autonomsetzung des Wortmaterials. Die Autorschaft wird zu einem bloßen Pilotenamt gemacht. (Oskar Loerke – mein Modell?)
Karl Krolow ist bei der Natur- und Landschaftslyrik nicht geblieben, wir wissen es, die Zeit dieser Dichtung war abgelaufen, aber es war nach seiner Auffassung auch zuviel Bedeutungsschwere dabei im Spiel gewesen. Letztlich war ihm diese Lyrik zu stoffbenommen, zu stoffbetäubt.

Ich versuchte – über die Jahre hin – den Worten größere Leichtigkeit und mit ihr größere Beweglichkeit zu verschaffen und der Zeichenhaftigkeit, der Chiffrenkunst eine Kunst der singbaren Formel einzuverleiben, der präzisen Zeichenreihe mathematisches Entzücken beizugeben, die geometrische Klarheit, die algebraische Sicherheit.

Zeichen und Chiffre, geometrische und algebraische Transparenz, das ist die Physiognomie, die der Modernismus in den Künsten zeigt, in der Malerei von Frankreich kommend, aber auch in der Dichtung, Mallarmé ist an erster Stelle zu nennen, der Kubismus kommt von Frankreich und der Surrealismus auch. Krolow-Kenner wissen, was sich hier an Thematik eröffnet. Mit den genannten Bereichen hat es arbeitsintensive Auseinandersetzung gegeben, nicht nur die harte Arbeit des Übersetzers ist damit gemeint. Auch das eine Lebensarbeit. Sie hat prägend eingewirkt auf dasjenige, was ohnehin schon ausgeprägt war. Bei Betrachtung des Tatbestandes gehen die Fäden hin und her. Französische Klarheit, romanischer Kalkül, Esprit, alles wird abrufbar und nichts ist gesagt von der Suche nach jener Verbindlichkeit, die über Individualität und Zufall hinausgeht. Von jener objektiven Schönheit, die aufscheint als Intensität der im Gedicht erschaffenen Bilderwelt.
Der Geist, das Geistige als sensuelle Fluktuation – nicht als das Geistige in der Kunst. Kein Evangelium, wie Kandinsky es gepredigt hat. Die Abstraktion der Poesie ist nicht gedacht und nicht geglaubt, sie ist von leichter, luzider Art, hat jenen Spielcharakter, der ästhetisch adelt, im Sinne des Artisten-Gotha, ist freibalancierende Ausdrucksform, Lebensform, ist einfach da. Von früh auf, so läßt uns dieser Dichter wissen, war er auf der Suche nach unauffälligen Gedichten. Solchen, die sammelten, was übrig geblieben war, in Stoff-Resten, Bedeutungs-Resten. Die Kunst des Object trouvé bringt sich in Erinnerung, die Collage, die Papiers collés der Kubisten, Picasso und Braque stehen näher als die Spiritualisten des Blauen Reiters. Das alte naturale Mimesis-Prinzip hatte ja vorher schon ausgedient. Aber immer noch gab es poetisch die Versuche, sich mittels metaphorischen Schnellfeuers Bild und Gleichnis von der Welt zu machen. Unser Autor war entsetzt. Das alles ging ihm entschieden zu weit: Ideologien und Dogmen, diese Direktheiten, diese Gegenstands-Hörigkeit. Auf nichts wollte er mehr zurückkommen, mit fast nichts wollte er auskommen. Als Reaktion – auf alles, was in der Kunst zuviel war. Und er betont das entschieden, dieser bekenntnislose Bekenner.
Seine artistische Kühle ist historisch und personal bedingt. Keineswegs vorhanden, weil die Tradition es befiehlt. Davor bewahrte den Kenner solcher Traditionen die Skepsis. Weil Leichtigkeit in Deutschland nicht zu Hause ist, zog es ihn früh schon nach Frankreich, nach Spanien. Wer konnte ihm den Erfolg solcher Ausflüge besser bestätigen als Hugo Friedrich. Dies sei nicht die Lyrik des Gefühls, sondern die des imaginierenden Auges, der kombinierenden Spracherfindung, die aus poetischer Sprache hervorgeht. Kontemplative Erneuerung von Welt durch poetische Entfremdung. Eine frühe, eine schöne, treffende Bestätigung. Insgesamt dieses Nachwort zu den Ausgewählten Gedichten (1962). In noch früheren Zeiten war die Literaturwissenschaft nicht so aktuell.
Karl Krolow, das ist unbestritten, steht am Ende jener Genealogie, die auf Baudelaire zurückgeht, dieser hatte das Prinzip der Deformation poetisch nutzbar gemacht, hatte die Phantasie freigesetzt, ihre ebenso sprengende wie neuschaffende Kraft. Wirklichkeitszertrümmerung hieß das dynamische Stichwort der Poetologie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Aus den Trümmern baut der Dichter eine neue, sachentbundene, also abstrakte geisterhafte Welt. Nicht eine geistige. Der Anspruch wäre zu hoch gegriffen, zu strapaziert in der Intention. Der Geist ist mit allen Idealismen im Dämmer der Vergangenheit verschwunden. Das ist so, und unser Autor findet das nicht einmal der Klage wert. Wenn selbst die Orientierung nach Raum und Zeit aufgehoben ist, wie sollte dann die Nautik des Geistes – der einmal über den Wassern schwebte – noch funktionieren? Diese Luftschiffahrtskunde hat sich aufgelöst – in Luft. Das klingt heiterer, als es zu ertragen ist. Denn die Auflösung erlebter Gegenständlichkeit und die damit verbundene Aufhebung der gewohnten, empirischen Ich-Struktur war und ist kein Kinderspiel. Daß Fragmente bleiben, Details, die im Montageverfahren neu arrangiert werden, meinetwegen zu einem poetisch strukturierten Subjekt, das ist kein Trost, das ist eine nackte Tatsache. Die Euphorien der Moderne sind verbraucht. Die Metapher hat das Bewußtsein ersetzt, gut, das wissen wir, mit Rimbaud hatte das angefangen, abenteuerlich im Fieber der Entdeckerfreude, über den französischen Symbolismus kam das vagabundierende Spiel der Phantasie nach Deutschland, eben jene Surrealität des imaginierenden Auges, aber was tritt in die Pupille. wenn das Spiel verspielt ist?
Es gibt Zitate – aber Zitate sind keine Antworten. Letztlich bleibt alles offen. Ich muß es gestehen, bevor ich zum Ende komme. Sie selbst haben festgestellt, was ich auslassen mußte. Ich habe ja nicht einmal Gedichte rezitiert. Gestatten Sie bitte, daß ich die kurze, mir verbleibende Zeit Ihnen mit intellektueller Heiterkeit verkürze. Ganz im Sinne dessen, den es hier zu feiern gilt. Die Heiterkeit des Aushaltens, des Durchhaltens. Die Tugend der Stoa. Die Überwindung der Schwermut – Gedichttitel aus dem Jahre 1949. Ja, wenn wir noch Zeit hätten, zu blättern, so ließe sich schon dieses und jenes finden. Parolen als Fluchtgepäck, weit verstreut. „Kein Kartenspiel der Schwermut mehr“ – dieser Appell blieb 1947 schon auf der Strecke. Und so geht das weiter. Zugegeben, es ist nicht die feine Art, dem Dichter die Zeilen aus dem Gedicht zu ziehen, um ihn zu überführen. Warum schließlich hat er sie versteckt? Überhaupt ist es schwer, über Gedichte angemessen zu sprechen. Seit einiger Zeit überläßt man ja ohnehin dem Computer das traurige Geschäft des Auszählens. Die Tränen und der Tod, die Schmerzen und die Liebe und die Herzen, die zerbrochenen natürlich, werden da auf Vordermann gebracht. In dieser Richtung ist bei unserem Autor allerdings nichts zu holen. Es sei denn, man könne den Computer programmieren auf dasjenige, was nicht in Erscheinung tritt. Lauernd oft in bösartiger Verschwiegenheit. Das Verstummen, das Schweigen und die Leere – über dieses lyrische Phänomen hat Karl Krolow 1960/61 gesprochen anläßlich seiner Poetik-Vorlesungen an der Universität Frankfurt. Ein Dokument sind diese Vorträge. Es erstaunt, wie gründlich das Zeitalter des Nihilismus zu Ende ist zu dieser Zeit. Das Nichts ist lange schon zu einem Stichwort verkommen. („Ode 1950“). Man leidet nicht mehr, wie man es früher tat, etwa genüßlich an der Leere. Man konstatiert, ganz einfach, so ist das, fertig. Man schweigt, man konstatiert das Schweigen. Man sieht Schatten, man hält sie fest, in Worten. Diese schwarzen Fahnen des Verstummens.
Ich greife, der historischen Klärung wegen, noch einmal zum Zitat.

Hinter solcher Schattenwand beginnt dann sehr schnell jener zugleich unheimliche und folgerichtige Vorgang des Verstummens, der auf ein Schweigen im Gedicht zutreibt, von dem die Dichtung heute – bei uns und bei den anderen – angefüllt zu sein scheint.

Dieses heute, wie gesagt, war 1961. Eine Schattenwelt hatte sich etabliert, Krolow sprach von Paul Celan. Mit Respekt, mit Distanz. Wie sonst. „Was zurückbleibt, ist Sprachlosigkeit, jene heftige Stille…“ Aber schon wieder halte ich mich auf mit dem, was er gesagt hat, über andere, über sich. Ein Bergwerk wäre zu erobern, Stollen für Stollen, den er getrieben hat. Die Zeit verstreicht. Und ich wollte, mit der gebotenen Leichtigkeit, das ist Leichtsinn, doch noch einiges sagen – über ihn, zu ihm hin und damit schon wieder an ihm vorbei. Über die Bücher der letzten Jahre, die Prosa vor allem, die unvergleichlich dasteht in ihrer Offenheit, in der verdeckten Unverdecktheit. Immer ist diese Prosasprache klar, sehr klar, hell bis zur Überbelichtung. Ohne syntaktische Nebelschwaden, die, grammatisch hochgewirbelt, die Bedeutungslosigkeit der Inhalte nur notdürftig verschleiern. Ohne Mystizismen, die heute wieder in Mode kommen, ohne pseudomythische Wühlarbeit überrascht diese Prosa mit der vollständigen Klarheit ihrer Sätze. Die Versteckspiele der artifiziellen Szene hat sie nicht nötig, sie hat etwas zu sagen, diese Prosa. Sie arbeitet ohne Deckung. Mit zarter Brutalität deckt sie auf. Das wagt niemand heute.
Diese Prosa ist rückgebunden in personaler Verbindlichkeit – und provoziert darum umso mehr. In lockeren, luziden Bilderketten reiht sie auf, was offenkundig der Fall ist, provoziert mit Wahrheiten, die eingefroren sind in Eiscubes. Stück für Stück, man wirft sie ins Glas und sie platzen mit einem hellen Geräusch, wenn der Whisky sie stört in ihrer Gefrorenheit. Diese Prosa ist unversöhnlich, sie hat das Bittere jenes Verismus, der bei aller Bitternis immer noch besser schmeckt als die Lüge.

Er wußte, daß er längst auf dem Wege war, den jedermann zu gehen hat, früher, sehr früh oder allzu überraschend später und zu spät und dann wie unter einem bestimmten Schock: – er würde zurückkehren in die physische Wahrheit. Er war zurückgekehrt und wußte in Wahrheit nicht, wie die Wahrheit auszuhalten war und wie die ganze Wahrheit, die sogenannte nackte Wahrheit beschaffen sein könnte…

So Späth Im Gehen. Dieser lässige Verismus spottet jeder Angst – nicht nur der vor Öffentlichkeit. Angst vor der Angst ist ein tiefsitzendes Symptom heutiger Psyche. Was aber bleibt, ist die Angst. Das Zeitalter der Angst ist vorbei, diese nicht. So wird sie beim Namen genannt. Hier stiftet nicht der Dichter, das Leben stiftet. Der Dichter sagt nur die Wahrheit, wird damit zum Anstifter. Er zündelt an der Befindlichkeit. Man möge verzeihen. Schließlich gibt es andere, angenehmere Geburtstagsthemen als die Wahrheit. Aber so ist Das andere Leben. „Es gab nichts mehr zu verheimlichen.“ Die Rede ist von Henri, dem leidenschaftslosen Helden der Geschichte. Völlig illusionslos verläuft sein Leben; mit Verhaltensschwankungen im Rahmen unserer täglichen Banalitäten. Die ewige Wiederholung der Dinge, darüber hatte schon Büchners Danton geklagt. Nein, von Sinnlosigkeit spricht man in diesen Kreisen schon lange nicht mehr.
Immerhin, es blieb noch dieses oder jenes. Es gilt, die kleinen Augenblicke aufzusammeln. Unauffällig. „Es muß nicht immer etwas geschehen und schon gar nichts, was auffällt.“ Derweil verstreicht die Zeit, grundiert von der Angst, Bewältigungsangst, free floating anxiety, wie der Erzähler trocken bemerkt. Keine Rede von Gefühl, alles nur pure Faktizität, hingenommenes Leben, Gebrauch und Verbrauch durch Umwelt. „Henri hatte das Gelebtwerden oft und auf die Dauer deutlicher empfunden als das Leben.“ Er erwartet nichts, er wartet nicht einmal. Wie kann eine solche Geschichte spannend sein, wird man fragen? Sie ist es nach Maßgabe ihrer sensiblen Genauigkeit, ihrer sensuellen Treffsicherheit, der Tastsinn gleitet über die Gespanntheit der Oberflächen, die Spannung der Haut läßt auf Tieferes schließen. Schließlich verbirgt sich darunter das Leben. Man kann es genießen. Der Melancholie ist kurzfristig Einhalt geboten, der Langeweile. Ein abendländisches Spektrum eröffnet sich. Acedia, die Krankheit mittelalterlicher Mönche. Dürer machte sich ein Bild von der Sache. Paracelsus auf andere Art. Im aufgeklärten 18. Jahrhundert ist das Syndrom dann nicht mehr zu verdecken. Wir sehen, Traditionen gibt es gerade dort, wo sie nicht reklamiert werden. Alkoholisch wird das Symptom bekämpft, auch das hat Tradition, das Löschen eines Brandes, der um so brennender wird. „Die Angst, die aus der Magengrube gekommen war, war scheußlicher.“ Henri befindet sich in guter Gesellschaft. Nicht nur historisch. Das Buch kam an. Sympathetisch reichte man dem Helden die Hand. Im Widerspruch zu dessen irritierender Lebensform eines ebenso gierigen wie gepflegten Alleinseins. Gerade das mag das Anziehende sein. Wiederum paradox, man vermittelt sich, man schreibt sich frei, von der Angst für Augenblicke, indem man schreibt: „Man bleibt mit solchen Angstvorstellungen für sich.“ Aber nun müssen wir ihn verlassen, unseren Helden.
Einen letzten Satz nehmen wir noch in unser Marschgepäck. „Es war Verzweiflung dabei.“ Und schon sind wir mitten Im Gehen. Diese fortgesetzte Geschichte einer heiter beschriebenen Depression. Endogene Depression ist ein starkes Wort heißt es wörtlich. Späth empfindet sie wie Musik, die eine Art Sterben ist, etwas Sehnsüchtiges, fast wie Verheerung. Also, dagegen angehen, dagegen anlaufen, mit dem Wind im Rücken, ohne Anstrengung, mit der Frage im Kopf, ob man denn jemals jemand gewesen sei? Unauffällig geht auch dieser Mann durch sein Leben, mit andauernder innerer Erregbarkeit, wahrheitsgetreu, wehrlos, mit trockener Deliranz. Ein gewisses Glücksgefühl ist ihm nicht unbekannt: „ein Vorhandensein von momentanem Glück an einem schönen Tag.“ Auch hier ist Robert Walser wieder nah. Er spürt gehend sein Rückgrat, dieser Spaziergänger, das genügt ihm einstweilen. „Alles lag offen, und dies war schon alles.“ Wie eine Ausrede kommt er sich vor, wie eine Verlegenheitsfloskel. Dabei äußerst reizbar, heftig bis zur Maßlosigkeit. Nervosität ist der entscheidende Motor des Poetischen. Jene Nervenreizungen, die an der Grenze balancieren, an allen Grenzen. Erregbarkeit, wie ein Warten auf etwas, das ausbleibt. Im Hinterkopf das Gefühl der Leere. Mit der Hand in der Luft Schriftzeichen hinterlassen. Luft ist gut für etwas, das sich auflösen will. Das Spätwerk, hätte man früher gesagt und vielleicht auf die Wanderjahre verwiesen. Das Motiv des Flaneurs wäre überdies anzuschneiden, Baudelaire und Benjamin wären zu bemühen. Unseren Spaziergänger kümmert das nicht. Er sieht den Gärtnern zu, wie sie die Bäume amputieren. Zwei Mädchen, die umschlungen gehen, das beobachtet er, Erinnerung steigt in ihm auf. Alles ist gealtert, nur die Unruhe nicht. „Es war eine Unruhe, die sozusagen ein für allemal Geltung für ihn hatte, die galt wie ein Schicksal.“ Hier spricht sich Autobiographisches unverdeckt aus, gibt Einsicht in das poetische Bewegungszentrum der Person. Ganz en passant. Immer noch diskret, aber in dieser Direktheit doch neu im Werke Karl Krolows. Es gibt nichts mehr zu verbergen. Das ist die Wahrheit. Das ist Literatur. Jene trockene Wahrheit, die in der Kehle nicht stecken bleibt. Die Faszination des Wahren mag eines der letzten Wunder sein auf dieser Welt. Genaue Wahrnehmung dessen, was ist. Zarte Empirie, auch das ein Wort, das zweihundert Jahre zurückreicht. Wohin sonst, als nach Weimar. Zärtliche Registratur, das wäre eine Formel, keine abschließende. Das Leben als erotisches Phänomen. Hier wird es aufgedeckt und damit gegenwärtig. „Man darf nicht nein sagen zum Lebensmut.“ Welch ein Wort.
„Über Biographien“. Dies als letztes, ein Gedicht.

Für eine Biographie ist es gut,
früh zu sterben. Die gestorbenen Dichter
sieht man noch eine Weile als Schwäne.

Ich kann dem nicht zustimmen, obwohl es stimmt. Wir hätten nicht den Band in Händen, in dem dieses Gedicht steht. Schönen Dank und vorüber – schon der Titel ist poesie pure. Er hat den Schmelz der Verführung. Gestatten Sie mir abschließend ein Geständnis. Ich halte diesen Gedichtband, der im vergangenen Jahr erschienen ist, für das Beste, was in den letzten Jahren überhaupt erschienen ist an Lyrik. Wenn Wahrheit noch wahrer, nämlich dichter werden kann, dann ist es hier geschehen. Tröstlich? Nein. Nur die Wahrheit. Aber ungehörig wäre es, sie jetzt noch einmal zu zitieren.

Bruno Hillebrand, aus: Bruno Hillebrand: Vernunft ist etwas Sicheres. Karl Krolow: Poesie und Person, Fritz Steiner Verlag, 1985

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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