SELBSTBILDNIS 1945
Aus dem Schweigen bin ich kaum entlassen,
Das mir bitter aus der Kehle steigt.
Und ich spüre manchmal mit Erblassen,
Wie mein Atem sich im Nichts verzweigt,
Wie’s augenlos endet,
In Trübnis gewendet,
In lautlosem Drehen
Die Sinne vergehen,
Am Hexenzwirn hängend, vom Tollkraut berückt,
Zu Larven und kalten Gallerten gebückt.
Geister, die mir aus der Schläfe drangen,
Fahren am geschloss’nen Mund vorbei,
Niemals inniger vom Traum behangen
Als im Barschensprung, beim Blessenschrei.
Entsetzen umgarne
Die Stirn mir im Farne.
Im rauschenden Schauer
Verlier ich die Dauer
Und gebe mich auf, schau im schwärzlichen Blut
Des Beerenleibs Hinsturz der magischen Flut.
Kinn und Wange: bald vergess’ne Namen!
Und ich laß den Brauenbogen fort.
Augenstern, gefischt mit zartem Hamen,
Ist beglänzt vorn nie begriff’nen Wort.
Wie’s stockt auf der Lippe:
Mit Sandglas und Hippe,
Dem Faulkranz der Binsen,
Will Tod mich begrinsen.
Er tritt aus den Ecken.
Ich kann ihn nicht schrecken
Und strecke mich hin, hab im Mörtelgesicht
Den himmlischen Anhauch, das ewige Licht.
War es wirklich einmal so, daß man sich versichern mußte, ob man überhaupt noch auf dieser Erde und auf Erden war, mit Hand und Fuß, als geschah, was weder Hand und Fuß, Sinn und Verstand haben konnte und doch unablässig geschehen war und nicht mehr ungeschehen gemacht werden konnte?1
Es schwingt viel Ungläubigkeit mit in dieser Frage, die sich Karl Krolow 1989 im Abstand von nahezu vierzig Jahren zu den auslösenden Ereignissen selber stellte. In der Tat: Es war wirklich einmal so, dass man sich des Noch-auf-der-Erde-Seins versichern musste; und nichts anderes hatte Krolow in seinem ersten Nachkriegsband mit dem denkbar schmucklosen Titel Gedichte von 1948 unternommen, der nun – siebzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen – in der Reihe Südverlag bibliophil noch einmal vorgelegt wird. Was später in kabaretthafter Diktion als „Wir sind noch einmal davongekommen“ zu einem geflügelten Wort wurde, hatte in der Dichtung Krolows so gelautet:
Und spüre nur noch ganz von fern
Daß ich im Leben bin2
„Ich versuchte“, sollte Krolow später in Erinnerung an diese Zeit schreiben, „mich mit Hilfe von Gedichten zu vergewissern, daß es mich tatsächlich noch gab“, und:
In gewissem Sinn lebte ich nur noch (ob mit oder ohne Recht) von Zeile zu Zeile, von Gedicht zu Gedicht.3
Krolows eingangs zitierte Frage findet sich im Nachwort zu einem Band, in dem der Autor seine ersten vier eigenständigen Gedichtpublikationen zusammengefasst hat: Hochgelobtes gutes Leben (1943), Gedichte, Heimsuchung (beide 1948) und Auf Erden (1949). Den letzten Titel hat Krolow zu Recht für den Sammelband übernommen. Schließlich musste ihm die Erde, wie zerstört und geschunden auch immer, als das Verbliebene erscheinen, als das, was – zusammen mit Landschaft und Natur – als Basis gegen die Absurdität menschlicher Existenz noch taugen mochte, wieder zum festen Grund zu werden versprach, von dem aus sich neue Sicherheit gewinnen ließ.
Man muss sich nur Titel wie „Der Stein“, „Regnerischer Tag“, „Kurzes Unwetter“, „Sommer eines Knaben“, „Waldgedichte“, „Auffliegende Taube“, „Fische“, „Salamander“ oder „Kommt die Nacht“ aus dem vorliegenden Band vegegenwärtigen, um die tragende Bedeutung alles Naturhaften und Elementaren zu erkennen. Nach der großmäuligen Propaganda der Nazis und ihrem tönernen Pathos, nach der Ideologie von Herrenmenschentum und Weltherrschaft war es nun das Kleine und Unscheinbare, ja Unbeachtete, das einer neuen Dichtung die Signatur gab, verbunden mit bescheidenen Erwartungen und – Demut. „Von nahen Dingen / Werd ich beglückt“4 heißt es in einem dieser Gedichte; „Ich träume grün“5 in einem anderen. „Was war übriggeblieben? Was blieb mir übrig?“, fragte Krolow rückblickend.
Auf-Erden-Sein als Illusion, Landschaft als besinnungslose Flucht, als Täuschung, als unsicherer, menschenleerer Winkel? Fassungslosigkeit ist ein großes Wort. Ich versuchte mich in Gedichten zu fassen.6
Krolow stützte sich dabei auf das Konkrete, Einfache und Sinnliche, orientierte sich am tradierten Reim, den er, wie auch den Strophenbau, souverän variierte, und vereinte kompositorische Strenge mit Sinn für Melodik.
Karl Krolow, 1915 in Hannover geboren, hatte nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Göttingen und Breslau seit Beginn der 1940er-Jahre zielgerichtet auf eine schriftstellerische Laufbahn hingearbeitet und sich neben Literaturkritik, Übersetzungen und Prosa vor allem der Lyrik gewidmet. Zusammen mit Günter Eich und Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Oda Schäfer und Georg Britting hatte er zum Kreis der zwar nationalen, wenn auch unpolitischen Mitarbeiter an der Zeitschrift Das Innere Reich gehört, die gelegentlich auch gesellschaftsferner, ja weltflüchtiger Lyrik eine Nische bot. 1943 war bei Heinrich Ellermann unter dem überschwänglichen Titel Hochgelobtes, gutes Leben Krolows erste schmale Publikation erschienen, die er sich noch mit Hermann Gaupp teilen musste.
Auf der Suche nach weiteren Publikationsmöglichkeiten verwies ihn der Leiter des Südwestfunks, Friedrich Bischoff, nach Kriegsende an den Südverlag. „Ich kann Ihnen sagen“, stellte sich der 31-jährige Dichter Ende Mai 1946 in seinem Brief an den Verleger Johannes Weyl vor, „daß ich seit einigen Jahren neben Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften eine Reihe von Gedichten geschrieben habe, die ich bewußt zurückhielt, da sie ihrem Wesen nach zu abgelegen waren. Es sind weniger zeitbezogene Gedichte (…) als vielmehr Poeme, in denen ich mich bemühte, eine gewisse naturhafte Eindringlichkeit herzustellen, aus einem Lebensgefühl heraus, das – von der Katastrophe unserer Humanität getrieben – auch in der Landschaft hinter der Idylle die tiefe Unsicherheit nochmals erfuhr.“7
Diese „Katastrophe unserer Humanität“ ist Krolows Dichtungen als Subtext zwar eingeschrieben; explizit benannt wird sie aber nirgends. Dass ihre Poetik demzufolge mit Wirklichkeitsverlust verbunden, dass sie Eskapismus, Fluchtraum und fragwürdiger Trost in einem war, hat nachmals keiner so deutlich gesehen wie Krolow selber – mag man seinen Naturbildern auch zugutehalten, dass sie als verschlüsseltes Medium eines verweigerten Einverständnisses mit der gesellschaftlichen Entwicklung gelesen worden sind. Die Vorbehalte gegen eine solche Lyrik liegen auf der Hand: Der Mensch scheint in ihr abwesend zu sein, präsent allenfalls im lyrischen Ich, das alle Sinne auf das „Mienenspiel“ der Natur richtet. Zeit gerinnt hier zur Jahreszeit,Welt zur Natur, die damit tendenziell zur geschichtslosen Idylle wird. Das größte Manko dieser Art Naturlyrik erkannte Krolow folgerichtig in der „Reduzierung des Menschenbildes“.8
Anders als der Expressionismus, der die Welt noch einmal mit dem Menschen beginnen ließ, sei dieser im Naturgedicht selbst zur Natur geworden, zum Geschöpf, „dem die Persönlichkeit abgenommen war, Kreatur unter Kreaturen. (…) Im Naturgedicht breitete sich jene Lautlosigkeit aus, wie sie menschenleere Bereiche kennen. Der Mensch wagte – wenn er auftauchte – nicht selten lediglich zu flüstern: eine unheimliche Situation! Aber mit Unheimlichkeit und der Darstellung solcher Unheimlichkeit: als Druck, der lastet, als Schauder, der fühlbar wird, war die Lage des Menschen in moderner Dichtung nicht zu klären.“9 Und an an derer Stelle lastete Krolow der Natur- und Landschaftslyrik an, sie habe „auch in ihren besten Augenblicken, bei ihren besten Vertretern, an einer Bedeutungsschwere gelitten, die ihrer Bewegungsfähigkeit, ihrer Variabilität nicht guttat. Sie blieb oft stoffbenommen, stoffbetäubt“. So sah sich Krolow gefordert, den „Bedrückungen“, die „als schwerer Schatten über den poetischen Äußerungen der ersten Nachkriegsjahre“ lagen, über die Jahre hin eine „größere Leichtigkeit“ und „größere Beweglichkeit“ entgegenzusetzen und der Zeichenhaftigkeit, der Chiffrenkunst eine Kunst der singbaren Formel einzuverleiben“.10
Dass Krolow bereits zu Beginn der 1950er-Jahre mit der naturlyrischen und -magischen Dichtung weitgehend brach und sich einer avancierten Moderne zuwandte, wurde zur Voraussetzung seiner literarischen Karriere. Auf diese Weise entging er dem verbreiteten Verdikt gegenüber der Naturdichtung, wie Christoph Meckel es mit seinem Bild von einer Laubhütte formulierte – „aber die Laubhütte stand auf eisernem Boden und war von Mauern aus Stacheldraht umgeben“.11 War dies noch auf jene realitätsfernen Dichter der Nazizeit gemünzt, die im Nachhinein das Attribut der „Inneren Emigration“ für sich reklamierten, stand Naturlyrik auch später noch lange unter Ideologieverdacht. Von besonders lange anhaltender Wirkung erwies sich Brechts Einwand gegen ein „Gespräch über Bäume“, das „fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“;12 und trotz einer gewissen Konjunktur der Öko-Lyrik in den 1980er-Jahren gefiel sich noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Kritiker darin, den bedeutenden Naturlyriker Wilhelm Lehmann als Autor „botanisierender Kraut- und Rübenlyrik“ sowie „des Rückzug[s] in blumenumrankte Innerlichkeit“13 zu denunzieren. Wie hatte dagegen der Lektor des Südverlags, Gerhard F. Hering, einmal an Krolow geschrieben?
Schließlich (…) ein kleines Wort unter uns Lehmann-Verehrern: Ich übersehe und überhöre nicht, dass Ihre Verse, soweit sie Naturvisionen geben, ohne Wilhelm Lehmanns Beispiele schwerlich so denkbar wären; oder irre ich mich da etwa?14
Hering irrte keineswegs. Der Einfluss war unverkennbar. Krolow bekannte sogar, von Lehmanns Antwort des Schweigens (1935) vor „Verwunderung und Bewunderung (…) benommen“15 gewesen zu sein. Er setzte jedoch bereits in den frühen 1950er-Jahren auf erweiterte Themenstellungen und ein erneuertes Formenvokabular. In den Möglichkeiten zeitgenössischer deutscher Lyrik erkannte Krolow die bisherige Isolation der deutschsprachigen Lyrik als „das größte Problem für das Gedicht der Nachkriegszeit“ – anders gesagt: Es hatte sich „aus der Kenntnislosigkeit und Zusammenhanglosigkeit gegenüber dem Ausland zu befreien“.16 Für Krolow selbst wurden französische und spanische Vorbilder am folgenreichsten. Vor allem der Surrealismus erschloss ihm neue Ausdrucksmöglichkeiten des Alogischen und Irrealen, wie sie seit Rimbaud und Lautréamont für die literarische Moderne konstitutiv waren. Die Bedeutung dieses Einflusses belegt Krolows Band Die Barke Phantasie (1957), in dem er Übersetzungen Guillaume Apollinaires und René Chars, Jean Tardieus und Henri Michaux’, Paul Eluards und weiterer Autoren präsentierte. Doch schon Die Zeichen der Zeit (1952) waren nicht mehr der Natur allein abgelesen worden, und auch der Band Wind und Zeit (1954) war mit Naturbildern eher zurückhaltend umgegangen. „Die bilderreiche Schwere, mit der ich angefangen hatte, diese sozusagen mich zu Boden ziehende Belastung durch eine Bildwelt, die mich zugleich aussog und immer erfinderischer zu werden zwang, mußte ich Schritt um Schritt zu überwinden „versuchen“, erläuterte Krolow, und er fuhr fort:
Ich suchte mich zu erleichtern. (…) Ich wollte auf nichts mehr zurückkommen. Ich wollte mit anderem, mit wenigem, mit fast nichts auskommen.17
Ohne diesen entschiedenen Schritt in Richtung offener Schreibweisen wäre die Verleihung des höchsten deutschen Literaturpreises nicht denkbar gewesen, den Krolow nur acht Jahre nach Erscheinen seiner Gedichte 1956 in Empfang nehmen konnte. „Mit den Formmitteln der sogenannten Naturbilder“, rekapitulierte Ernst Kreuder die Entwicklung Krolows in seiner Laudatio zum Büchner-Preis, „wird von Jahr zu Jahr sparsamer umgegangen, das Bänkelliedhafte der frühen Balladen verklingt. Aus dem Stadium der Selbstbezichtigungen, der Klagen und Ängste gelangt der Dichter zu neuen Ausblicken, und damit zur eigentlichen Aufgabe, seinen Beitrag zu leisten an der Erkundung, an der Enträtselung des Daseins. Das Naturbild wird vertieft zum Sinnbild.“18
Von hier aus gelangte Krolow fern aller politischen oder auch nur gesellschaftlichen Aussagen zum Alltäglichen und Augenblickhaften, zur freien Imagination, zur Schärfung unserer Wahrnehmung durch Intensivierung des Bewusstseins. Einmal ihrer Schwere beraubt, erhielten die Dinge freien Raum und wurden so verfügbar für die Abenteuer der Sprache, die neue Wirklichkeiten stiften kann und sich ihnen aussetzt. Hans Bender nannte das:
Die Wörter selber werden in Freiheit gesetzt.19
Lyrik als unausgesetztes Gespräch über das „Rätsel Leben“ – und wie es zu meistern sei: Darin liegt der Modernitätsschub, der Krolow zum reimlos offenen, weltdurchlässig-graziösen Gedicht brachte, hin zu jener spielerischen Leichtigkeit und intellektuell-ironischen Heiterkeit, mit der man seine Lyrik seither in Verbindung bringt.
Unter poetologischen Vorzeichen erscheint Krolows lyrische Entwicklung somit eher als Bruch denn als Übergang. Und doch verbindet eine Konstante die beidenWerkphasen: „Schreiben“, so Krolow 1971, „ist für mich eine besondere Art, mich in Leben, Umwelt, Gegenwart wie Vergangenheit zurechtzufinden.“20 Für Krolows Anfänge hat diese Selbstaussage freilich nicht weniger Gültigkeit, weshalb sich bei seinen Natur- bzw. späteren Gedichten allenfalls von Gegensätzen, jedoch nicht von Unvereinbarkeiten sprechen lässt. Die Eingebundenheit in die Schöpfung steht in keinerlei Widerspruch zur Schärfung unserer Wahrnehmung, die subtilen Schilderungen einer zerbrechlich gewordenen Welt nicht zur Bemühung um Sensibilisierung, zur Forderung nach Achtsamkeit. Beides gehört vielmehr zusammen; gemeinsam ermöglichen die beiden Dichtungsansätze einen genaueren, einen stereoskopischen Blick. So gilt es, die Naturgedichte Krolows neben seinem späteren Werk – und warum nicht auch ein Stück weit „gegen den Strich“ seiner eigenen poetologischen Entwicklung? – neu zu lesen. Sehen denn nicht auch sie das Kleinste als Sinnbild des großen Ganzen? Unternehmen nicht auch sie den Versuch, unser Verhältnis zur Natur nach den Katastrophen und Verheerungen des Zweiten Weltkriegs neu zu justieren? Beharren nicht auch sie auf einem geheimen Sinnbezug zur uns umgebenden, uns erst ermöglichenden Natur? Auf Achtsamkeit gegenüber allem Leben und allem, was leben will? Sind nicht auch sie stets Absage an Gewalt, Arroganz, Hybris und angemaßte Omnipotenz, an Unterwerfung des Planeten unter das Diktat der Ökonomie?
Die Fragen sind rhetorischer Natur. Naturlyrik, auch die Karl Krolows, darf heute wieder als Teil eines umfassenden Dichtungsverständnisses gelten, das auf Respekt vor der Umwelt, auf schonenden Umgang mit unseren Lebensgrundlagen zielt. Dieses reicht, die Namen sind willkürlich, von Henry David Thoreaus Unterwerfung unter die Lehren der Natur bis zu Alfred Momberts hymnischen, die Dimensionen des Kosmischen und Mythischen einbeziehenden Dichtungen, umfasst Christian Wagners Formel von der „möglichsten Schonung alles Lebendigen“ wie Wilhelm Lehmanns Gewissheit, dass „jede Art Lebewesen, das ausstirbt, (…) das Weltvokabular“21 schmälert, meint Günter Eichs Frage, wer ohne den Trost der Bäume leben möchte, ebenso wie Erwin Chargaffs „Wehklage über das Verschwinden der Dryaden“22 angesichts einer entzauberten, ihrer Geheimnisse zunehmend beraubten Natur. Oder man erinnere sich an Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „das ende der eulen“, das angesichts des atomaren Overkills vom Menschen expressis verbis absieht und sich allein der „unschuldigen Natur“ zuwendet:
ich spreche von euerm nicht,
ich spreche vom ende der eulen.
ich spreche von butt und wal
in ihrem dunklen haus,
dem siebenfältigen meer
von den gletschern.
[… ]
ich spreche nicht mehr von euch,
planern der spurlosen tat,
und von mir nicht, und keinem.
ich spreche von dem was nicht spricht,
von den sprachlosen zeugen,
von ottern und robben,
von den eulen der erde.23
In diesen Kontext gehört auch die Naturlyrik Karl Krolows. Auch sie vermag zu einem neuen Verhältnis zu Umwelt und Natur beizutragen. Dem Südverlag aber kommt das Verdienst zu, Krolows ersten Nachkriegsgedichtband verlegt zu haben und nun neu an ihn zu erinnern. Er steht am Beginn des langen Weges eines der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Manfred Bosch, Nachwort
war auch für das Gedicht eine beispiellose Gelegenheit, sich neu zu etablieren – so einmal Karl Krolow, einer der wichtigsten Repräsentanten deutscher Nachkriegsdichtung. Krolows erste selbständige, nur mit Gedichte betitelte Publikation markiert den beschriebenen Scheidepunkt recht genau: Teils noch in der Tradition naturmagischer Lyrik mit Trostgehalt befangen, deutet vieles auf den Neubeginn hin. Nach den finsteren Jahren der NS-Diktatur ist es das Kleine und Unscheinbare, das Konkrete, Einfache und Sinnliche, um das sich Krolow bemüht – aus einem Lebensgefühl heraus, das von der „Katastrophe unserer Humanität“ bestimmt ist. So ist die Neuausgabe der Gedichte als Chance zu verstehen, die frühe Naturlyrik Krolows neu zu lesen: als Teil eines umfassenden Dichtungsverständnisses, das auf Achtung für das Leben zielt.
Gerhard Kolter/Rolf Paulus: Für den Leser sind eigentlich bei den letzten Gedichtbänden, dem Band Sterblich und dem Band Herbstsonett mit Hegel, doch sehr auffällige Unterschiede aufgetreten. Sehen Sie das auch so, diese Veränderung von einem Band zum anderen, und können Sie sagen, wie das bewirkt wurde?
Karl Krolow: Ja – ich muß zunächst damit anfangen, daß Sie den jüngsten Band eben nicht genannt haben; der ist vor einigen Wochen erschienen und heißt Zwischen Null und Unendlich. Es ist ein Band, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Herbstsonett mit Hegel hat, z.B. ganz äußere Ähnlichkeiten, daß hier Reimgedichte auftreten, allerdings auch andere, z.B. Langgedichte, die für mich nicht typisch sind: „Ausverkauf“ z.B. – ein fast zehn Seiten langes Gedicht, in das gereimte Stücke eingeblendet sind, gewissermaßen Schnitzeleien aus dieser Herbstsonettzeit, die songhaft hineinmontiert sind. Es sind ganz verschiedene Sachen, wie jemand gezielt abgeschossen wird, wie es mit der Abschreibung in diesem Lande und überhaupt aussieht; das sind unterschiedliche, nicht unbedingt lyrische Themen, zu einer Zeit, als noch wenige Leute wußten, daß es ,Neue Heimat‘ und so etwas gab; das ist vor einem Jahr geschrieben worden oder noch länger, vor bald zwei Jahren schon geschrieben, und vieles in diesem Band könnte auf gewisse Skandale Bezug nehmen, tut es aber gar nicht, es sind allgemeine Beschreibungen, was zu treuen Händen möglich ist.
Kolter/Paulus: Wenn ich noch einmal nachfragen darf, diese doch sehr bedrängende, bis zum Leser durchdringende Intensität, da hat sich eine Art Befreiung abgespielt – wenn man von außen nur die beiden Bände sieht als Leser.
Krolow: Ich will es mal ganz einfach sagen. Es war so, als hätte ich vorher überhaupt gar keine Gedichte geschrieben – hätte ich am liebsten gesagt. Als ich anfing, diese – Herbstsonett mit Hegel später benannten – Reimgedichte zu schreiben, im Sommer 1980, in relativ kurzer Zeit; dazwischen lag irgendeine Zäsur, auch in meinem persönlichen Leben, in meiner Vorstellung von Lyrik, für mich – es endete etwas, und hier war auch ein Rückgriff auf ganz Altes und zugleich für mich dennoch Neues, der Reim in seinen verschiedenen Möglichkeiten, in seinen Gefahren, in seinen Überziehungen, in den Möglichkeiten des Nicht-nur-Auskostens des Reims, sondern des – ja fast hätte ich gesagt – Persiflierens des Reims; also auch das ist möglich, indem ich bis zum Exzeß versuchte, ziemlich divergierende Themen in höchst konventionelle oder – was ist das überhaupt: Konvention? – jedenfalls in verhältnismäßig bekannte Formen wie Sonett und Terzine und einige weniger bekannte Formen zu bringen. Ich bin, indem ich diese neuen Gedichte geschrieben habe, zum Teil weit zurückgegangen ins 19. Jh., als hätte es das 20. Jh. nicht gegeben, und habe Sonette, oder wie man sie nennen will, auch lädiert, auch das deutsche Lied so ein bißchen beschädigt durch die Gegend gehen lassen. Das ist vielleicht ein Unterschied zu denen, die es ganz und gar ernst mit dem deutschen Lied meinen. Ich bin ja immerhin nicht gänzlich boshaft mit gewissen Dingen umgegangen, das nicht, überhaupt nicht. Aber dazwischen liegt etwas, dazwischen liegt Erfahrung, dazwischen liegt etwas Unwiederholbares; man kann Heine nicht fortsetzen, man kann Brentano nicht fortsetzen, dennoch benehme ich mich so, als könne man sehr viel vergessen, nämlich das ganze 20. Jahrhundert, als gäbe es den Expressionismus nicht, als gäbe es Liliencron nicht, als gäbe es nicht die Celanisierte Lyrik oder was Sie wollen. Dies ist unter anderem für mich interessant, das Rückspringen und Überspringen – wie weit das möglich ist, etwas, was man überhaupt nicht tun darf und kann; wenn man anfängt, dann ist man verloren.
Kolter/Paulus: Allerdings ein hohes Risiko ist dabei…
Krolow: Den Risikofaktor habe ich zu spüren bekommen, es war endlich einmal Verwirrung da, dies fand ich doch ganz gut; und man wußte nicht recht, was damit anzufangen; aber einige gab es doch, die das sehr gut wußten. Ob sich das mit dem zweiten Band fortsetzen wird, weiß ich nicht, es könnte sein. Jedenfalls – es gab eine gewisse Schockwirkung, wohl eine gewisse Irritation, die aber beinahe nicht mehr meine Sache ist. Ich hatte mich in diese Richtung bewegt, ich hatte diese Sache neu versucht, ich hatte Überlegungen, die man eigentlich nur in dieser Zeit anstellen kann, in diesem Vokabular jedenfalls, wie ich es verwendete, in ganz überkommene Form gepackt.
Jedenfalls gab es gute, aber verlangsamte Reaktionen, allerdings auch einige sehr schnelle und sehr bemerkenswerte. Die Provinz war da fast schneller als die überregionalen Blätter – nicht nur fast. Es war der nicht festgelegte Krolow, eine Sache, die sich ja schon bei meiner Prosa gezeigt hat. Ich war zu sehr Lyriker, und für manche ist es offenbar bis zum heutigen Tage nicht ganz begreiflich gewesen, daß ich diese beiden Sachen, die zu meinem Leben gehören, diese ProsaSachen – mich interessieren sowieso nur Sachen, die zu mir und meinem Leben gehören, nichts anderes, das ist mir völlig egal, literarisch egal…
Kolter/Paulus: Also diese Prosa war tatsächlich die erste, für viele die erste große Überraschung nach der Kontinuität der Lyrik…
Krolow: Für einige nicht ganz Aufmerksame, aber das kann ich nicht erwarten, daß man aufmerksam ist (das füge ich gleich hinzu); vorbereitet war es ja durch Aufzeichnungen wie „Minuten-Aufzeichnungen“ z.B., in denen das verpackt war gewissermaßen, in kleiner Form, diese Mischung aus Essay, Lyrik und Prosa, oder was ist dieses? Ein ganz bestimmtes Genre, Essay, Kürzest-Essay, die Reflexion zum Reflex vermindert; dies alles gab es immerhin, abgesehen von meiner essayistischen Tätigkeit, die ja auch im Laufe der Zeit einige Bücher hervorgebracht hat.
Kolter/Paulus: Aber man mußte doch feststellen, daß das erzählerische Moment in diesen bei den Prosabänden etwas Neues war…
Krolow: Ja, das ist auch gesagt worden. Nun, ich habe selten eine so lebhafte Reaktion, um nicht zu sagen, eine stürmische Reaktion bekommen, vor allen Dingen auf Das andere Leben, wie bei diesen beiden Prosabänden. Ich habe eine ziemlich gute, breite und schnelle Presse bekommen. Das ist das eine; das andere, daß es dennoch eine gewisse Irritation war und blieb…
Kolter/Paulus: Kam diese Irritation, ging dieser Impuls zu erzählerischer Prosa stärker vom Inhaltlichen aus, oder hatten Sie z.B. das Gefühl, die Lyrische Form ist jetzt erschöpft, ich muß also jetzt etwas in Prosa versuchen?
Krolow: So weit ging es gar nicht. Es war ein Hinübergleiten in einer gewissen Situation meines Lebens, in der es mir notwendig schien, mich an gewisse Dinge zu erinnern, die sich vielleicht in Form von Prosa besser sagen – oder was ich so schnell Prosa nenne, es ist sicher nicht geradezu das Gegenteil von Prosa – sagen läßt als noch einmal in einem Gedicht. Es war – wie alles bei mir – nicht vorgenommen, nicht geplant; ich bin da hineingeraten, ich habe es getan, es ging sehr schnell; es war eine Sache von wenigen Tagen, das eine wie das andere Buch, wie auch jetzt die Lyrik eine Sache der kurzen Frist ist, des schnellen Tuns, des in gewisser Weise Überfallartigen; ich überfalle mich selber gewissermaßen mit diesem Bedürfnis, es jetzt zu tun, ich könnte die Gründe immer noch nicht richtig definieren, aber es war ein Augenblick, der günstig war, daß ich es tat – um es ganz simpel zu sagen.
Kolter/Paulus: Von Ihrer Biographie her dann auch?
Krolow: Ja, das sind beides deutlich Stücke, die mit mir zu tun haben, wie übrigens auch die Gedichte, wenigstens der allerneueste Band, aber auch so etwas wie Sterblich in dieser kleinen Pfaffenweiler Presse, aber so gesehen ist ja – auch wenn die Person hinter den Gedichten verschwand, wie es lange Zeit schien und dann auch wohl wirklich war, wie festgestellt worden ist – immer noch eine Spur Person dabei; ein Spurenelement Krolow ist ja überhaupt durch die ganze Entwicklung gelaufen, freilich hatte ich noch nie ,Er‘ oder ,Ich‘ gesagt wie in der Prosa und in der neuesten Lyrik. Ich habe von mir früher weitgehend abgesehen, obwohl ich immer da war. Nur, ich habe es, glaube ich, entschiedener gezeigt, daß ich es war und wie ich es war, in den Fähigkeiten und Grenzen, die einem gesteckt sind, die mir gesteckt sind.
Kolter/Paulus: Ich glaube, das wäre schon eine Teilantwort auf diese Frage, die immer kommen muß, die Frage nach der ästhetischen Umsetzung von Wirklichkeit. Welche Faktoren spielen da eine Rolle? Wie stark ist der Autor mit anwesend – beteiligt ist er ja immer…
Krolow: Ich werde immer beteiligter, wenn ich das einmal sehr einfach sagen soll. Ich war nie unbeteiligt, gewiß nicht, das kann man wohl nicht gut, aber ich habe mich mehr diskretisiert, mehr zurückgehalten und das Gedicht Gedicht sein lassen, gewissermaßen; es entfernte sich sogleich von mir, es stand da, es war ein Corpus für sich – es hatte die ganz besondere Fähigkeit, auch alleingelassen ganz gut zu leben, während spätere Texte sehr stark auf mich angewiesen waren und blieben. Ich meine das jetzt biographisch, aber durchaus auch ästhetisch oder literarisch oder wie Sie es auch immer ausdrücken wollen. Wie man vielleicht im Älterwerden eine Neigung hat, daß einen biologische Prozesse im Körper mehr interessieren als Ideologien, die mich auch nie nicht interessiert haben, nur nicht im Sinne des Plakativen; und es gibt keine wichtige, mich bewegende Sache, die nicht gleich Parteisache oder Parteiung war, aber doch etwas bewegt hat in dieser Welt, zu der ich nicht in irgend einer Weise Stellung genommen habe, zum gegebenen und meistens schnellen Zeitpunkt.
Kolter/Paulus: Sie haben in einer bestimmten Phase stärker stilisiert, abstrahiert, obwohl natürlich immer die Erfahrungssubstanz zugrundeliegt, Qualität garantiert…
Krolow: Ich meinte das Mich-mit-ins-Spiel-Bringen und das Sich-aus-dem-Spiel-Halten, aber das Spiel, wie ich es gern sage, in dem einem dann doch schließlich mitgespielt wird. Von einem gewissen Moment kam diese gewisse Aufhellung, diese Leichtigkeit, dieses Element in meine früheren Gedichte, die ja sehr neutral blieben, die für sich standen, die den Autor nicht auswiesen und die ganz bestimmte Temperaturen hatten und dabei es beließen.
Kolter/Paulus: Sie haben auch fast unglaubliche Freiheit gewonnen in dieser früheren und mittleren Lyrik durch die Metaphorik; ich glaube, in späteren Bänden ist dieser Weg, sich Freiheit zu verschaffen, oft genug über die Ironie gegangen, was ja eigentlich in der Lyrik nicht so häufig ist; die Ironie als Stilmittel, dieses ganze Spiel auch mit Zitaten und diese Dinge; Sie haben oft gebrochen, was zu sagen war.
Krolow: Gewiß. Nun war ich eigentlich auch früher schon ein skeptischer Mensch. Und da ist die Ironie nicht weit; ich sah dunkel oder düster, auch wenn ich mich, wer weiß wohin, metaphorisierte. Die Skepsis kann man in ausgezehrten und in ziemlich metaphern besetzten Gedichten gleichermaßen zeigen. Aus der Skepsis wurde dann Ironie, gelegentlich Hohn, gelegentlich Jargon, gelegentlich das, was man neulich oder vor einiger Zeit ,Straßengedicht‘ genannt hat; das Hineingleiten in eine bestimmte Sprechart, als Stilmittel oder als Wirkmittel, oder was ist das? Also auch als Abwehrmittel, als – nun ja – als ein ganz bestimmtes Reizelement jedenfalls. Ich hatte immer für Reizung etwas übrig – die kann ja ganz verschieden kommen…
Kolter/Paulus: Sie hatten in einer bestimmten Phase auch diese Theorie des ,Offenen Gedichts‘…
Krolow: Ja, das ist eine gute Formulierung, mit der man sehr viel anfangen kann, weil sie eben natürlich auch manches offenläßt, wie es sich beim Offensein gehört…
Kolter/Paulus: Nun sind natürlich solche Mittel wie Ironie oder auch Einsetzen von Jargon usw. sehr stark steuernde, auch die Wirkung, die Rezeption steuernde Mittel, und insofern die Frage: Inwieweit gilt das noch mit dieser Offenheit des Gedichts für die Rezeption, für die Wirkung auf den Leser?
Krolow: Das ist schwer zu sagen. Ich werde jedenfalls nicht anders handeln als ich bislang gehandelt habe, weil ich nicht anders kann. Alles ist jederzeit möglich, ich kann nicht übersehen, wie sich das – wie weit ich mich weiter offenhalten kann, aber daß ich eine Neigung dazu habe, aus Neugier oder Langeweile mir selbst und meiner Produktion gegenüber oder der Produktion der anderen, diesem monotonen Feld der sich ablösenden Moden oder dieser Haufen, der da zusammenläuft in einem mittleren Feld. Dies alles erzeugt eine Langeweile, und dies bewirkt, daß man einmal das Bedürfnis hat, wider den Stachel zu lökken und auch gegenüber eigenen Stilisierungen, denen man anheimfällt, nicht wieder nachzugeben und nicht noch einmal Mürbheit, Labilität, Bedürfnis nach Genughaben vorzuführen, sondern auf der Unschuld durch die Gegend zu laufen. Das wäre was – so! Natürlich ist es nicht so! Aber diese Neugier ist zu versuchen.
Kolter/Paulus: Ist es eine Neugier von Ihnen gegenüber dem Material, gegenüber der Sprache, oder ist es auch eine Neugier, die Erwartungshaltung der Leser zu provozieren, zu enttäuschen, zu irritieren?
Krolow: Ja – Provozieren liegt mir eigentlich weniger, Irritieren ist viel reizvoller, weil es tückischer ist. Provozieren, das kann fast jeder, der ein bißchen mit Sprache – und auch die Analphabeten, von denen wir ja viel mehr haben, als überhaupt je registriert werden könnte…
Kolter/Paulus: Literarische oder allgemeine?
Krolow: Ach, das nehmen Sie nach Gusto. Das Provozieren ist eine ganz schnelle Sache, und manche halten sich nur so, aber Irritieren ist schon eine Möglichkeit und hat für mich feinere Möglichkeiten. Aber ich will gar nicht dabei bleiben, ich sage auch Neugier, ich sage auch, es ist eine Vitalitätsäußerung; etwas schnurrt ab, ich versuche es noch einmal so, es gelingt mir noch einmal so, ich habe genug davon. Ich sage jetzt dies so: Ich habe Lust ein Sonett zu machen, das ein leicht beschädigtes Sonett ist, ich habe aber Interesse an leicht Beschädigtem, an – möchte ich sagen – ,Mattscheibengedichten‘. Ich habe eine gewisse Lust, Gedichte, wenn sie so schön daherkommen als Terzine, Sestine und Sonett, ein bißchen in ihrer Glätte und in ihrer Beinahe-Gelungenheit oder Wohlgelungenheit anzuticken, gewissermaßen. Das kann man auf verschiedene Weise machen, indem man das Enjambement ein bißchen zu weit treibt oder indem man überhaupt das ganze Gedicht anrauht und es füllt auch mit Inhalt, der dem Äußeren nicht unbedingt entspricht, sondern eher widerspricht – durchaus widerspricht. Und mit dem deutschen Lied kann man ja wunderbar viel sagen, also vom Abschießen bis zur Schwärmerei geht das, – was ich manchmal nicht unterscheiden kann, muß ich sagen.
Kolter/Paulus: Wir wollten, weil wir vorhin über die Schwierigkeiten gesprochen haben, sich dieses Bezugsfeld Literarisches Leben zu erschließen, überhaupt seine eigene Position in diesem Feld zu gewinnen – heute – auch zunächst einmal kurz von Ihnen wissen, wie das in Ihren Anfängen war, und dann noch einmal überblenden auf die Jetztzeit.
Krolow: Wissen Sie, meine Situation ist die – jetzt: Ich gehe weg, ich gehe davon, ich verschwinde. Gut – wie lange das dauert, weiß ich nicht, noch lebe ich, aber es hat nicht gleich etwas mit Leben und Sterben zu tun; man stirbt sowieso als Autor, als Verfasser von diesem und jenem mehrmals vor sich hin und wird dann wieder aus irgendeiner Ecke hervorgezerrt und ist eine Weile wieder am Leben und so schleudert man durch die Gegend.
Also die Anfänge – ja… Man weiß glücklicherweise nicht, was man tut, wenn man also auch über das noch nachdächte – wer sich vornimmt, Schriftsteller zu werden, das ist ein Thema für ein beschädigtes Gedicht. Verstehen Sie? Ich bin da hineingeraten durch die Umstände, durch die Zeitumstände, durch Begabung, freilich, ich habe eine gewisse Lust (das Wort ,Lust‘ will ich nicht so sehr verwenden, mein Gott, da kann man an alle möglichen Dinge denken, von Freud angefangen bis wer weiß wohin, bis Marcuse – ich meine, am Ende ende ich bei der Triebabfuhr, das habe ich nicht vor).
Kolter/Paulus: Für uns ist interessant die Situation, die wir ja selbst nicht kennen, die Nachkriegszeit; wie ist das Literarische Leben gewesen? Wir können uns heute etwa vorstellen, wie ein junger Lyriker versucht, etwas zu veröffentLichen, was es dafür Instanzen gibt…
Krolow: Ich stelle es mir heillos schwierig vor – viel schwieriger als damals. Praktisch fiel es zusammen, mein Anfang, mein Sich-Durchsetzen oder wie soll man es denn nennen – ein Vorhandensein auf eine bestimmte Weise begann ja mit der nie vorhanden gewesenen Stunde Null – natürlich hat’s die nie gegeben, das ist ja Unsinn. Aber einiges setzte sich fort, einiges fiel weg, das ist alles. Aber das ist natürlich keine politische Antwort, sondern eine literarische Antwort, aber sie ist sicher richtig. So war das wohl; und ich tat eigentlich das, was ich vorher machte: Ich setzte meine Fähigkeiten weiter auf eine bestimmte Weise in Sprache um, mit dem nahezu gleichen Vokabular und entwickelte es weiter. Es gab keine Unterbrechungen, es gab diese langsamen, folgerichtigen – denke ich, hoffe ich – Entwicklungen; man kann fast sagen – und das ist ja inzwischen geschehen wieviel Phasen es da gibt, wie die Entwicklungen aussehen. Und sich den gewissen Dingen auszusetzen, das war natürlich nicht sehr leicht in der Zeit, in der man aus nichts als Neugier bestand. Ich meine, als wir nach diesem Blackout 1945… wirklich, das kam gar nicht so schnell auf uns zu, wie ich es mir z.B. gewünscht habe; obwohl, ich muß mich korrigieren, ich habe Valéry und Baudelaire – Baudelaire sowieso –, Valéry, Apollinaire zum Teil mitten im Krieg unter ganz anderen politischen Verhältnissen kennengelernt und lesen gelernt, ja sogar für mich übersetzt, wenigstens Valéry. Sehr bald dann nach dem Kriege allerdings auch schon Spanier, aber bleiben wir bei den Franzosen – zu den unglaublichsten Umständen, um damals auch zu mir zu kommen; für mich war Übersetzen etwas Ungeheuerliches, was nicht etwas ist für den Verband deutscher Übersetzer, sondern für einen, der ,zu sich‘ kommen will und sehen, was passiert außerhalb dieser beschissenen Gegend, die gerade zusammengebrochen ist mit lautem Krachen. Ich übersetzte bei schlechtem Licht Apollinaire und Valéry, um weiter zu kommen, als deutsche Naturlyrik mich lehren konnte, zum Beispiel. Dies kannte ich ja, und ich sah die Repetition, ich sah die Orthodoxie, ich sah das ganz Natürliche, diese Versteinerungsprozesse, dieses Sich-Ausleben des Sprechens auf eine bestimmte Weise, das gehört dazu, das gibt es, dieses Sich-Überstilisieren. Wie es das deutsche Landschaftsgedicht gab, die hartnäckigsten aller Gedichte, die sich ja schließlich fast 200 Jahre oder noch länger – so oder so gehalten haben, seit Goethes „Mailied“ oder seit Salis-Seewis oder meinetwegen schon seit der Schäfer-Poesie, und diese ganzen kleinen Brennspiegel, diese Rasenstücke, die da entstanden und dann freilich gelegentlich sich mänadisierten, ich meine, solche Mänaden wie Droste gab es wirklich, und dann begann das Taumeln im Gras. So ist das – und die Langgässer hatte ja ähnliche Temperamente zu zügeln, was der Lyrik nicht immer gut bekam; aber ich weiche ab und schwadroniere…
Kolter/Paulus: Sie weichen nicht ab; wir könnten vielleicht noch diesen anderen Aspekt dazunehmen. Sie sagten, einerseits war alles sehr reduziert, sehr einfach, wenig verfügbar, mußte erarbeitet werden, war nicht parat; andererseits wäre für uns schon interessant zu wissen, was es dann an Veröffentlichungsmöglichkeiten gab. Da scheint doch innerhalb relativ kurzer Zeit einiges entstanden zu sein, Zeitschriften, Rundfunk, das man nutzen mußte, um sich eine Position zu erarbeiten…
Krolow: Sicher, es gab die vielen Zeitschriften, die aus dem Boden schossen, auch wieder eingingen; einige hielten sich einige Jahre, aber das ist schließlich auch heute noch so. Den Typus ,Untergrund‘ gab es z.B. nicht, dazu gab es noch viel zu viel Oberfläche, mit der wir zu tun hatten, die war ja schon zerrüttet genug, da braucht man keinen Untergrund – das setzt, wenn schon keinen heilen Mittel- und Obergrund voraus (im Gegenteil) – aber doch verhältnismäßig gute Etablierung; na ja – dies alles gab es. Die Sender wurden unter Lizenz der Franzosen, Amerikaner, Russen und Engländer wieder aufgemacht, so die Zeitungen, so die Zeitschriften, das fing an, ins Kraut zu schießen. Es gab sehr viele Chancen, wer sie nutzte, wer jung genug war und Lust hatte an all dem und geschickt war, dies muß ich auch hinzufügen, aber vielleicht ist man das einfach, wenn man jünger ist –, beweglich, sagen wir mal lieber, so konnte man von einer Überraschung in die andere fallen. Die Verlage etablierten sich, boten manche Möglichkeiten, so scheint es mir jedenfalls – es hat sich eigentlich verhältnismäßig ruhig ergeben; vielleicht ist das gar nicht so, und ich sehe das jetzt schon mit einer gewissen sklerotischen Nachsicht, das mag wohl sein…
Kolter/Paulus: Glauben Sie, daß sich heute eine literarische Entwicklung überhaupt noch in Ruhe vollziehen kann, daß sie reifen kann, oder daß nicht, gerade durch die Medien gefördert, dieser Trend sehr stark wird, im Grunde über den Kopf das ganze Laufen zu lassen, mit einer intellektuellen Auseinandersetzung mit bestimmten literarischen Strömungen, die jetzt meinetwegen auch von Südamerika kommen, wenn man also bewußt jetzt etwas kreiert anstatt es reifen zu lassen…
Krolow: Ich will nicht direkt darauf antworten, obwohl – das ist auch schwierig… Ich will Ihnen darauf dies sagen: Ich habe das Gefühl, man hat aber immer schon – das Gefühl gehabt von Beschleunigung. Beschleunigung ist ein sehr großer Faktor. Er ist so wichtig wie Verfügbarkeit. Man hat das Gefühl, daß die Rapidität wächst, der Zugänge und der Abgänge, des Verschleißens von Talenten und des Kommens von Talenten. Hinzu kommt eben diese wirkliche Verfügbarkeit, die man gar nicht ernst genug nehmen kann. Ein Gedicht eines Peruaners ist so verfügbar wie ein Clipperflug nach Lima. Sehen Sie, das ist diese stumpfsinnige Langeweile, die sich mondial zeigen möchte und eigentlich nicht viel zu bieten hat als ein paar Spritzer. Aber ebenso wichtig – für mich – ist das Moment der Beschleunigung, das heißt also des In-den-raschen-Verbrauch-Gebrachtwerdens, aber auch für den Verbrauch Bestimmten; ich meine diese Einweg-Situation, nicht Ausweg und Ausweglosigkeit, das ist wieder etwas anderes – ich meine zunächst einmal nur die Einweg-Flaschen, die Einweg-Flaschenkunst, die Wegwerf-Gelegenheit, also auf besonders sensible Weise etwas wegzuwerfen, was sich Kunst nennt oder Literatur, und alle diese Dinge. Und das macht es mir eben heute so horrend zu glauben, daß ich heute noch mal anfangen könnte, das zu tun, was ich getan habe, was damals eine Selbstverständlichkeit war und eine Nötigung geradezu durch das, was übriggeblieben war; und heute ist zuviel da. Damals war fast nichts da. Es waren natürlich damals auch Gedichtbände da, Prosa… Im Grunde waren es doch unsere ganz spezifischen deutschen Verhältnisse, die immer so ähnlich waren, da brauchte gar kein Nationalsozialismus zu kommen – der hat das dann allerdings noch beschleunigt –, ich will damit sagen, diese Euphorie und diese Zusammenbrüche, dieses Auf und Ab, diese Diskontinuität, dieses Sich-nicht-auf-etwas-Verlassen-können.
Deshalb rede ich lieber vom Weggehen; ich bin noch lange nicht weggegangen, ich habe verhältnismäßig manches produziert in letzter Zeit, das ist wohl wahr, aber im Grunde ist es ein Weggehen. Dabei bleibe ich schon. Warum nicht? Ich habe meine Sache getan, das ist ein angenehmes Gefühl; die können sagen, na ja, der Krolow, vielleicht ein bißchen übertrieben, was er da macht, man kann nicht einfach zurückgehen, als lebe Brentano beinahe noch, und dazu Zupfgeigenhansel – ist es aber auch nicht gleich –, also was ist das schon? Andererseits wird man schlechterdings und gezielt erschossen, aber das gab es auch früher schon, nur auf andere Weise. Ja, die Zinnsoldatenzeit ist abgelaufen…
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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