Karl Krolow: Gesammelte Gedichte 1

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Gesammelte Gedichte 1

Krolow-Gesammelte Gedichte 1

DIE WOLKE

Man kann mit ihr
spazieren gehen,
solange keine Himmelserscheinung
über sie herfällt.

Das Wasser widmet ihr
seine Aufmerksamkeit
und winkt aus verdunstenden Flüssen.
Es rührt an das Gedächtnis
des Regens.

 

 

 

Extrakt aus acht Lyrikbänden

Karl Krolow, der am 11. März 1915 in Hannover geboren wurde, hat als Lyriker einen langen Weg zurückgelegt, einen Weg, der ihn aus einer mythisch erlebten deutschen Landschaft durch eine geistige mediterrane Welt zurück nach Deutschland geführt hat; in ein real und illusionslos gesehenes Nachkriegsdeutschland:

SEESTÜCK

Da angelt kein Mensch
einen Schellfisch
vor lauter Küste!
Verschiedene Dampfer
fahren vorbei, beliebig,
als wäre überall Wasser,
das bis auf den Grund
naß ist. Die Oberfläche
bleibt schiffbar und blau,
eine Postkarte lang,
die man von Bord schreibt.
Gefühl für die Nautik
hat niemand, solange
er nicht am Land steht
und winkt.

Bei diesem Gedicht, das im Jahre 1964 entstand (und das demzufolge ziemlich am Ende des hier anzuzeigenden chronologisch angelegten Gesamtwerkes steht), haben wir es mit einem gebrochenen, in ironischen Farben schillernden Poem zu tun, das alles Pseudometaphysische aus Meer und Welt hinausmanöveriert und in seiner kühlen selbstspöttischen Art fast wie eine Parodie auf die pathetischen Neptun-Motive aus Krolows Frühzeit wirkt, auf Gedichte, die Heyms Bateau-ivre-Euphorie zu erneuern versuchten und die noch sprachlich getragen und inhaltlich dunkel waren: „Mit dem Pesthauch, den Gasen / Von Tang und faulendem Hai, / Fahren sie lautlos. Es blasen / Mondwärts die Winde vorbei (…)“
Krolow – wie verschiedene bedeutende Dichter (wie Rilke etwa, der sich nur sehr langsam aus seinen Prager Anfängen hervorarbeitete; oder auch wie Stramm, der Jahre herumexperimentierte, bis er seinen expressiven Kürzel-Stil fand) stand eine längere Zeit unter fremden Einflüssen. Und abgesehen von Heym waren es vor allem Loerke und Lehmann, die ihn in ihren Bann zogen.
Der Dichter hatte schon mehrere Bände veröffentlicht, bevor er sich in Arbeiten wie Im Rückspiegel (1952) und Schatten in der Luft (1953) an seinen eigenen Stil heranarbeitete. In jenen Jahren entstand auch die Folge Vorgänge, in der es Passagen gab wie diese:

Jemand ließ einen Entwurf machen
Von einem Leben ohne Trauer.
Die historischen Voraussetzungen indessen
Waren nicht günstig
(…)
Es blieb dabei, daß
Zu viele etwas vom Waffenreinigen verstanden
(…)

Damals entdeckte Krolow die Ironie; das heißt etwas, das es weder bei Lehmann und Loerke, noch bei Heym gegeben hatte. Etwas, das für ihn und seine Entwicklung aber wichtig, ja ausschlaggebend wurde:

Jener träumerische Mann mittleren Alters:
Er läßt seine Hand aus dem Fenster fallen
Wie ein Staubtuch (…)

Oder, noch ausgeprägter:

Es ging ein stilles Leuchten
Von ihm aus.
Das machte die Glühbirne,
die er im Munde trug
(…)
Seine Hoffnung war, bemerkt zu werden
(…)

Krolow bediente sich nun dessen, was Hugo Friedrich die „lyrische Anekdote“ nannte, eines Verfahrens, das aber nur scheinbar „geisterseherisch“ war. Zielte es in Wirklichkeit doch auf die Zersetzung alles Mythischen, Raunenden und Fabelhaften, kurz: alles Romantischen. Krolow, nachdem er sich von seinen Vorbildern freigemacht hatte, trug eine größere Bewußtheit in die Poesie hinein, einen (zunächst) dadaistischen Schabernack, den er mit der Welt trieb. Da waren vor allem Gedichte wie „Wahrnehmungen“, „Ziemlich viel Glück“, „Die Einsamkeit“, „Ungeduld“ und „Begegnungen auf der Straße“.
Mit der Zeit wurde der Tenor jedoch wieder ernster. Und das Dadaistische, das Krolow dazu gedient hatte, die Form zu lockern und die Phantasie zu befreien, wich einem magisch-surrealistischen Stil von manchmal fast kafkaesker Bedrohlichkeit:

Der Kapitän ist eine Erfindung derer,
Die vor uns das Schiff verließen.

So heißt es in einem Gedicht über eine Mittelmeerfahrt. Und in dem Poem „Zwischenfälle“ finden sich die Verse:

Immer kommt etwas dazwischen.
Wer ein Hemd ablegt,
Muß drei weitere ausziehen,
Und ein Spaziergang
Zwischen zwei Ulmen
Endet im Dschungel.

Die alptraumhafte Intensität solcher Images macht klar, daß Krolow nun ebenso weit von jeder romantischen Surrogatlösung entfernt ist wie von platter Vernünftelei. Sie veranschaulicht, daß er das Leben als etwas begreift, das man, wie scharf und genau man die Details und Segmente auch fixieren mag, als Ganzes nicht erfassen und deuten kann.
Die Surrealität Krolows – sein gewissermaßen kubistischer Stil, der ihn die Welt und ihre Erscheinungen so oft simultan erleben läßt – ist also nicht nur ein beliebiges schriftstellerisches Verfahren, sondern vor allem eine Methode, die ihm zwingend von den Objekten aufgenötigt wird. Wie in einem beschlagenen, einem zerscherbten Spiegel sammeln sich fremde und befremdende Dinge. Da kann es geschehen, daß eine einzelne Metapher, eine bestimmte Sentenz viel stärker und deutlicher hervortritt als alles übrige: „Der Mittag, die Morgue der Pflanzen (…)“ – „Das Bett im Winkel / brennt bis gegen Morgen.“ – „Man verschenkte Sträuße / Unbekannter Blumen oder die Schatten / Alter Bäume.“ – „Schon ein Stuhl / Macht eine Landschaft wohnlich!“ – „Zwei kraftlose Augäpfel / Werden vom Licht geerntet.“ – „Die Reiter sind ihren Pferden / immer ein wenig voraus.“ „Der Vorrat an Augen / reicht nie aus.“ – „Den Minuten / fallen Minuten ein, / den Tischen die Teller.“ – „Die Stille ist / eine geopferte Kadenz.“ – „Undine findet / ins wirkliche Wasser zurück.“ – „Die Schwermut hat / eine lange Geschichte.“
Solche Bilder, solche lakonischen Sätze, sind die jeweils leuchtendsten Partien in einer Anzahl verschiedener Gedichte. Es sind diejenigen Passagen, in denen nebensächlichere Sachverhalte und banalere Stimmungen ihre sprachliche Ausdeutung erhalten. Krolow, wie er einmal sagte, geht es nicht darum, ein Gedicht wirklich „fertig“ zu machen, es ganz und gar zu entschlacken. Ein Gedicht soll vielmehr „die Möglichkeit haben, sein Thema, seinen Stoff an ein nächstes weiterzugeben. Es müßte möglich sein, daß die letzte Metapher des einen Gedichts Anlaß zur ersten Metapher eines andern würde.“
Es ist heute gar keine Frage mehr, daß Krolow in dem Augenblick die Kontrolle über sich und seine Arbeit gewann, als er anfing, die Werke französisch und spanisch schreibender Lyriker zu studieren und zu übertragen. Noch heute verrät eine Anzahl Motti, die er seinen Gedichten während jener mittleren Schaffensphase vorangestellt hat, wie evozierend für ihn die Begegnungen mit Poeten wie Baudelaire, Gerard de Nerval, Apollinaire, Saint-John Perse, Tzara und Neruda gewesen sind. Es gab auch, erkennbar, Annäherungen an Rimbaud, aber unter der eigenen Intention tauchte das andere Muster noch auf:

So gehen sie hin, Gelächter im Halse, und zeigen
Ihr schönes Gebiß und ein Zahnfleisch, gebadet und hell.
Mit springenden Muskeln, Gesäß wiegend, verschweigen
Sie leicht und vergeßlich das Tier mit dem Mitternachtsfell
(…)

(Krolow hätte wohl versuchen müssen, vom Rimbaud der Illuminations statt von dem des Bateau ivre auszugehen; dann wäre es ihm noch früher geglückt, jene Umklammerung zu sprengen, in der er sich als deutscher Dichter seines Jahrgangs damals befand. So aber wurde der Illuminations-Einfluß für Krolow erst später und indirekter wirksam: auf dem Umweg über Rimbauds Schüler).
Krolow hatte sein Ziel erreicht, als er erkannte, daß es darauf ankam, die Metapher zu aktivieren, ohne dem Diktat von Reim und Metrik länger zu gehorchen. Jetzt war es möglich, moderne und eigen getönte Gedichte mit realen Inhalten zu schreiben; Arbeiten wie „Nachtmahl“, „Das Schweigen“, „Schlaf“, „Marine“, „Laßt den Himmel“, „Der Goldfisch auf der Lauer“, „Zwischenfälle“, „Heute noch“, „Historie“ (um nur die ausgereiftesten aus einem einzigen Band – aus der Sammlung Fremde Körper – zu nennen).
Da ist auch ein Text wie „Ein Uhr mittags“. Scheinbar ein Naturpoem wie Krolow es früher – unter der Patenschaft Wilhelm Lehmanns – auch schon geschaffen hatte. In Wirklicheit ist diese Arbeit aber geradezu ein Anti-Lehmann-Stück; verzichtet sie doch darauf, die Natur mittels mythologischer Anachronismen („Rinder des Helios“ usw.) zu evozieren.

Das Licht fällt nicht umsonst
Senkrecht.
Wer die Augen schließt,
sieht blaue Sensen am Himmel.
Ein Uhr mittags. Die Blumen
Hingen mit gebrochenem Genick
In der Windstille.
Aus dem Steinbruch kommen Pfiffe.
Sie gelten einer Flasche Bier
Oder einem Hund, der sich verlief.
In den Heuschobern
Rascheln Mäuse
Und weibliche Schenkel.

Handbreiter Schatten
Verschwindet gleichzeitig
Mit dem letzten Laut,
Der zu hören ist.

Was Krolow hier Wilhelm Lehmann voraus hat, ist die Modernität der Sprache und die Heutigkeit der genau beschriebenen Szenen. Denn: So gewiß es ist, daß der Mensch der Antike, um sich in seiner Wirklichkeit zu orientieren, des Glaubens an eine Vielzahl von Göttern bedurfte (die Götter – das waren einfach Projektionen ins Ontologische, waren Elemente, in die Imagination und Bewußtsein die Welt zerlegten), so sicher ist es, daß ein Lyriker unseres Jahrhunderts also ein Mensch mit unseren Erfahrungen und unseren naturwissenschaftlichen, psychologischen und philosophischen Kenntnissen – das Ländliche (sozusagen den EWG-Acker) mit anderen Augen sehen und mit anderen Empfindungen erleben muß.
Zwar wird Krolow heute noch gelegentlich vorgeworfen, er sei ein Lehmann-Schüler. Doch Leser und Kritiker, die derartiges behaupten, haben entweder Krolows Entwicklung, seine künstlerische Selbstbefreiung, verschlafen; oder aber – und das wird in vielen Fällen so sein – sie gehören ins Lager derjenigen, die von einem Dichter bedingungslos politisches Direkt-Engagement, ja Parteiparolen erwarten.
Dabei hat es bei Krolow nie an zeitbezogenen Stellungnahmen gefehlt. Schon 1953 hatte er geschrieben: „Vor der Tür die Karabiner / Sind aufs Schlüsselloch gerichtet.“ Und ein Jahr später hatte er, in einer gewissen Nachbarschaft zu Bertolt Brecht (lange vor Enzensberger), lakonisch bemerkt:

Ein Paß ist besser als
Ein Traum zu lesen.
Politisch: eine Hand
Wächst aus dem Boden
Achtlos dem anderen einmal abgetrennt.

Einsichten und Formulierungen wie diese reiften aus, bis aus ihnen ein Gedicht wie „Historie“ wurde eine völlig geschlossene, eigenständige und in ihrer Bitterkeit unwiderlegbare Arbeit, die zum Stringentesten gehört, das poetisch über das Thema Geschichte gesagt worden ist:

Männer trugen über den Platz eine Fahne.
Da brachen Centauren aus dem Gestrüpp
und zertrampelten ihr Tuch
Und Geschichte konnte beginnen.
Melancholische Staaten
Zerfielen an Straßenecken.
Redner hielten sich
Mit Bulldoggen bereit,
Und die jüngeren Frauen
Schminkten sich für die Stärkeren.
Unaufhörlich stritten Stimmen
In der Luft, obwohl sich
Die mythologischen Wesen längst
Zurückgezogen hatten.

Übrig bleibt schließlich die Hand,
Die sich um eine Kehle legt.

Von diesem Poem (wie auch von dem in Unsichtbare Hände enthaltenden „Tag in Deutschland“) gelangt man direkt und konsequenterweise zu der „Im Frieden“ überschriebenen Gedichtfolge, die Krolow 1963 konzipierte und in der es stoßseufzend heißt:

Frieden. Die ruhigen Leute
lassen ihr Haar wachsen.

Und:

Ja, die Stadtränder mit den
schönen Betonmischmaschinen!
(…)
Mein Freund, der Pastetenbäcker.
(…)
Die errechnete Zukunft
ist eingetren:
Langeweile.

Und schließlich:

Nur noch auf einer Briefmarke
zu erkennen: der Staat.

Dichten ist für Krolow ein Prozeß des ställdigen Desillusionierens geworden:

Die Landwirtschaft
starb als Gras zwischen altem Pflaster.

Oder:

Es hat keinen Zweck,
Lichter auf der Hand zu tragen.
Der Windstoß, der sie löscht, ist einleuchtender.

Sogar die Liebe hat keinen idealistischen Überbau mehr. Sie einfach eine Beziehung zwischen Mann und Frau, ein polares Verhältnis, das zuweilen nicht einmal mehr in psychische Bezirke hineinreicht, sondern von ausschließlicher Körperlichkeit ist. Zupacken von Händen. Rascheln im Stroh (…) „Die Weinbergarbeiterinnen / sehnen sich nach dem / kühnen Leib der Echsen. / Aber sie bleiben Frauen, / feuriges Gewürz / in den Augen, / mit dem sie Kornhaufen in Brand setzen / können.“ Oder, anderweitig:

Die Schwüle ist ein grünes Tier.
Mittag: – ein Bündel
abgelegter Kleider…

Eine der vollkommensten und subtilsten Schöpfungen Krolows – eine Arbeit, die erst 1963 entstand (und die sich neben Poemen wie „Krankes Wetter“, „Im Grünen“, „In Portugal“, „Tag in Deutschland“ und „Porträt einer Hand“ – also neben den Glanzstücken aus Unsichtbare Hände – behaupten kann) ist „Melodie“. Hierin finden sich die Zeilen: „So schnell / vergißt eine Melodie / ihren Anfang / Valéry liebte Gluck.“ In einem solchen Gedicht holt die Reflektion, holt die Ironie das Lyrisch-Liedhafte ein, noch bevor es Pathos, Dunkelheit oder Sentiment ansetzen kann. So wird das Poetisch-Intuitive vom Verstand, vom Wissen korrigiert; Verstand und Wissen aber werden von der poetischen Intuition beflügelt.

Hans-Jürgen Heise, Die Tat, 5.3.1965

Denkmal der Zärtlichkeit

Wie kein Lyriker seiner Generation hat sich Karl Krolow mit einer nahezu beängstigenden Produktivität und Ausschließlichkeit „auf die empfindlichsten Händel“, das Gedichteschreiben, eingelassen. Seit gut zwanzig Jahren ist seine Lyrik präsent. Bewunderung verdient, wie Krolow dieses Präsentsein in zehn Gedichtfolgen durchgehalten hat. Obwohl er die plakative, vorlaute, modische Anpassung scheut und eher die leise, oft „zierliche“ und „vogelleichte“ Verlautbarung sucht, „Denkmäler der Zärtlichkeit“, hat seine Lyrik den Gang der deutschen Poesie seit 1945 mit bestimmt. Nicht weniger ist diese Lyrik in ihrer porösen und sensitiven Anlage „offen für alle möglichen Widerfahrungen“, ausgesetzt den Strömungen, Reizungen, auch Irritationen, die sozusagen in der Luft liegen. Krolows sensibler Intellekt witterte, was sich im Wandel des lyrischen Bewußtseins vollzog.
Insofern sind die rund 270 Gesammelten Gedichte aus den Jahren 1944 bis 1964, chronologisch geordnet, durchaus exemplarisch. Der stattliche, vorzüglich gedruckte Band erschien anläßlich des fünfzigsten Geburtstags von Krolow.
Die ersten Gedichte folgten den Spuren der naturlyrischen Schule, der Loerke, Lehmann, auch Langgässer („Des gelösten Geists der Pflaume / Werden wir im Fleische inne“). Die sichtbare Natur wird mehr abgebildet als imaginativ erfaßt. Metapher und Reim bestärken das sinnliche Zauberische, die Verzückungen und sanften Dämonien. Heute ist Krolow von seinen Anfängen weit abgerückt. 1957 heißt es: „Sage ich zum erstenmal: Rose? / Ich nannte früher / Unrechte Namen.“ 1963: „Baumschatten lassen / verschiedene Beschreibungen zu.“ 1964: „Mit offenen Armen / stürzt die Zeit / in die Geschichten / duftender Vegetation.“ Nicht mehr das entzückte bukolische Benennen bestimmt die Verse, sondern Desillusion und Lakonismus. Folgerichtig wich der „süße Zwang“ des Reims, der gebundenen Strophe dem spröden Parlando freier Kurzzeilen.
Namentlich seit Fremde Körper (1959) ist der lyristische Ballast abgeschüttelt. Nicht die fülligen, gesättigten Verse, sondern Verse von schlankem, präzisem Zuschnitt zeigen Krolows beste Möglichkeiten. Hier konzentriert sich sein poetischer Charme, werden Worte, Bilder, Fügungen transparent für eine hintersinnige Irrealität oder stiften neue Wirklichkeiten:

Sprich Blumen ans Fensterglas:
es ist draußen Winter.
Die Gefühle der Landschaft
heißen Langmut
mit erfrorenen Flüssen.

Bereits anfangs der fünfziger Jahre lockert sich die pastose Naturmetaphorik, wird durchscheinend, liquid oder wie gehaucht. Das Flüchtige, Schwebende, Vergängliche der Erscheinungen wird in fast gewichtslosen Vokabeln und Metaphern eingefangen: Wind, Glas, Wasser, Luft, Grasfahnen und Vogelfedern; Mund, in die Luft geschnitten; vogelhaft raunenden Lichts; Garbe flüssigen Lichts. Manche dieser immer etwas spröde, filigranhaft gehaltenen Verse erinnern an das feine überwirkliche Gewebe Kleescher Strichzeichnungen:

Im Schatten von Schultern schwimmen
die Träume wie Fische.

Virtuos nutzte Krolow die Praktiken des Surrealismus, die freiheitliche Bildverknüpfung des Traums, die Spiegelung des Wirklichen im Unwirklichen. Er hat von französischen und spanischen Vorbildern gelernt, ein virtuoser Aneigner, dem es freilich gelang, die fremden Muster zu integrieren. Solcherart Aneignung kann doch nur gelingen, wenn das Eigene stark genug ist.
Weniger gelungen scheinen heute, aus der Distanz der Jahre, jene langzeiligen Gesänge, die offenbar nach angelsächsischen Mustern aktuelle Zeitthemen aufgreifen, wie „Nachtstück mit fremden Soldaten“, „Männer“, „Gedicht für den Frieden“, „Koreanische Elegie“. Gewiß, so kühne, exakt zuschlagende Benennungen wie „Soldaten, fremd, mit flachen Maschinengewehraugen“ oder „Hypothetische Heimat!“ treffen und haften. Aber ein Zuviel von „Haare voll Heu“, „Schmetterlinge im Barte“, „trockenes Brusthaar“ überdeckt doch zu sehr den ernsten geschichtlichen Anspruch.
Überzeugender gelingt der zweite, spätere Anlauf, Erfahrungen der Gegenwart in lakonischen Kurzversen anzusprechen. Aber das geschieht „unpolitisch, unaktuell“, entzieht sich der rationalen Kontrolle und aktiviert durch singuläre überraschende Pointen die Assoziierfähigkeit des Lesers. „Ein Paß ist besser als / Ein Traum zu lesen“, hieß es schon 1954. Die letzten Gedichte geben bittere, sarkastische Einsichten preis, mitunter von ironischer Grazie unterspielt. „Dahinleben“, heißt es und „Jemand wird Niemand“; „Die errechnete Zukunft ist eingetreten: Langeweile“ und „Die Hühner des Scharfrichters / nehmen weiter ihr Bad / im farblos Sand“.
Fast scheint es, als wolle Krolow die Experimentierlust der fünfziger Jahre in Frage stellen, wenn er nun schreibt „Meine Übung / macht müde, am Ende / kommt man doch wieder / auf seinen Füßen zu stehen“.
Diese strikte Reduktion steht am Ende eines Prozesses der Selbstfindung, der in seiner Folgerichtigkeit in unserer gegenwärtigen Lyrik ohne Beispiel ist. Allein dies rechtfertigt die Herausgabe der Gesammelten Gedichte. Krolows eigenes Voranschreiten schärft allerdings auch den kritischen Rückblick, läßt Schwächen erkennen, die zumal aus der virtuos spielerischen und medialen Begabung resultieren: gelegentlich mehr aparte als notwendige surreale Bildverbindungen, Neigung zur Überbenennung, zum Preziösen, zur Koketterie mit der eigenen Manier. Ebenso wird man auch in den Zwischenstufen Gedichten wiederbegegnen, die längst zum Bestand unserer Lyrik gehören. Aber nicht das Einzelgedicht, sondern die überschaubare Konsequenz eines zwei Jahrzehnte umspannenden Prozesses lyrischer Weltaneignung und Weltdurchdringung macht diesen Band zu einem wichtigen Dokument.

Eberhard Horst, Die Welt der Literatur, 5.8.1965

Individuelle Einheit in der Vielfalt der Versuche

Gleich die ersten Gedichte Karl Krolows während des Krieges nehmen sich die Freiheit, autonom zu sein. Der grüne Gott fasziniert ihn. So kommt die Versuchung, eine Antwort oder gar eine Hymne schreiben zu müssen, gar nicht an ihn heran. Er ist von Anfang in der Schule der Loerke und Lehmann, die strenger als andere über das Gedicht gewacht haben; über seine Ordnung, seine Exaktheit, seine penible Realität.
Krolow hat sich, den Vorbildern gleich, dem Gedicht mit Haut und Haaren verschrieben. Für ihn existieren die anderen Gattungen der Dichtung nicht. Seine Lebensführung ist ausgerichtet auf das Gedicht. Er überträgt französische, spanische, englische Lyrik. Er rezensiert Lyrik. Die Erfahrungen mit den Gedichten anderer wird zur „Erfahrung mit der eigenen Sensitivität, ihren Listen, ihren Erfindungen, ihren Grenzen, ihren Niederlagen“. Er bekennt sich zu den Einflüssen, die von außen und überall her kommen. Er weiß: das Gedicht als lebenslange Übung bedarf dauernder Auffrischung. Keine Gefahr ist größer als die der Verholzung, die der Sicherheit. Das Gedicht ist eine „Irritation“. Es darf eher provisorisch sein als endgültig. Es hat weiße Flächen, Ränder, Öffnungen. Es ist luzid, porös, graziös, leicht, elastisch, schmal. Krolow liebt diese Wörter alle und streut sie in seine Zeilen.
Am Anfang gilt es, wie Oskar Loerke gesagt hat, für die „fruchtbaren Gemeinplätze“, welche die Natur jedermann hinhält, neue und genaue Zeilen zu finden:

Plumper Stamm, von Fäulnis bleich bepilzt,
Manchmal süß beschwert von einer Bienentraube.
Vogelflöten, das im Raume schmilzt,
Kommt zu End und herbergt nun im kargen Laube,
Von der Katzensohle sanft beschlichen. −

Einzelne Zeilen brechen schon aus der Idylle aus. Was geschieht, muß sich auch bei ihm verzeichnen. Er erkennt die Gefahr, zu versinken „im grünen verbalen Urwald“; er sieht die Möglichkeiten der anderen Lyriker. Seine theoretischen Aufsätze führen immer wieder ihre Namen auf: Char, Michaux, Cummings, Williams, Perse, Lorca, Guillén, Alberti, Alonso und andere. Die Entwicklungssprünge, welche die einzelnen Bände bzw. Kapitel voneinander unterscheiden, haben mit diesen Begegnungen zu tun. Die Spannung, die durch die Begegnung zustande kommt, steht nicht nur in den Aufsätzen, sondern in den Versen selber:

Aber mit diesen
Namen aus Zauber
Ist nichts erwiesen:
Der gurrende Tauber,
Die süßen Geräusche
− Erhört wie bewußtlos −
Vergehen. Ich täusche
Sie vor als ein Sinn bloß
In Worten, in Zeichen,
Die keinen erreichen.

Lange, zyklische Gedichte erscheinen zwischen den Jahren 1949 und 1955. „Nacht“, „Dunkel“, „Zwielicht“, „Traum“, „Augen“, „Haare“, „Aroma“, „schwarz“, „weiß“ – als wiederkehrende Wörter weisen sie auf eine Gestimmtheit, die vom Surrealismus gefördert wird. Die Naturmagie hat die neuen, universelleren Assoziationsformen längst vorbereitet. Kein Bruch; ein Übergang. Die Wörter selber werden in Freiheit gesetzt. Das Gedicht will inspirieren, imaginieren. „Ich erfinde dich“, lautet eine Zeile. „Ich habe für dich Gegenwart erschaffen“, eine andere. Also sind die Männer, die Soldaten, die Matrosen, die Liebenden, die Zimmer, die Länder, die Erdteile – die Themen der Gedichte – Wirklichkeiten, die es erst gibt, seit es diese Gedichte gibt: „Wirklichkeit von Vokabeln“.
Benennbares und Nicht-Benennbares stehen nebeneinander. „Ein zarter Widersinn“ spielt zwischen ihnen. Nuancen, Valeurs, Dissonanzen, Metamorphosen, Zeiten, Räume, Orte, Vorgänge werden versammelt, erfunden, erschaffen!

Mache dich auf und schaffe
Aus einer Handvoll Schilf und Papierlaternen
Die Zuversicht.

Krolow ist anti-metaphysisch gestimmt (wie die Autoren des Nouveau Roman). Er verabscheut den Stoff, die Fabel, den AnIaß. Er ist Benn, den er seltener zitiert als andere Lyriker, verwandt in der artistischen Haltung; in der Auffassung auch: das Gedicht sei anachoretisch, monologisch, „an niemand gerichtet“, ein „Kunstprodukt“.
Zur Überraschung hat ein Zyklus die Überschrift: „Politisch“. Er enthält beinahe anwendbare Zeilen:

Der Staat, das ist
Der steinerne Gast.
Er erscheint: allen Abwehrgesten
Zum Trotz.

Doch wichtiger sind alle anderen Strophen, in denen die Beklemmungen, wie sie zur Politik gehören, in Sprache gebracht sind; in eine Sprache, die man in diesem Zusammenhang vorher nicht vernommen hat. Zusammenhänge, Metaphern, Sinn-Fragmente, die gleichsam weiße, und deshalb umso erschreckendere Schatten werfen.
Karl Krolow ist ein Lyriker, der so, wie er angetreten ist, fortfährt. Der mit der einen, ihm zugeordneten Möglichkeit immerzu spielt; der nur vortäuscht, er entferne sich, er sei beeinflußt, er imitiere, er sei gelenkiger, als man sein darf. Die eine, individuelle Einheit in der Vielfalt der Versuche, das ist der starke Eindruck, den seine Gesammelten Gedichte jetzt hervorrufen. Schon ist dem umfangreichen Band ein neuer gefolgt: Landschaften für mich. Kennzeichnende Zeilen lauten: „Undankbares Handwerk / zu beschreiben, wie es / grün wird.“

Und:

Baumschatten lassen
verschiedene Beschreibungen zu.

Mit solcher Kenntnis hält er sich für kommende Metamorphosen offen.

Hans Bender, Merkur, Heft 220, 1966

Musterung eines Œuvres

Als 1927 Gottfried Benns Gesammelte Gedichte herauskamen, war ihr Verfasser 41 Jahre alt. 1965, zum 50. Geburtstag von Karl Krolow, erschienen dessen Gedichte in einem umfangreichen Band. In der Zwischenzeit brachte es kein deutscher Lyriker mittleren Alters zu einer repräsentativen Ausgabe seiner Dichtungen. Eine umfassende Veröffentlichung von Brechts Lyrik, die der Malik-Verlag 1938 vorbereitete, mußte der politischen Umstände wegen aufgegeben werden. Gewöhnlich bekommt man hierzulande erst dann die Chance, seine Gedichte zusammenzufassen, wenn man nur noch geehrt, aber nicht mehr gelesen wird. Mit dem Begriff „Gesammelte Werke“ verbinden wir automatisch die Vorstellung von etwas Klassischem. Klassisch heißt ja bei uns vor allem: entschärft, wirkungslos. Deshalb vielleicht die sanfte Komik, die für das Volk in dem Ausdruck „Gesammelte Werke“ zu liegen scheint. Muß es dabei bleiben? Wenn Krolows Beispiel Schule machte, könnte allmählich das Eis unserer Bräuche und Vorurteile gebrochen werden.
Seine Sammlung umfaßt chronologisch geordnet, Gedichte aus genau 20 Jahren. Etwa 30 davon waren bisher unveröffentlicht. Insgesamt sind es 270 Gedichte; rund 400 hat Krolow bis 1964 in Büchern veröffentlicht. Es ist interessant, die lyrischen Stücke einmal nach Jahrgängen durchzuzählen. Aus dem ersten Jahrzehnt hat Krolow im Höchstfall pro Jahr 14 Gedichte aufgenommen. 1955 sind es 27, 1956 gar 45, 1957 wieder 27. Dann nimmt die Zahl ab, das heißt, sie kommt in die Nähe der durchschnittlichen Quote aus den frühen Jahren. Eine solche Statistik verbürgt sich zwar nicht dafür, daß die Zeit zwischen 1955 und 1957 Krolows produktivste war, aber sie macht deutlich, wie der Dichter seine eigene Dichtung eingeschätzt wissen möchte. Man erkennt, welcher Phase innerhalb seines Œuvres er den Vorzug gibt. Es ist jener Zeitraum, in dem er seine ersten reimlosen Parlandogedichte schrieb, also von der Naturlyrik weg zu einer uneingeschränkten, teils spielerischen, teils kritischen Concettopoesie überging.
Daß ein Autor mehr Wert auf seine neuen Arbeiten legt, ist sein gutes Recht. Von der Kritik war es zuerst Hugo Friedrich, der sich mit dem vollen Gewicht seiner Autorität für Krolows nouvelle vague entschied und den Band Fremde Körper (1959) als die bisher reifste und eigenständigste Leistung herausstellte. Seitdem hat man sich weitgehend geeinigt, den „neuen“ Krolow für den eminenteren zu halten. Gut, warum nicht? Zwar heißt es, Lyriker schrieben ihre besten Sachen in der Jugend; wenn man jedoch genau hinschaut gibt es viele Ausnahmen von dieser Regel. Was sich in unserem Fall allerdings unangenehm auswirkt, ist die Angewohnheit zahlreicher Kritiker, den Concettisten Krolow gegen den Naturphysiker Krolow auszuspielen, also den einen auf Kosten des anderen zu loben. Auch in den Urteilen zu den Gesammelten Gedichten findet man wieder diesen Tenor. Zeigen sich die Formen einer Phase der Literatur als nicht weiter verwendbar, so heißt das noch lange nicht, auch die Ergebnisse dieser Phase seien jetzt so „überholt“, daß sie zum alten Eisen gehörten. Gedichtmodelle verhalten sich zur Zeit nicht unbedingt wie Automodelle. Die neue deutsche Naturlyrik hat in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren eine Fülle vollkommener Gebilde hervorgebracht, deren Dauerhaftigkeit sich erwiesen hat und weiter erweisen wird. Daß man es diesen Gedichten ansieht, in welcher Zeit sie entstanden sind, kann ihnen niemand im Ernst zum Vorwurf machen. Nur ihre historische Rechtmäßigkeit legitimiert Dichtungen, in die Ränge des „Zeitlosen“ aufzurücken. Es gehört keine kritische Kunst dazu, aus einem Abstand von Jahren das Charakteristische eines epochalen Stils, das mit der Zeit gerade in seinen Übertreibungen immer schärfer hervortritt, zu kritisieren. Wer jetzt sein Urteil fällt, müßte sich vielmehr vor Augen halten, daß sich jeder Zeitgeschmack zu dem voraufgegangenen polemisch verhält, daß wir also zu der Kunst von gestern von vornherein in einem kritischen Verhältnis stehen.
Nicht wenige der schönsten Naturgedichte neueren Datums stammen von Karl Krolow. „Mahlzeit unter Bäumen“, „Verlassene Küste“, „Wasserlandschaft“, „Sommermittag“, „Orte der Geometrie“ – das sind Höhepunkte einer ebenso zarten wie liquiden Poesie, in der sich das Außen der Landschaft blitzhaft als unser Inneres erweist. Es handelt sich nicht um sogenannte Seelenlandschaft. Ebensowenig haben die Gedichte mit hochempfindlichem Spätimpressionismus zu tun. Wasser, Luft, Licht und Laub kommen auch nicht mehr symbolisch vor, sondern mit der Konkretheit von Erinnerungen, die uns überraschend einleuchten. Darum hat die Lyrik selbst in einer immer stärker technisierten und politisierten Welt nichts Unzeitgemäßes. In hellen rapiden Visionen wird der Traum vom unsterblichen Idyll ausgeträumt.
Wir, die wir mit diesen Gedichten Krolows gelebt haben, können bezeugen, daß sie mehr sind als bloß Objekte ästhetischen Wohlgefallens. Verse wie „Die schöne Stille der Gewächse“ oder „Hingerauscht als Ungewicht“ oder „Die Auferstehung aus Rosen und Wind“ haben unser Sehen, Hören und Fühlen ein für allemal geprägt, wie anderseits die unvergeßlichen Zeilen

Hör ich im Laube lachen
− Verbrannt vom Salz der Laugen −
Soldaten, fremd, mit flachen
Maschinengewehraugen

oder:

Aus Asche und aus Widerstand
Buk sich des Lebens Brot

mit den Bedrohungen und der Unbeirrbarkeit jener Jahre unauflöslich zusammengewachsen sind und uns, wann immer wir sie lesen, unsere Situation nach dem Krieg wetterleuchtend sichtbar machen.
Der Übergang vom gereimten Naturgedicht zum prosaisierten Pointengedicht vollzog sich folgerichtig, bruchlos, ohne Hast. Hier in den Gesammelten Gedichten können wir das Umorganisieren der poetischen Mittel gut studieren, denn was sich in den Einzelbänden überschneidet und verästelt, das tritt nun Schritt um Schritt und deutlich bis hinein in die feinsten Sprachgesten ans Licht. Die Abneigung gegen den Reim beispielsweise äußerte sich in der Übergangszeit schon in jenen großbogigen Elegien und Preisliedern, wo die Reimworte durch die Länge der Zeilen gewissermaßen immer weiter hinausgeschoben wurden. Um die pure Gegenständlichkeit der Dinge hinter sich zu lassen, gab Krolow seiner Imagination ein enormes Tempo und begrub seine Sujets unter einer Lawine von Metaphern. Überhaupt, Stücke wie „Heute“, „Ode 1950“, „Gedichte von der Liebe in unserer Zeit“, „Huldigung an die Vernunft“ und „Koreanische Elegie“ können – vom heutigen Standpunkt aus – nur noch als notwendige Zwischenglieder in der Entwicklung, nicht mehr als außergewöhnliche Poesien gewürdigt werden. Es hat sich herausgestellt, daß das Rhapsodieren, die Ideen- und Bewußtseinslyrik, des Dichters Sache nicht sein kann.
Seine neue Parlandolyrik, heißt es mit Recht, sei vor allem durch die intensive Beschäftigung mit den modernen Spaniern und Franzosen zustande gekommen. Die Grundmotive, die sprachlichen Elementarteilchen, sind jedoch von den Einflüssen unberührt geblieben. Die Hinwendung zum Heute, die Kritik zwischen den Zähnen, die gebildete Anspielung, das Halluzinatorische und Erotische, die Vorliebe für Marinen, Mathematik, Musik – all das, was eine oberflächliche Literaturkritik als neueste Errungenschaften hinstellt, ist bis in die allerfrühesten Gedichte zurückzuverfolgen. Vollkommen „organisch“ hat sich diese Lyrik entfaltet. Auch daß bei Krolow mit zunehmendem Alter der Wortaufwand abnimmt bis zur Einsilbigkeit, der rhythmische Gestus immer knapper und härter wird, scheint mir natürlich.
Das allerneueste Gedicht ist also kurz angebunden. Schon die Anfangszeilen machen es deutlich: „Körperkräfte der Schatten.“ Oder: „Zeit ohne Blut und Ruß.“ Oder: „Vom Morgen gemähter Mond.“ Das sind Intonationen, die keinen Wert mehr auf die „Verbindlichkeit“ des Verbums legen. Immer auffälliger neigt Krolows Syntax zu reinen substantivischen Konstruktionen. So wird der Satzbau zwar gedrungener, doch die Schlankheit und Zierlichkeit des einzelnen Wortes nimmt den Verkürzungen alles Eherne, Gemeißelte. Der Vers bleibt graziös. Die Anmut der Bilder hält ihn in der Schwebe.
Nicht ganz so deutlich sind die Veränderungen innerhalb der Metaphysik. Auch hier läßt sich eine haushälterische Gesinnung feststellen, eine strengere Ökonomie. Mehr noch als diese Sparsamkeit scheint mir eine Abwandlung in der Bildung von Metaphern wichtig. Immer wieder kommt es vor, daß Krolow jetzt für ein bestimmtes Stück Sprachwirklichkeit den potentiellen Begriff oder die dingliche Entsprechung sucht, daß er also die gewöhnliche Praxis der Metaphernfindung ingeniös umkehrt: So sagt er beispielsweise nicht: Kindheit ist wie Kerzenlicht in einer Flasche – vielmehr: Kerzenlicht in einer Flasche: / Kindheit.“ An derartigen Stellen wird ein bemerkenswerter Vorgang faßbar. Nicht mehr die Welt, die Sprache ist es, von der die Initiative ausgeht. Nicht mehr Dinge und Sachverhalte werden von ihr mit Bedeutung erfüllt, sondern kraft der Poesie werden die Dinge und Sachverhalte neu erschaffen. Am Anfang ist das Wort.
Ebenso verfährt der Dichter mit den Gegenständen des Denkens. Das, was wir Reflexion nennen, ist bei Krolow jetzt kaum noch anzutreffen. Verse wie „Die Hoffnung bietet Anlaß genug, / das Leben zu korrigieren“ (1959), wird man in den letzten Gedichten vergeblich suchen. Hier borgt sich der Gedanke kein lyrisches Gefieder. Die neugewonnene Welt hat ihn sich buchstäblich einverleibt. Statt mit Begriffen wird mit den Anzeichen dieser Welt gedacht:

Eine große, gelbe Tür springt auf.
Langsam beginnt es zu regnen
auf alle, die im Todesschlaf liegen.

Von einer solchen Lyrik kann man keine direkte Parteinahme erwarten. Politische oder gesellschaftliche Kommentare sind nicht ihre Sache. In erster Linie ist es ihr darum zu tun, unsere Wahrnehmung zu schärfen durch Intensivierung unseres Bewußtseins. Wie sie jedes Wort sensibilisiert, das ihr Atem streift, so sensibilisiert sie auch den Leser. Dabei bleibt es freilich nicht aus, daß hier ohne besonderen Nachdruck Entscheidungen getroffen werden, die nicht bloß in den Grenzen der Lyrik Geltung haben. „Tag in Deutschland“ ist so ein Gedicht, das auf zarte, aber entschiedene Weise höchst reale Zustände sichtbar macht. Es erweist sich, daß autonome Poesie nicht Gleichgültigkeit gegenüber der Zeit zur Folge haben muß. Der Grenzfluß des Schweigens zwischen Leben und Dichten kann überbrückt werden.
Aber es wäre falsch, wenn wir in all den Kennzeichen ausschließlich die Ernsthaftigkeit dichterischer Bemühung sehen wollten. Vieles an ihr ist spielerisch. In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen hat sich Karl Krolow über das Spiel im Gedicht ausführlich geäußert. Er begnügt sich nicht damit, diesen leichten luftigen Reiz als ein belebendes Arkanum darzustellen, das in der Dichtkunst seit eh und je seine Wirkung getan hat; er nennt dort das Element des Spielerischen auch einen „wichtigen Faktor“ in jenem Entindividualisierungsprozeß, der für die zeitgenössische Lyrik so bezeichnend zu sein scheint. Arp etwa oder der frühe, der matrosenhafte Alberti kommen für solche Theorien als Kronzeugen in Betracht.
Die neuen Gedichte blitzen von Einfällen. Nichts ist dieser Phantasie unmöglich. Dabei läßt sie sich durchaus auf Stofflichkeit ein, tritt anschaulich, „konkret“ in Erscheinung. Aber sie bringt es fertig, die Aggregatzustände der Stoffe aufzuheben und ihre grenzenlose Vertauschbarkeit zu demonstrieren. Die Form derartiger Spiele bleibt das Concetto. Scharfsinnig, luzid, überraschend zugespitzt trägt die Imagination sich selber vor:

Fernes Land, in dem
Himbeeren durch die Luft fallen
und Männer mit leeren Bienenkörben
die Kirchenstille einfangen.

Luft: sie ist Herzwort und Element des Krolowschen Gedichts. Ein heller Zauber, eine spröde Heiterkeit machen sie schiffbar zur „Fahrt ins Innere der Augenblicke“. So sind die Verse als ein momentanes Innewerden zu verstehen, in dem Anschauung in Sinnfälligkeit dialektisch umschlägt und umgekehrt Bedeutung und Begrifflichkeit sich in ein fühlendes Sehen verwandeln. Keine Reime, keine suggestiven Klänge dringen mehr ans Ohr. Stück für Stück in leicht rhythmisiertem Parlando, das die Nähe der Prosa geradezu sucht. Nirgends wird die Stimme gehoben – ein einziger gleichmäßiger Ton, ja ein einziges Gedicht! Poésie in interrompue. Das geht so weit, daß man nur Verse und Strophen, kaum mehr ein ganzes Gedicht behält.
Karl Krolow ist nie – wie Brecht zeitweise – aus dem Reich des Schönen emigriert. Für ihn bleibt es ein Landstrich mit Flüssen, Vögeln, Laub und Mörtelmauern, eine Gegend für Reiter und Radfahrer, für Scharfschützen und Heckenschützen. Seine städtischen Szenerien sind in den Staub der Geschichte gepflanzt, doch nur ganz leicht wie Kulissen von zarten komischen Opern, die nirgends mehr aufgeführt werden. Lauter Hintergründe für ein Musizieren mit Metaphern: für ein ebenso zierlich groteskes wie helles und herbes Allegro. Immer lichter werden dabei Fühlen und Ahnen, immer durchsichtiger erscheint das dunkle Zentrum in uns. Zuletzt ist der Dichter nichts weiter als ein Mann, der uns die Augen öffnet.
Wie seine Gesammelten Gedichte zeigten, hat sich Krolow durchaus nicht nur in den frühen Schaffensgängen an die Landschaft gehalten. Selbst in seinen sogenannten moralischen Gedichten, wo er Politisches und Zeitgeschichtliches in phantastischen Verkürzungen aufblendete, ist sie anwesend: in Ausschnitten oder Hintergründen, in Vergleichen und Metaphern. Neuerdings scheint die Landschaft als Ausgangspunkt den Lyriker wieder besonders stark anzuziehen. Landschaften für mich nennt er den ersten seiner nach der großen Sammlung erschienenen Bände.
Krolow kehrt darin keineswegs zu den Anfängen seiner Naturlyrik zurück. Die Zeit, in der er die Natur dämonisch oder bukolisch auffaßte, ist endgültig vorbei. Seine Landschaftsgedichte sind nun samt und sonders ironisch. Diese Perspektive kommt vor allem dadurch zustande, daß es sich der Autor beinahe zur Regel macht, beim Aufzeichnen einer Landschaft von den Problemen, vor die den Lyriker gerade diese Landschaft stellt, gleichzeitig Bericht zu erstatten. Mit anderen Worten: Innerhalb der Gedichte wird vom Handwerk des Dichtens gehandelt. Das gehört heute durchaus zum modernen Ton.
So intoniert Krolow etwa: „Es gibt noch kein Gras / zu besingen.“ Oder: „Undankbares Handwerk, / zu beschreiben, wie es / grün wird.“ Oder: „Die schlechtbezahlte Tätigkeit des Erkennens.“ Doch die Auflösung der Landschaft als Objekt, das sich „bedichten“ läßt, wird auch noch durch andere Kunstgriffe vorangetrieben, Da ist zum Beispiel die Abstraktion. Immer wieder versucht Karl Krolow, von den natürlichen Verhältnissen geometrische oder mathematische Ordnungen abzuleiten. Er sagt: „Die Fläche schwarzer Oliven, gestern von Euklid geordnet.“ Ein Fisch kommt vor „mit geometrischer Flosse“. Einmal spricht Krolow von einer „konischen Landschaft“, die in einem Fensterrahmen aufgehäng ist „als Kegelschnitt des Apollonios“. Den Gefahren der Idylle sucht er dadurch zu entgehen, daß er das sogenannte Poetische durch häufigen Gebrauch von Fremdwörtern drosselt, das Behagen am Schönen durch Sachlichkeit stört. Auch diese Austrocknung der schillernden Tümpel des Gefühls wird methodisch betrieben. Schließlich literarisiert und historisiert Krolow die Landschaft, indem er zwei Dutzend Namen in seine Verse einbaut: Hölty, Gluck, Valéry, Rousseau, Seume, Rilke, Mistral, Cicero, Stendhal, Brentano, Xenophon, Vivaldi, Ravel, Jammes und so weiter. So entstehen völlig entmaterialisierte Himmelsstriche mit Spazierwegen für Feinschmecker von Jahreszeiten, Luftschlössern, Zitaten. Seit den Fremden Körpern ist die Lyrik Krolows gegen poetische Traditionen und Konventionen allergisch. Nicht bloß von Sentiment, Stimmung, Wohllaut versucht sich der Autor energisch zu distanzieren, auch mit dem alten Wirklichkeitsbegriff kann er offenbar nicht mehr viel anfangen. Realistik ist ihm fremd geworden – gleichviel, ob man sie aristotelisch als Nachahmung oder marxistisch als Widerspiegelung begreift. Kunst entsteht für ihn aus Kunst, Dichtung ist nur auf Dichtung angewiesen.
Die Entschiedenheit, mit der Kunst zur Wirklichkeit erklärt wird, bringt es mit sich, daß hier auch die Geschlossenheit des Gedichts nichts mehr gilt. Wer in Versen von Poesie spricht, zerstört die Vorstellung, von der seine Verse ausgehen. Krolow sieht in der vollkommenen Einheit des Bildes eine Illusion. Darum die Brechungen bei ihm, die ironischen Schritte aus dem Bildrahmen heraus. Diese Literarisierung ist jedoch weit davon entfernt, nur ein Theoretisieren und Räsonieren in Versen zu sein. „Alles ist Augenschein“, bekennt Krolow. Und wirklich, selbst die Abstraktion wird ihm unter der Hand sinnenhaft, wie anderseits der Augenschein nicht einmal dort zu blasser Begrifflichkeit absinkt, wo seine schöne Intensität absichtlich gedrosselt, das heißt entsinnlicht wird. Wendungen wie „metaphysische Neugier“, „physiologische Zeit“, „tropische Ästhetik“, „perspektivische Störung“, „romantische Tugend“ und so weiter steigern nicht nur den Bewußteinsgrad des Gedichttextes, sie bringen auch innerhalb des Wortlautes jene Stellen, die bildhaltig sind, durch Kontrastierung um so stärker zum Leuchten. Nur wo sie gehäuft auftreten, bekommt die Sprache etwas leicht Manieriertes.
Wie in alten Zeiten ordnet der Autor seine Arbeiten wieder jahreszeitlich an. Auch die Vorliebe für den Sommer hat sich nicht geändert. Und doch: diese neuen Landschaften hängen mit den frühen nur noch sehr lose zusammen. Sie hängen an Zwirnsfäden, Drachenschnüren, Ballonleinen: jederzeit bereit, sich in die Luft zu erheben:

Die Reisebilder einiger Stunden
unter hohen Bäumen.

Geschwätz der Luft:
Vögel, die sich
zu kurzem Fluge sammeln.

Ich gerate immer tiefer
in einen Himmel,
sagenblau wie das Wasser
Xenophons.

Das Phantastische, stellenweise Märchenhafte solcher Entwürfe bleibt – und das ist Krolows besondere Stärke – stets „glaubwürdig“. Es kann sich auf Entsprechungen in unserem Innern berufen. Die Assoziation gewinnt ja nur dort Authentizität, wo sie sich innerhalb gewachsener, homogener dichterischer Anschauung bewegt.
Die Künstlichkeit der Natur läßt sich übrigens an den Herbstgedichten besonders leicht erkennen. Hier wird noch einmal deutlich, von wie wenig „Wirklichkeit“ die Verse ausgehen. „Durch die Postkarte vom Herbst / die langsame Fahrt / einer Kutsche mit / Getreidepuppen (…)“ So intoniert Krolow eins dieser Gedichte. Etwas später wird der Herbst als Kupferstich vorgestellt. Schließlich sieht der Dichter in der späten Jahreszeit „das Ende eines rustikalen Romans / bei sauren Schlehenfrüchten“. Paradox gesagt: Krolow erhebt in seiner Lyrik nur das zur Kunst, was er schon vorher in Kunst verwandelt hat. Es ist die Erhebung der Poesie in die zweite Potenz.
Der Wortlaut dieser Gedichte hält sich an die Errungenschaften, mit denen der Dichter sich uns in den letzten Jahren derart nachhaltig eingeprägt hat, daß wir seine Verse sozusagen schon auf eine Meile erkennen. Lakonische Syntax, Genitivkonstruktionen, unvollständige Sätze, Prosaeinsprengsel, Häufungen von Wörtern wie Himmel, Wasser, Blätter, Körper, aber auch erotische Metaphern, Halluzinationen. Fast scheint es, als setze Krolow jetzt seine Mittel noch bewußter ein, als lege er Wert auf einen noch schlankeren Text. Souveränität des Sagens, die nicht anders als Meisterschaft genannt werden kann.
Aber was kommt zum Ausdruck? Was wird gesagt? Nur schwierig lassen sich die geistigen Grundzüge dieser Lyrik nachziehen. Es gibt in den Landschaften für mich kaum ein Stück, das eine Reflexion vollkommen durchhält, zu einenm einzigen Gedanken gerinnt. Nicht „menschliche“ Thematik, sondern das „visuelle Ereignis“ regiert die Verse. Immer enger schließen sich die Gedichte der letzten Jahre zu einer Art „Schule“ zusammen, einer Kunst des Sehens. Das Malerische freilich spielt dabei keine Rolle. Wer die Schule studiert, dem werden zwar auch die Augen geschärft für den sinnlichen Reiz von Zuständen des Wirklichen, weit mehr jedoch als im Schauen übt er sich im Durchschauen der Dinge.
Zuletzt sinkt die Landschaft wieder in den Hintergrund zurück. Am Ende des Buches geht es um die Erinnerung an Preußen, den Frieden, die Vergänglichkeit. Weniger durch ihre ästhetische Qualität als durch ihre stärkere Signifikanz heben sich diese Gedichte von den übrigen ab. Während im dreiteiligen „Im Frieden“ mit Stichworten wie Gleichgültigkeit Langeweile, Dahinleben der latente Überdruß an der Zeit plötzlich demaskiert wird, kommt im Schlußgedicht die alte Klage über den Tod klaglos zur Sprache:

Ruhig kann man
den Schrecken besehen
in den offenen Augen
von Toten.

In seinem Prosaband Minuten-Aufzeichnungen – einer Fortsetzung des Poetischen Tagebuchs von 1966 in freierer Form – hat Krolow an zahlreichen Stellen zu definieren versucht, was ihm als Ideal heutiger Lyrik vorschwebt. Er zitiert Pierre Reverdy: „Der beste Stil spricht mit leiser Sprache.“ Worte, meint Krolow weiter, taugten für Gedichte dann am besten, „wenn ihre Bedeutung ganz wirksame Oberfläche ist. Eine Oberfläche, an die niemand ein Lot zu legen braucht, weil es weder Tiefe noch Höhe gibt.“ Der Wortlaut sollte „Hand und Fuß“ haben, möglichst einfach sein. Krolow schätzt „haltbare Sätze (…), die sich nicht aufhalten bei Nebensätzen, die vielmehr zur Sache, zum Vorgang kommen, den sie wiedergeben wollen.“ Die Devise also: Nicht lange fackeln. Haltbare Sätze sind kurz.
Diesem poetischen Ideal hat sich Krolow im bisher letzten seiner Lyrikbände, in den Alltäglichen Gedichten, genähert wie nie zuvor. Das unaufdringliche Sprechen ist ihm jetzt wichtiger als alles andere. Mag es zu Monotonie, zu Tonlosigkeit führen – warum nicht? Wenn es sich nur identisch erweist mit dem, was einen Augenblick lang als unmißverständlich eingeleuchtet hat. Krolow nimmt sich selbst beim Wort. „Der Traum von kurzen Sätzen“ wird Realität:

Das Wunderland entsteht.
Die Bäume blühen nach oben.
Ein Mädchen lebt

für einen Liebesreim.
Das Mittagslicht zerbricht
schon in der Ferne.
Heiße Bäder
nimmt der Fluß.
Nichts bleibt verborgen.

Ich bewohne endlich
den eigenen Körper.

Kann man das noch knapper, noch simpler sagen? Von der Faustregel des einfachen Satzes – Subjekt, Prädikat, Objekt – wird in den sieben Sätzen nur ein einziges Mal durch Inversion abgewichen: „Heiße Bäder / nimmt der Fluß.“
Wir wissen, daß das halblaute, gleichmäßige Vor-sich-hin-Sprechen von langer Hand vorbereitet wurde, daß es die letzte Konsequenz einer über zehnjährigen Entwicklung darstellt. Nun aber, da wir sehen, wie sehr sich die Wörter rar machen, kommt uns zum Bewußtsein, daß auch der Blickwinkel des Mannes, der sie benutzt, schmaler und schmaler geworden ist. Krolow begnügt sich jetzt mit dem Nächsten. Alltäglichen. Er notiert nur noch solche Einzelheiten, die seiner kargen Weise, deutsch zu reden, völlig entsprechen. Oder ist es umgekehrt? Bringt nicht die einfache Wahrnehmung von „Rose, Brot, Tisch, Bett, Zimmer, Mann, Frau, Finger, Hand“ jene Prosa der Poesie hervor, die für Krolow typisch geworden ist? Wir werden gleich noch einmal darauf zu sprechen kommen. Hier stellen wir zunächst nur fest, daß sich Welt und Sprache gegenseitig ans Licht bringen, eine der anderen Analogie bildet.
In den Minuten-Aufzeichnungen gibt es eine Passage mit der bezeichnenden Überschrift „Schreiben ist auf Stichworte angewiesen“. Darin heißt es:

Die literarische Aufmerksamkeit, die auf der Lauer liegt, diese schlaflos scheinende Eigenschaft, benötigt sie (die Stichworte) zur Auflösung ihrer Spannung und zur Auslösung der Produktivität. Die Welt ist – im richtigen Augenblick – voller Stichworte. Sie ist geradezu ein einziges Stichwortbündel, das mit Einfällen blitzt. Doch muß der Blitz zünden. Der funkenlose Einfall gilt nichts. Er muß elektrische Energie haben. Das Stichwort als Stichflamme.

Krolow bestätigt hier ausdrücklich, was wir im Laufe unserer Untersuchung vermutet hatten: daß es gewöhnlich einzelne Vokabeln sind, die bei ihm den poetischen Prozeß in Gang bringen, den Anfang stiften. Stichworte erfindet man nicht, Sie fliegen einem zu. Man agiert, indem man reagiert. Nehmen wir das Gedicht „Apfel“. Welchem Wort, welcher Wendung könnte es entsprungen sein?

Aller Äpfel Anfang
im Pastorengarten von einst −
Borsdorfer und rote Renette.

Das Lexikon sagt, daß
das Holz der Bäume
sehr polierbar,
auch zur Herstellung
von Holzschnitten geeignet
sei.

Dagegen
der mythologische Apfel,
von Nymphen gehütet.
Die Hesperiden starben
wie Herakles.
Im äußersten Westen
trägt niemand mehr
den Himmel.

„Pomologische Gedichte“ nennt Krolow den Zyklus, aus dem dieser Text stammt. Gewiß, ohne den Vorsatz, innerhalb dieses Zyklus auch etwas über Äpfel zu schreiben, wäre das Gedicht wahrscheinlich nicht entstanden. Doch was hilft der gute Wille, wenn es zu keiner Zündung kommt? Es ließe sich denken, daß etwa das zusammengesetzte Substantiv „Pastorengarten“ (aus dem wir auch den „Garten Eden“ noch heraushören) oder die Wendung „äußerster Westen“ das Stichwort abgegeben haben, das diese Verse ins Rollen brachte. Freilich bleiben wir hierbei auf Spekulationen angewiesen. Aber es ist sicher keine unnütze Beschäftigung, Krolows Gedichte auf ihre Initialworte hin abzutasten. Überraschend stoßen wir auf die Ritze von Geheimtüren.
Die meisten Stichworte liefert das Wetter. Es gehört zum Alltäglichsten, worüber wir reden. Einen schönen Tag loben, Krieg mit dem Winter führen ist also ein Gedicht wert, doch ebenso das Stehen und Beobachten am Fenster, das überqueren der Straße, Händewaschen, Durst und Müdigkeit, die Art, jemanden zu lieben, Gelächter, gemeinsame Reisen, Gedanken über die, die an der Macht sind und sich hinter dem Begriff Staatsgewalt verschanzen, ja alle jene einfachen Kunststücke, die wir fertigbringen, um zu leben, haben bei Krolow eine Chance.
Für das Concetto mit seinen phantastischen Bildschnitten ist in den Alltäglichen Gedichten nur noch wenig Platz. Das soll nicht heißen, daß der Autor jetzt „Realist“ geworden sei. Der Alltag kann sich bei ihm noch immer von einem Wort zum andern in etwas Unerhörtes verwandeln. Doch mit einem um jeden Preis unauffälligen Wortlaut vertragen sich schlecht solche Metaphern, die wie Raketen in die Luft gehen. Schon von der Sprache her wird also der Phantasie ein Riegel vorgeschoben. Machen wir es ganz plausibel: Wo Wendungen benutzt werden wie im großen und ganzen – so weit, so gut – eine Menge zu tun – daß alles so gut geht – Arbeit oder was man so nennt – das geht so fort – in der Sack haun – schon gestern war so ein schöner Tag – wo man also dergestalt wörtlich wird, geraten die schönen Halluzinationen ins Hintertreffen. Haben wir Krolow früher in der Nachbarschaft der in ihre Imagination verliebten Franzosen und Spanier oder eines Märchenerzählers wie Arp entdeckt, so spüren wir bei ihm jetzt eher eine Neigung zu Gedichten, wie sie die konkreten Amerikaner schreiben, ein Robert Creeley, ein William Carlos Williams vielleicht. Zu Gedichten von zunehmender Klarheit.
Was an Literatur direkt in die neuen Verse eingegangen ist, auch das ist viel schlichter als früher. Die gebildeten Anspielungen, die erlesenen Namen sind vielfach populären Zitaten von Goethe, Hölderlin, Claudius, Mörike und aus dem sogenannten deutschen Liederschatz gewichen. Krolow parodiert jetzt Gedichte wie „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, schreibt mit pedantischer Ironie:

Mit gelben Birnen hänget −
und der Birnbaum im Garten
des havelländischen Herrn
von Ribbeck:
zur Familie der Rosengewächse gehörend.

Ab und zu hebt er ganz leicht die Stimme, um den trocken-einförmigen Ton für einen Moment durch eine Spur Leidenschaft in höhere Spannung zu versetzen. Halblaute Anrufe an Menschen und Dinge:

Gib mir – sage ich −
was du hast, zum Beispiel
Gemüse für den Magen,
ein leichtes Bett ohne Decke
für ruhelose Körper.

Ein andermal: „Komm, Frost, langsamer Tod.“ Oder: „Dieses offene Licht in deinen Augen.“ Oder: „Sieh dich nicht um – / niemand soll den Schnee / auf unseren Augen / finden.“ Das sind jetzt die fast verschwiegenen, fast unsichtbaren Höhepunkte dieses ganz zurückgenommenen Artikulierens.
Die Alltäglichen Gedichte sind etwa im gleichen Zeitraum wie die Minuten-Aufzeichnungen entstanden. Wer die Bände Wort für Wort liest, wird in ihnen viele Übereinstimmungen in den Motiven, Szenen, Gedankengängen, ja völlig identische Formulierungen bemerken. Nur noch zwei Beispiele. In der „Biographie des Herbstes“ lesen wir: „Zeit der reifenden Quitten, der Venusäpfel: – das Glück auf griechisch. Die gerade Verheirateten mußten sich in eine Quitte teilen, berichtet die Überlieferung. Dann ihre Nacht“ (Minuten-Aufzeichnungen).

Und nun das „Quitten“ überschriebene Gedicht, das so anhebt:

Äpfel der Venus −
das Glück auf griechisch.
die gerade Verheirateten
mußten sich
in eine Quitte teilen.
Darauf ihre Nacht.

Und endlich: „Unter der Bluse aufgerichtete Brustwarzen gleichen Waldhimbeeren“ (Minuten-Aufzeichnungen).

Die entsprechenden Verse:

Der Juli
fällt ins Haus
mit frischen Himbeeren
wie manche Brustwarzen,
aufgerichtet unterm Hemd.

Dies, wie gesagt, nur zwei von zahlreichen kongruenten TextsteIlen. Die Frage nach der Priorität – zuerst im Gedicht oder zuerst im Prosastück? – ist nebensächlich. Entscheidend, daß in diesem Fall Lyriker und Prosaist nicht zu trennen sind, eine gemeinsame Sprache führen. Von der Prosa her bringt Krolow der Poesie Distanz, Gelassenheit bei, von der Poesie her bekommt seine Prosa die faßbare Deutlichkeit. Da sitzt er und schreibt und beobachtet sich beim Schreiben, dieser Mann in den Fünfzigern, der immer auf dem Sprung ist, einer, der lieber geht als sitzt, „mit bleichem Zahnfleisch hinter der Lippe und halb geöffneten Augen“. Auf Zetteln, gerade so groß wie Spielkarten, in einer von Buchstaben zu Buchstaben hüpfenden Schrift entwirft er seine Gedichte. Ein Mann, der die Lyrik der Welt kennt, ihre Theorien, ihre Probleme, der sich sehr wohl seinen eigenen Vers zu machen versteht und für den plötzlich all die scharfsinnigen Überlegungen und phantastischen Spekulationen über das Verseschreiben nicht mehr wiegen als der Sinn dieses einen unscheinbaren Satzes:

Ich versuche
mich zu vergewissern,
daß ich vorkomme.

Ja, das ist im Grunde alles, was sich sagen läßt. Darüber hinaus gibt es nur noch eine Bemerkung über die rechte Hand

Ich führe sie über Papier,
um aufzuschreiben,
daß ich lebe.

Heinz Piontek, aus: Heinz Piontek: Männer, die Gedichte machen. Zur Lyrik heute, Hoffmann und Campe Verlag, 1970

Ein leiser Revolutionär

Eines der frühen Gedichte Karl Krolows, im Jahre 1944 geschrieben, schließt mit der Strophe:

Will mit krummen Fingern schreiben
In die Luft,
Mit der Erdenkälte treiben.
Und es soll von mir nichts bleiben
Als ein kurzer Windhalmduft.

Was diesen Lyriker charakterisiert, glaubt man schon diesen Versen entnehmen zu können: das Leichte und Luftige – das Wort „Luft“ findet sich wohl am häufigsten in den Arbeiten aus zwanzig Jahren −, die Sensibilität für die flüchtigen Erscheinungen der Natur. Diskret tritt das Ich in den Gedichten zurück, in den meisten wird es überhaupt nicht bemüht; kommt es dennoch, wie in der eben zitierten Strophe, vor, wird es meist seiner Schwere und seiner Widerständigkeit beraubt und sozusagen der Natur überantwortet, nicht der Erde, sondern dem Schwebend-Vergänglichen, den Phänomenen und Bewegungen ohne Dauer.
Angesichts dessen mag es einen Augenblick erstaunen, daß Karl Krolow seit seinem ersten Gedichtband Hochgelobtes, gutes Leben, der noch während des Krieges veröffentlicht wurde, als Lyriker immer präsent geblieben ist, während manche fast verstummt sind oder andere nur in großen Abständen einen schmalen Band vorlegen. Krolow gehört zu den kontinuierlichen Arbeitern im Bereich der Lyrik. Er schreibt sich nicht aus, weil er im Gedicht nicht sein persönliches Ich aussagt; weil er nicht über ganz individuelle Themen und Probleme verfügt, die sich eines Tages erschöpfen könnten. Sein leises Gedicht gehorcht den Strömungen und Veränderungen des lyrischen Bewußtseins; es überdauert im Wandel, ist flüchtig und beständig wie die Luft oder die grüne Vegetation des Sommers.
Wie sehr er sich in zwei Jahrzehnten gewandelt hat, macht ein stattlicher Band offenkundig, der pünktlich zu seinem 50. Geburtstag erschienen ist.
Neu in diesem chronologisch angeordneten Band sind in der Hauptsache die Gedichte aus den Jahren 1963 und 1964; die Mehrzahl entstammt sechs früher erschienen Sammlungen, beginnend mit Heimsuchung (1948), endend mit dem Band Unsichtbare Hände (1962).
Daß Krolow in seinen Anfängen und später noch der Naturlyrik eines Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann verpflichtet war, ist kein Geheimnis. Aber einer fast programmatischen Aussage wie „Ich wanderte in die Wesen aus, / Sie litten mich traumeslang“ von Wilhelm Lehmann begegnet man in den Gedichten aus jenen Jahren nicht. Krolow, das ist Vorzug und zuweilen wohl auch Schwäche dieses Lyrikers, ist von Beginn an „draußen“, er mußte nicht erst auswandern. Er bewegt sich in einem bereits eroberten Terrain; so fehlt die herrische Geste und das Pathos der Besitznahme. Leicht und wie mühelos sagt sich die Welt im Gedicht auf:

Grüne Welle flüstert auf.
Silbermund noch lange spricht,
Sagt mir leicht die Welt ins Ohr,
Hingerauscht als Ungewicht.

Vokabeln aus der Botanik werden häufig ins Gedicht genommen: Quendel, Aron und Leimkrautblüte, Schafgarbe, Kälberkropf und Wildwicke. Sie sollen das Gedicht dicht und konkret machen – Gefühle und Stimmungen allein zählen nicht und sind das Vorrecht der Dilettanten. Daß das Gedicht Krolows trotz der konkreten Benennungen selten wirklich inständig den Atem der Natur spüren läßt, selten das Betroffensein von der sinnlichen Gegenwart vermittelt, ist merkwürdig. Es dürfte damit zusammenhängen, daß, anders als etwa bei Günter Eich, dieser Lyriker die Dinge nicht für sich stehen läßt: mit ihrer Schwere und Unverrückbarkeit, ihrem nicht zu entziffernden Wesen. Krolow verwandelt und setzt das sinnlich Gegebene schnell um, er dechiffriert die Erscheinung früh, manchmal zu früh, mit Hilfe der Metapher −

Der Morgen, die traurige Taube, schmilzt
Mir langsam im Aug und verdirbt
Mit blauem Gefieder. In Lüften aus Kork
Steht schwach meine Stimme und stirbt.

In  Versen wie diesen, freilich nicht „Der Morgen“, sondernern Der Täter betitelt, wird dem einzelnen nicht Gelegenheit gegeben, sich ausdrücklich dem Leser einzuprägen. Der Morgen schon und sein Vergängliches wird gerade dank dem sinnlichen Bilde „traurige Taube“ ebenso sehr in seinem Wesen erfaßt wie diesem entfremdet: die aufgerufene Metapher gewinnt mit „blauem Gefieder“ relative Selbständigkeit – oft ein Charakteristikum moderner Lyrik – und dient nicht mehr ausschließlich der unmittelbaren Veranschaulichung. Bevor indessen diese zunächst befremdliche Bildersprache vom Leser gebührend aufgenommen werden konnte, dringt bereits eine neue Überraschung auf ihn ein: die „Lüfte aus Kork“, in denen die eigene Stimme steht und stirbt…
Trotz dieser Vorbehalte, die zum Teil sich nur auf die „Schwierigkeiten“ des Krolowschen Gedichts – und der modernen Lyrik insgesamt – beziehen, findet man auch unter den früheren Arbeiten des Bandes vortreffliche Stücke. Indem Krolow die Sprache leicht und geschmeidig machte, gewann er dem Gedicht eine große Freiheit und Souveränität. Er konnte vielem Einlaß gewähren, weil er sich nicht der Diktatur der landläufigen Fakten und Sehweisen unterstellte; es gelang ihm das Gedicht, weil er früh begriffen hatte, daß es in der Kunst nicht darum geht, die Probleme des Lebens direkt zum Austrag zu bringen. Er nahm den Wörtern die Schwere, weil sie nur so jederzeit für neue Abenteuer verfügbar bleiben konnten.
Ganz zu verhindern war freilich auf diese Weise nicht, daß das solchermaßen entstandene Gedicht sozusagen nur mehr sich selber meinte. Es wies wenig über sich hinaus, machte nicht betroffen, da alles vorgängige Betroffensein von der zuverlässig bereit stehenden Sprache aufgefangen und auch besänftigt wurde. Die zuweilen tödlichen, mitunter aber höchst produktiven Pausen zwischen der Erfahrung und der antwortenden Sprache traten nicht auf oder wurden dem Gedicht nicht integriert: fast schien es, als sei es kein Problem, auf die Welt mit Sprache und Gedicht zu reagieren, mit Reim und Strophe.
Problematischer dürften die großräumigen Zeitgedichte sein, die zu Anfang der fünfziger Jahre neben die Naturgedicht treten. Einige Verse aus dem „Gedicht für den Frieden“ möge das bezeugen:

Der Krieg geht weiter. – Ich spür ihn wie unter dem Hemde
Das trockene Brusthaar, das sich beim Atmen bewegt
In der Stille des Traums, des Traums von den glücklichen Jahren
Mit dem Duft roten Grases, dem Rascheln von Frauenhaaren.

Die große Sensibilität, die liquiden Assoziationen, die Karl Krolow sich in kleineren Formaten erarbeitet hatte, erwiesen sich für das große Gedicht mit politischer Thematik als wenig brauchbar. So entstanden sehr kunstvolle und farbige Teppiche, deren Grundmuster sich unter einem üppigen Rankenwerk verbarg und abhanden kam. Dergleichen konnte Holthusen in jenen Jahren mit seinem unbekümmert plakativen Stil besser machen, ganz zu schweigen vom Auden der dreißiger Jahre.
Hier zeigte sich, daß Krolow auf diesem Gebiet kaum Wesentliches, jedenfalls nichts Spezifisches zu sagen hatte – der Krieg in Korea beispielsweise bleibt in der 195 geschriebenen „Koreanischen Elegie“ ein gleichsam atmosphärisches Ereignis, die Dimension der Geschichte wird verfehlt. Das Gedicht ist wie in sich selber versponnen und langt nicht hinüber in die große schreckliche Wirklichkeit draußen. Aber man versteht, daß Krolow damals politische Themen aufgreifen mußte: nicht aus Willkür oder um einer Mode zu gehorchen sondern weil diese Themen in der Luft lagen und er sich atmosphärischen Schwankungen und Zumutungen nicht zu entziehen vermochte.
Wenig später beginnt das Gedicht Krolows lichter und durchsichtiger zu werden. Bezeichnend für diese Stil periode des Wandlungsreichen etwa die Strophe:

Drei Orangen, zwei Zitronen: −
Bald nicht mehr verborgene Gleichung,
Formeln, die die Luft bewohnen,
Algebra der reifen Früchte!

Das vegetative Wuchern des Gedichts mit seiner Überfülle an Bildern und Metaphern wird nun allmählich zurückgedrängt, und eine neue Ordnung breitet sich aus. Eine Ordnung gleichsam mathematischer Natur: aufgespürt wird jetzt die zarte Poesie des vergleichsweise Abstrakten, von Zahlen und Zuordnungen. Das Wort „Geometrie“, auch wenn es nicht vorkommt, drängt sich als Schlüsselwort auf: „Orte der Geometrie: / Einzelne Pappel, Platane. / Und dahinter die Luft, / Schiffbar mit heiterem Kahne / In einer Stille, die braust.“ Der Gewinn solcher Reduktion liegt auf der Hand, und rückblickend auf die früheren Gedichte fragt man sich, ob die drängende Fülle dem lyrischen Naturell Karl Krolows ganz gemäß gewesen, ob der Reichtum von einst dem Gedicht gut bekommen ist. Nun erhalten die Dinge Raum um sich und heben sich nach und nach auch klarer von einem neutralen Grund ab, den man früher oft vermißte – die Luft, dieses Lieblingselement Krolows, dringt ins Gedicht selber ein, zwischen die einzelnen Wörter und Bilder, zwischen die Verse und Strophen.
Auch daß der Reim immer mehr und später ganz preisgegeben wird, erweist sich als Vorteil, wie man denn überhaupt wird sagen dürfen, daß die reifen späteren Gedichte Krolows sich einer sehr disziplinierten Askese verdanken: einer Weigerung, der Verführung des „Poetischen“ zu erliegen. Dieser Weg wurde etappenweise zurückgelegt, behutsam und ohne Sprünge – Krolow hat seine formalen Neuerungen und Kühnheiten nie lauthals vorgetragen, er „experimentierte“ nicht auf spektakuläre Weise, sondern entwickelte sich von Band zu Band; er ist ein leiser und überaus diskreter Revolutionär.
Wie weit der Weg ist, den er auf solche Weise zurückgelegt hat, läßt sich an vielen Stücken aus den späteren Jahren ablesen. Etwa an dem Gedicht „Porträt einer Hand“ aus dem Jahre 1961:

Fünf Nägelmonde, die aufgehen
über dem Himmel
der rechten Hand: −

Sie hält eine schwarze Haarsträhne,
eine Blume ohne Alter,
ein namenloses Lichtbild.

Die Geschichte des Ringfingers
ist nicht die Geschichte
des Zeigefingers.

Diese Hand griff zu.
Sie schlief den Schlaf
ihrer fünf Monde
in einer anderen Hand.

An diesem Gedicht und zahlreichen anderen aus den letzten Jahren ist vieles zu bewundern: die große Sicherheit der Phrasierung, das suggestive Parlando, das schöne Bild von den aufgehenden Nägelmonden in der ersten Strophe, vom Schlaf einer Hand in einer anderen in der letzten. Erstaunlich auch, wie nun das Gedicht Krolows sich schier allem zu öffnen vermag, wie es Konkretes und Abstraktes bruchlos zu vereinen versteht. Leise und präzis ist nun der „Anschlag“, ohne Anmaßung und Eitelkeit. Das Gedicht stellt sich als Produkt eines vollkommenen Spielers dar, und jetzt verschlägt es nichts mehr, daß dieses Spiel von einem Manne ohne bemerkenswerte persönliche Problematik inszeniert ist: in einer langen, geduldigen Arbeit wurde der Mangel einer gewissen Anonymität in ein reines Gelingen verwandelt, einen leisen Triumph. Dieser Prozeß läßt sich an den nun vorliegenden Gesammelten Gedichten eindringlich studieren.

Rudolf Hartung, Die Zeit, 12.3.1965

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Rudolf Hartung: Karl Krolow, Gesammelte Gedichte
Hessischer Rundfunk, 7.3.1965

Dieter Hoffmann: Wasserwaage und Libelle
Frankfurter Neue Presse, 11.3.1965

Curt Hohoff: Ein Surrealist, der fliegen kann. Lyrik von Karl Krolow
Sonntagsblatt, 25.4.1965

Egon Hans Holthusen: Stationen eines Talents. Karl Krolow
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.7.1965

Peter Jokostra: Dunkle Erde
Christ und Welt, 23.4.1965

Josef Laßl: Karl Krolow, Gesammelte Gedichte
Oberösterreichische Nachrichten, 24.7.1965

Stephan Linhardt: Poetisches Neuland erschlossen
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 10.3.1965

Jürgen Lütge: 270 Gedichte zum fünfzigsten
Münchner Merkur, 10.4.1965

Heinz Piontek: Gedichte aus zwei Jahrzehnten
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1965

Heinz Piontek: Zur Lyrik Karl Krolows
Welt und Wort, Heft 20, 1965

Heinz Piontek: Gesammelte Gedichte von Karl Krolow
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.1965

Jürgen P. Wallmann: Beziehungen zum Unbeziehbaren
Darmstädter Echo, 10.3.1965

Jürgen P. Wallmann: Die lyrische Ernte aus zwei Jahrzehnten
Echo der Zeit, 14.3.1965

Ewald Zacher: Krolow in zwanzig Jahren
Wort und Wahrheit, Heft 3, 1966

 

Literarische Vorbilder

Ich habe vor einiger Zeit und in einem anderen Zusammenhang gesagt, daß man sich literarische Vorbilder nicht aussuchen könne, wie man sich auch literarische Tradition nicht aussuchen kann. Man findet sie vor, diese große, nicht abreißende Entwicklungskette, in die man sich einfügen wird, der man nicht entrinnen kann, die einen bei der eigenen Arbeit einholt, wie sie vor Beginn der eigenen Arbeit da war. Natürlich spielt bei der Begegnung mit Vorbild und Tradition und sich solcher Begegnung anschließenden Auseinandersetzung mancher Zufall eine Rolle. Aber der Zufall war wohl stets eine Verbindung mit der individuellen Disposition eingegangen, die einem jungen Schriftsteller dazu verhilft, ein bestimmtes Vorbild, einen bestimmten Älteren aufzufinden und geheime Verwandschaft zu erkunden, geheime Hoffnungen plötzlich wahrzunehmen, jene unausgesprochenen Vermutungen über eine für literarische Individualität gleichsam prädestinierte Wesensart und Wesensäußerung verwirklicht zu sehen in der Erscheinung und in der Wirksamkeit eines anderen oder wie in meinem Fall – im Laufe der Jahrzehnte – mehrerer anderer für mich vorbildlicher Schriftsteller des eigenen, des deutschen Sprachbereichs und fremden Sprach- und Literaturbereichs.
Vieles trifft ja bei einer solchen Begegnung aufeinander: Temperament und Alter, persönliche Umwelt und allgemeines Literaturklima, literarischer Zeitgeschmack, in dem man sich unversehens bestätigt findet oder dem man sich zu widersetzen versucht. Meine ersten schriftstellerischen Versuche fielen in die ausgehenden dreißiger Jahre, also mitten in die Zeit der nationalsozialistischen Ära, in der der Sprachgebrauch bei der Abfassung eines Gedichts genau geregelt und vorgeschrieben schien wie alles andere. – Daß das nicht immer so war, erfuhr ich durch einen jener Vorfälle und Zufälle, die einem wohl vorbestimmt sind. Ich lernte – wenngleich sie sehr versteckt publiziert waren die frühen Gedichte Wilhelm Lehmanns kennen. Das war im Jahr 1935, und der Band des damals bereits über Fünfzigjährigen erster Versband, im Berliner Widerstandsverlag bei Niekisch erschienen, hieß Antwort des Schweigens. Über Lehmann bin ich dann auf Oskar Loerke gestoßen, überhaupt auf den ganzen literarischen Bereich, den man später und heute noch als die neue deutsche Naturlyrik bezeichnete. Sie hatte um die Jahrhundertmitte ihren Höhepunkt. Diese von einigen halb hämisch, halb respektvoll als sogenannte naturmagische Schule bezeichnete Entwicklungsphase in der Geschichte des deutschen Gedichts während des letzten Vierteljahrhunderts kam in den fünfziger Jahren mit ihrem Höhepunkt zugleich an ihre literarische Wirksamkeitsgrenze. Gewisse Monotonien, Orthodoxien, Zersetzungserscheinungen, die von vornherein in diesem in manchem anachronistischen Natur- und Landschaftsgedicht angelegt waren, kamen zum Vorschein, nicht nur bei den Mitläufern jener Tage, auch bei den Wortführern, den Meistern, bei Lehmann selber – Loerke war bereits zu Beginn des Krieges verstorben −, mehr noch bei der bald nach dem Kriege gestorbenen Rheinhessin Elisabeth Langgässer, dieser hochbegabten Erzählerin und Gedichtschreiberin.
Lehmann wies mich damals jedenfalls auf einen mir unerschöpflich scheinenden Stoff, auf Natur, hin, die immer noch deutlich von jenem Goetheschen „Naturgeheimnis“ in der literarischen Praxis beeinflußt blieb, das es „nachzustammeln“ galt. Ich sah damals nicht die Gefahren eines entschiedenen Autonomisierungsprozesses der Naturgegenstände und -kräfte, die sich im Laufe der Praxis aufdrängten, zunächst zaghaft, später drastisch, diese Selbstgenügsamkeit, die im Stoff lag, diese sehr schmale Basis, die – möglicherweise aus unbewußter Verlegenheit – zu einem Detailzwang kam, der sich in einem Katalog an Einzelheiten aus Flora und Fauna verlor. Das Gedicht wurde auf solche Weise mit Detail gemästet. Es kam zu Hypertrophien. Die Mythophobie, die sich ins deutsche Naturgedicht einschlich, hatte etwas Provinzielles. Dieser Mythos liebte offenbar die Botanisiertrommel. Der Götterhimmel wirkte usurpiert und blieb durchweg Fremdkörper im Gedichtablauf. Die Usurpation war außerdem mühsam durchgeführt. Sie wurde nicht im poetischen Handstreich vollzogen. So blieb der Eindruck trotzigen Hantierens mit einer Sache, die sich in die Gegend hinter dem Walde verirrte wie ein Standbild in einen Schrebergarten. Andererseits hatten Loerke, Lehmann durch ihr Komprimieren von Raum und Zeit im Gedicht zu einer deutschen Version eines poetischen Aperspektivismus gefunden, unabhängig und wahrscheinlich ohne Kenntnis von den Errungenschaften des modernen Gedichts im Westen Europas, unabhängig von Apollinaire, dem lyrischen Kubismus – wenn ich so sagen soll – seiner Freunde, der perspektivischen Revolution, die durch sie und durch die Surrealisten bald danach einsetzte. Der lyrische Objektivierungsprozeß bei Loerke, Lehmann und jener vorsichtig angewandte Aperspektivismus blieben für mich als Ansatzpunkte wichtig und – bereiteten mich möglicherweise zum besseren Erfassen dessen vor, was mir bald nach dem Kriege, in den späteren vierziger, vor allem in den frühen fünfziger Jahren bei der Bekanntschaft mit der französischen und spanischen Lyrik zwischen den beiden Weltkriegen zugute kam. Mit dieser Bekanntschaft lernte ich im übrigen begreifen, was es heißt, in einem Kraftfeld von Reizungen, von Influenzen, von Modellen zu stehen, einem Ausstrahlungsbereich, bei dem nicht ein oder zwei oder drei Autoren, vielmehr ganze Autorengruppen, die Surrealisten und was ihnen unmittelbar folgte in Frankreich, die Lorca-Generation und deren Vorbilder Jiménez und Machado in Spanien, Einfluß nehmen. Mir scheint das charakteristisch für literarische Vorbilder in der zeitgenössischen internationalen Literatur zu sein: Ausdruck eines bestimmten Phänomens, dem des raschen Umsatzes, der ungemeinen „Verfügbarkeit“ von Literatur, die Vorstellung von nationalen Nuancen hinter sich läßt, Phänomen und Folgeerscheinung eines rapiden Angebots von Strömungen, Versuchen. Mit ihr ergab sich für mich ein „Angebot“ ganz neuer Möglichkeiten der Stoffbehandlung, unter Umständen desselben Stoffes, denn die Gegenstände – Landschaft, Jahreszeit – blieben auch weiterhin in Sichtweite, in Rufweite.
Ich lernte bei der Beschäftigung mit den Franzosen und den Spaniern etwas kennen, das inzwischen schon wieder Geschichte geworden war. Ich holte nach, wie andere nachholten, schnell, manchmal hastig, aber ungeheuer intensiv: den Surrealismus in seinen Ausprägungen und Verwandlungen. – Diese westeuropäische Literaturphase war, als ihre Wirkungen mich erreichten, längst ins Altern gekommen. Das Land, in dem sie von der Lyrik am wirkungsvollsten praktiziert worden war, Frankreich, hatte sich vom Surrealismus – bis auf einige Nachhutgefechte – abgewendet. Aber solcher Alterungsprozeß kam mir insofern zugute, als er mir bereits das zuführte, was die surrealistische Wort- und Bildbehandlung zu verarbeiten verstanden hatte.
Vor allem die vom Surrealismus geübte Metaphorik verhalf mir zu einer Lösung vom Stoffzwang des Naturgedichts oder brachte mich doch in ein anderes und neues Verhältnis zum Stoff. Die Überwältigung durch ihn, die sich im Gedicht als jene merkwürdige Benommenheit bekundete, wie sie für jene „Naturmagie“ so oft eigentümlich war, wich einem souveränen Umgang mit ihm. Eine neue Gefahr tauchte auf. Anstelle der Knechtschaft des Stoffes konnte die Knechtschaft durch das Bild treten. Man kennt die metaphorische Illuminierung des Surrealismus, seine bengalischen Feuer, die er in Gedichten abbrennt. Aber ich war – wie schon gesagt – in einem Augenblick in die Nähe der Surrealisten geraten, in dem man die Wunderblumen ihrer Metaphern in dem erkannte, was unter anderem auch an ihnen zu erkennen war: in ihrer Künstlichkeit.
So hatte ich fortan eine Balance zwischen Stoff und Bild zu versuchen. Ich vermute, daß sich in meinen Gedichten durch solchen Versuch eine Art Schwebe-Vorgang einstellte. Gleichzeitig ereignete sich Schritt um Schritt die Zurückdrängung der Gegenständlichkeit. Gegenständliches wurde von mir – zunächst unbewußt – als Ballast, als Belastung empfunden. Aber ich muß hinzufügen, daß nicht nur der Gedicht-„Gegenstand“, sondern auch das poetische Bild zurückgedrängt wurde. Sie sehen, daß ich hier das Phänomen, den Vorgang, die Veränderung allgemein zu skizzieren versuche, ohne den Einfluß eines einzelnen hierfür namhaft zu machen, ohne einen bestimmten Namen heranzuziehen. Auch dies scheint mir eher meiner hier ausgesprochenen Vorstellung und Erfahrung vom „Kraftfeld“ zu entsprechen, mit seinen vergleichsweise anonymeren, allgemeineren Wirkungen, mit ineinander übergehenden Wirkungen, Wirkungs-Überschneidungen, Wirkungs- und Einfluß-„Versetzungen“, die dann in einem Gedicht überraschende Kombinationen eingehen können. Es widerstrebt mir jedenfalls, allzu sehr „Verantwortliche“ zu suchen oder zu nennen, wenn auch dieser und jener genannt werden konnte und genannt werden wird. In keinem der späteren Fälle und der vorbildhaften Beziehungen ist für mich derart an einem Schriftsteller – Modell zu identifizieren und zu nominieren wie anfangs bei Lehmann, bei Loerke. Ich möchte das hier deutlich ausgesprochen haben. Da ich indessen diese beiden Schriftsteller vor verhältnismäßig langer Zeit – vor wenigstens zwei Jahrzehnten „passiert“ habe, wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten – ist, bei weitaus größerer Distanz zu ihnen – es einigermaßen einfach, Unterschiede oder doch Einsichten zu fixieren, die einem nach der Beendigung derartiger „Passage“ kommen.
Neben Loerkes und Lehmanns Behandlung von Raum und Zeit in ihren Gedichten, neben diesem von mir als Aperspektivismus bezeichneten Vorgehen, bekam ich – hauptsächlich durch Lehmann – schon früh einen Blick für spröde Äußerungsweise. Lehmann hatte als Norddeutscher, überhaupt seinem ganzen Wesen nach, eine deutliche Kühle. In Verbindung mit meinem Versuch der Balance von Gegenstand und Bild, wie ich ihn andeutete, und angesichts der Erfahrungen; die ich mit einigen Franzosen wie Jean Follain und Guillevic machte, setzte bei mir – ohne daß eine Strukturänderung eintrat und eine bestimmte Thematik völlig aufgegeben wurde – eine lakonischere Sprachbehandlung ein. Weder ein „Überangebot“ an Stoff, wie es sich bei der orthodoxen Naturlyrik entwickelt hatte, noch ein entsprechendes „Überangebot“ an Bild in der Manier des Surrealismus, ermöglichten mir diese trockene, lakonische Tonlage, in der ich mich nach und nach zurechtfand. Denn das alles kann man sich nicht vornehmen. Es gibt keine poetischen Fahrpläne, wenn es auch zuweilen poetische Manöver gibt, zu deren Eigenart es zu gehören scheint, daß man bei ihnen von einem bestimmten Moment an die Initiative und den Überblick verliert und an irgendeiner Stelle auftaucht, die einen Ausblick auf Sackgassen bietet.
So habe ich mir auch das Ökonomische nicht vornehmen können, das sich möglicherweise in Gedichten der letzten zehn Jahre bei mir durchsetzte. Ich hatte im Grunde hierfür genausowenig bestimmte Modelle wie für den Vorgang des schrittweisen Aufgebens des Reimes. Vielleicht waren Ökonomie wie Reimlosigkeit Phänomene, die sozusagen in der Luft lagen, die allgemein geworden waren: Zurückdrängung von Aufwand, von Gewicht, von Geste im Gedicht. Jedenfalls war das eine wie das andere für mich ebenso zwangsläufig wie notwendig. Das Verschwinden des Reims als Vorgang ist zwar augen- und ohrenfällig, aber im Grunde nichts anderes als eine äußere Folge innerer Veränderungen. Mit der Reimaufgabe war etwas an die Oberfläche gekommen: eine Folge der genannten Reduktionsvorgänge im Stofflichen und im Metaphorischen. Auch „Magie“, wie es das deutsche Naturgedicht praktizierte, das, was an dieser Magie von wirkungsvollem Zauber sein mochte, wurde damals vom Abbau des Reimes betroffen. Sie war damit um akustische und um visuelle „Effekte“ gebracht worden. Ich muß hinzufügen, daß eine derartige Betrachtung des Reimes im Gedicht wie ich sie hier gebe, bereits die Erkenntnis seiner Veräußerlichung voraussetzt und ihm mehr oder weniger nur noch die Funktion eines Versatzstückes zubilligt, wie sie literarischer Zierart hat. Bei meiner Beschäftigung mit romanischer Lyrik spielte der Reim keine Rolle mehr. Auch wenn er auftrat, wenn er höchst listiges und verzwicktes Stilmittel wurde wie die als Fußangeln ausgelegten Binnenreime in manchen Gedichten Reverdys, wurde er doch nicht mehr von mir als belangvoll angesehen.
Belangvoll dagegen und jedenfalls wichtiger als das allmähliche Verschwinden des Reimes aus meinen Arbeiten waren Stoff-Verflüchtigungen und Bild-Verdünnung. Wie weit mir bei diesem Prozeß andere, nichtdeutsche Lyriker vorbildlich wurden, ist für mich nicht zu sagen. Ich kann nur Vermutungen haben. Die nautische Liquidität des frühen Rafael Alberti könnte ich mir in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen ohne die leichte Begegnung, die ich seinerzeit mit ihm, mit der Lyrik seines „marinero en tierra“ (sie wurde in den zwanziger Jahren geschrieben und veröffentlicht) hatte, zu strapazieren. Aber das, was Juan Ramón Jiménez 1924 in einem Brief Rafael Alberti schrieb, traf mich wie eine Aufforderung, oder – weniger stark formuliert – lieferte mir eines der Stichworte auf die ich immer angewiesen war und wohl auch bleiben werde. Jiménez schrieb: „Mit leichter Hand haben Sie, rein aus dem Nichts, wieder den wahren Glücksstrahl aufsteigen lassen.“ Mit leichter Hand, die bei uns, die wir uns auch mit Versen gern schwertun und das weiterhin nicht werden lassen können, so rasch zur leichtfertigen Hand wird und als eine solche gescholten ist! Ich versuchte, über die Jahre hin, den Worten größere Leichtigkeit und mit ihr größere Beweglichkeit zu verschaffen und der Zeichenhaftigkeit, der Chiffrenkunst eine Kunst der singbaren Formel einzuverleiben, der „präzisen Zeichenreihe“, wie sie von Wilhelm Lehmann gewünscht worden war, „mathematisches Entzücken“ beizugeben, die geometrische Klarheit die algebraische Sicherheit. Ich war eine Zeitlang bereit, diesen Zustand im Zugriff, in der Überraschung, im poetischen Handstreich zu erreichen. Die „Aufhellung“ von „Bedeutung“ im Gedicht hat mich möglicherweise von meiner Ausgangsposition nicht so weit entfernt, wie das, artistisch gesehen, scheinen könnte.
Aufhellung! Nicht gleich Quadratur des Lichtes, aber doch etwas vom „Lichtraum“ über Valérys „Friedhof am Meer“ und vielleicht – wenn es gelänge, wenn das wiederholbar wäre – etwas von Jorge Guilléns „Licht, das niemals leidet“ und von jenem „Licht, Licht. Sein Strahlen: wie wenn Pulse beben“, wie es in Ernst Robert Curtius’ Übertragung heißt. Guillén, neben Alberti, hat solche Stichworte geliefert, solche Reizungen, solche Überredungen durch Kontur, Klarheit, Gesichtskreis, Proportionen, durch eine – ich möchte sagen – graphische Ökonomie der wenigen, klar ausgezogenen Linien. Sie lieferten damit indessen doch wohl nicht mehr als Voraussetzungen für das, was ich selber zu besorgen hatte und besorgte. Beschränkungen können elliptische Verfahrensweise nach sich ziehen: Aussparungen, Verkürzungen bis zum Abbruch, Gedichtzeile als momentane oder doch momentan wirkende und momentan „mögliche“ Reflexe. Das, was ich gelegentlich als „Reise ins Innere der Augenblicke“ etwas kühn, weil etwas stark bezeichnet habe, ist in derartigen Zusammenhang zu bringen. Literarische Vorbilder dürfen schließlich nicht mehr als diese Voraussetzungen zum Umsatz in die eigene Sprechlage, Artikulierungsmöglichkeit geben. Es muß ein kritisches Verhältnis gewahrt bleiben, das eher auf Echowirkungen, auf indirekte, unter Umständen noch spät nachwirkende und wiederauftauchende Beziehungen aus ist, als auf etwas, was nicht mehr als Einflußnahme, als Auseinandersetzung, als kritisch, aufmerksam zugelassene Influenz, sondern als Überwältigung einzusehen ist. Für solche Überforderungen hat es in der deutschen Nachkriegslyrik nicht selten drastische Beispiele gegeben. Man kann sich – als Individualität, die ich damit nicht übertrieben in ihrem individuellen Dasein und Schreiben verstanden sehen möchte – literarischen Influenzen jederzeit aussetzen, doch kann man sich niemals ausliefern. Die Grenze zwischen dem einen und andern Verhalten ist zuweilen hauchdünn: eine bewegliche, äußerst empfindlich strukturierte Grenze ohne grobe Barrieren, die man sieht und vor denen man zurückschreckt. Vor solchen Abhängigkeiten schützt kühler Blick für das Viele, was heute verfügbar ist, für das breite Kraftfeld, in dem man sich schreibend aufhält, aufmerksame Kühle, bei der auch Bewunderung kontrollierte Bewunderung ist und der Enthusiasmus, den Vorbildliches auslöst, sich mit dem Sinn für Entfernung verbindet, auf die man nicht nur im literarischen Verkehr angewiesen bleiben sollte.

Karl Krolow, 1968, aus Karl Krolow: Ein Gedicht entsteht, Suhrkamp Verlag, 1973

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 


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