Karl Krolow: Gesammelte Gedichte 3

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Gesammelte Gedichte 3

Krolow-Gesammelte Gedichte 3

HERBSTSONETT MIT RILKE

Altrosa wie Rilke oder wie
eine Ziegelwand im Regen:
das Staunen wird sich legen.
Du gewöhnst dich irgendwie

an Farben. An anderes nie.
Du weißt dich nicht zu bewegen,
im herbstlichen Blättersegen,
reibst dir beklommen das Knie.

Das ist nicht deine Sache.
Du stehst in der der Wasserlache
und fühlst: der Herbst ist so −

Altrosa wie Rilke, dann düster.
Da stockt selbst das Geflüster.
Da gibt es kein WIE und kein WO.

 

 

 

Gesammelte Gedichte

Immer deutlicher zeigt sich, daß der inzwischen 70jährige Karl Krolow zu den wichtigsten deutschen Lyrikern dieser zweiten Jahrhunderthälfte zählt. Wandlungsfähiger als Günter Eich, situationsbezogener, diesseitiger, konkreter als Paul Celan. Die ichlosen Texte der frühen Konkretisten haben ihn sowenig berührt wie die öffentlichen Ansprüche der dokumentarischen Literatur. Die amerikanische Popleichtigkeit und Popgläubigkeit blieb ihm fremd. Den gesellschaftspolitischen Pflichtübungen der Lyriker in den späten sechziger Jahren versagte er sich. Vietnam, Berlin, Israel waren ihm keine poetischen Orte. Er notierte die eigene Befindlichkeit, Wahrnehmung, erotische Reizsuche. Den Übungen einer Neuen Subjektivität mußte er sich nicht anschließen. Gleich weit entfernt vom chiffrierten, vom linguistischen, vom absichtsvoll dokumentarischen oder denunziatorischen Gedicht, schrieb Krolow in dem von ihm gefundenen und weiterentwickelten Parlandoton seine persönlichen Wahrnehmungen, seine ins Geistige zielenden impressionistischen Stimmungen; Gefühle, die den Augenblick ins Wort heben.
Mit seiner Art Zaubergriffel macht er Erdenschweres luftleicht: Prospero und Ariel mit nihilistischen Flügelschlägen. Die „Gott-ist-tot“-Botschaft des Pathetikers Nietzsche, des lyrischen Artisten Benn hängt unpathetisch auf der Wortleine. Aber Krolows Gedichte vibrieren von „Seele“ in einer Zeit, da die christliche Seele in den Verruf fragwürdiger Innerlichkeit fiel und die literarische Welt das Wort tabuisierte.
Zehn Jahre nach dem zweiten konnte der dritte Band Gesammelte Gedichte erscheinen. Diese sechs Bände Altersgedichte in einem einzigen, stattlichen Band sind ohne Vergleich in der zeitgenössischen Literatur. Sie heißen Der Einfachheit halber (1977), Sterblich (1980), Herbstsonette mit Hegel (1981), Zwischen Null und Unendlich (1982), Herodot oder Der Beginn der Geschichte (1983), Schönen Dank und vorüber (1984). Sie sind vermehrt um die hier erstveröffentlichten „Neuen Gedichte, 1985“. Unabweisbar im Leben sind die körperlichen und psychischen Veränderungen des Alterns. Erstaunlich einfach ist das Artifizielle geworden; beeindruckend die sensitive Wachheit des Alternden.

Du hast Schwierigkeiten
mit deinem Körper:
das ist wichtiger.
So ist es –

auf Umwegen kommst du
dem Ende von einigem näher
auf deinem Weg
in beliebiger Richtung.
Mit nachlassender Kraft
flüchtet sich die Wahrnehmung
in die rechte Hand.
Du schreibst sie auf.

Der Zyklus „Sterblich“ beginnt:

Sterblich – das fängt überall an
im Skelett, mit dem man weiterlebt,
während Finger über Weichteile streichen.

Mit „Herodot oder Der Beginn der Geschichte“ begibt sich das lyrische Ich in die Rolle eines repräsentativen Sprechers. Der poetische Herodot erfährt, überschaut, beurteilt die Geschichte. Die Selbststilisierung des Sprechers:

Ich lebte zu einer Zeit, als man noch nicht
in einer Lobby saß, mit einem Krebs im Blut
… Ich sah Geschichte. Ich sah sie entstehen,
noch ohne Auguren.

Auguren, das sind die Sprecher im Namen politischer und wirtschaftlicher Interessen. Krolow-Herodot bedauert „verschwunden die polytheistische Welt, / in der jeder Gott werden konnte“. Sein eigener Beitrag heißt „Geschichte als Dichtung“, zuletzt als „Todesfall“. Der Dichter verleiht beiden Gestalt. Mit der Sehnsucht nach dem „Mythos“ (nicht fern von G. Benn), mit der Kritik des „attischen Heiden“ an den „Ehe“-Christen verbindet sich gefaßt die triste Botschaft:

Überall erreicht man das Nichts

Die hier erstpublizierten „Neuen Gedichte“ setzen die anhaltende Erfahrung von der Vergeblichkeit der Wünsche, der Unerfüllbarkeit der Hoffnung fort. „Nichts ist hilfreich“ heißt das erste; nicht mehr die alten Religionen, nicht die christliche (mit ihrem Glauben an die Auferstehung). Der alte Mann muß weiterleben „nur das Gefühl von Wörtern / im Kopf. Mit diesem Gefühl / wird im Präsens gelebt, / mit immer anderen Wörtern / wird unablässig erzählt“. Fünf Sonette beschließen den Band. Zuletzt spricht das lyrische Ich Erfahrung und Nicht-Botschaft der nur wenig entfernten dritten Person zu.

Er weiß nicht, was er tut. Er wußte nie,
wie ihm geschah…
So geht er fort auf seine lange Reise.

Ich wüßte keinen lyrischen Autor deutscher Sprache, der so anhaltend und detailliert seinen Abschied formuliert. Die formale Leichtigkeit im Sterbeschweren, der Parlandoton im attisch-elegischen Vers ist einmalig im zeitgenössischen deutschen Gedicht.

Paul Konrad Kurz, Die Presse, 1.6.1985

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jürgen P. Wallmann: Mühen des Weiterlebens
Rheinische Post, 27. 9. 1997

Thomas Poiss: Illumination der Schwäche
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 11. 1997

 

Karl Krolow: Ziemlich viel Glück

Was im modernen Gedicht alles nicht mehr geht, meinte Gottfried Benn in seinem Marburger Vortrag über Lyrik diagnostizieren oder gar festlegen zu müssen: die Andichtung eines Du, die  malerische Farbe (mit Ausnahme des Blau), der Wie-Vergleich und der seraphische, sentimental säuselnde Liebeston. Der Vortrag, kurz vor Entstehung des hier abgedruckten Krolow-Gedichts gehalten, hat wohl weniger prononcierten Einfluß auf ihn gehabt, doch lassen sich, wie im folgenden deutlich werden soll, gewisse Parallelen ausfindig machen: Themen des schwierig gewordenen Idylls, der unsicheren Liebesbeziehung, der Anonymisierung und Selbstdistanz des Autors sollen hervorgehoben werden, aber auch das Konzept des Gedichts als Spielraum, in dem das Individuum ins Allgemeine aufgehoben ist.
Folgt man den gängigen Etikettierungen der Lyrik Krolows – der im übrigen auch als Prosaist, Übersetzer und Essayist in Erscheinung getreten ist –, so gilt er als einer der wichtigsten Naturlyriker nach 1945, als einer, der (Liebes-) Beziehungen oder Alltagserfahrungen poetisch überformt und konkrete Dinge imaginativ stark erweitert. Der moderne Bruch von Identitäten zeigt sich vor allem darin, daß es Gegensatzpaare sind, die das Werk Karl Krolows unentschieden bestimmen: Aufschwung und Melancholie, Körperlichkeit und Sprache, Gebundenheit und Luftsprünge, Dichte und Härte der Gegenstände und spielerische Auflösung, realer Gegenstand und Entwirklichung, intellektuelles Kalkül und Sinnlichkeit, Härte und Sensibilität, Alltag und Entgrenzungsstreben – das eine läßt sich ohne das andere bei Krolow nicht denken, auch wenn sich gelegentliche Idyllen auftun, die die kleinen Fluchten aus dem Alltäglichen zu ermöglichen scheinen. Die erotischen Anklänge scheinen manchmal wie eine Fortsetzung der Idyllendichtung, doch ist dies entweder bezweifelt und ironisch durchbrochen oder es kommen Themen der Zerstörung, Aggression, dann wieder Luftiges, Leichtes, Anmut und krasse Brutalität Zeile an Zeile zur Sprache.
Zeigt Krolows Frühwerk die präzise Behandlung von Strophen, Versmaß, Metaphern, und ist die Flucht in die Natur dort noch fast ungebrochen, als Ausbruch aus der Begrenzung, kommen dann Einflüsse hinzu, wie sie auch bestimmend bleiben werden: etwa die Naturlyrik Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns im Stil der ‚Neuen Sachlichkeit‘. Und obgleich Krolow in der inneren Emigration geschrieben hat, ist er bereits früh ein dezidiert europäischer Autor. So ist die Wirkung etwa von Rimbaud, Baudelaire oder Lorca nachweisbar (den Krolow auch übersetzte) wie auch die Wirklichkeitszerstörung des französischen Surrealismus.
Die Rede vom Kahlschlag in der ‚Stunde Null‘, von ‚Realismus‘, ‚Wahrheit‘ oder ‚Illusionszerstörung‘ greift bei Krolow – wie auch bei vielen zeitgenössischen Autoren – nicht, schnell verläßt er den Bereich der einfachen, sich auf Realität beziehenden Bilder mit stärkerer Orientierung auf eine recht freie und expressive Imagination. Die Naturmotivik wird aktualisiert, aber mit modernen Vorbehalten: Natur läßt sich nicht mehr genießen, die romantische ‚unio mystica‘ von Mensch und Natur ist auch über Dichtung nicht zu halluzinieren. Hingegen ist die Entfremdung des Menschen von seiner Umgebung und Umwelt nun Thema, figuriert in einer sich verselbständigenden Natur, die Rache ausübt gegen den Menschen. Bedrohtheit und Schwankungen zeigen sich, Auflösungserscheinungen des Ich, aber mit Chancen der Sublimation. Krolow bezeichnet diese naturmagische Aufhebung des Menschen dahingehend als neutral, daß „Aspekte der Entindividualisierung“ im Spiel seien; die Tragik der Auflösung soll vermittels ‚intellektueller Heiterkeit‘ (ein Essaytitel von 1955) aushaltbar werden. Auch ist bemerkenswert, daß es Krolow nicht um realistische Naturentsprechung geht, sondern immer um deren imaginative Überformung: „War es früher die Identität mit der Natur, die als Glück empfunden wurde, ist es jetzt die spielerische ästhetische und intellektuelle Freiheit in der Sprachwelt, die es erlaubt, die Grenzen von Raum, Zeit und Kausalität zu überwinden und durch die Entschwerung der Substanz […] heitere Distanz zu erreichen.“ Wenn auch Krolows Naturlyrik des öfteren den Vorwurf der politischen Harmlosigkeit kassieren mußte, liegt doch ihr Politikum vielleicht darin, daß sie das Pro eines eröffneten Spielraums aufweisen kann. Und damit ist ein Fluchtort bezeichnet, der zentral in der Poetologie Krolows ist. Das Spiel der Worte miteinander, die „Atomisierung des einzelnen Wortes“ ermöglicht das Schaffen neuer Kontexte und das Umkrempeln geläufiger Bedeutungsstrukturen – es geht darum, den „Bedeutungsballast“ der Traditionen beiseite zu schaffen. Krolow zeigt hier etwa Sympathien für die Zufallswortkunst von Dada oder die Wortspiele von Büchners „Leonce und Lena“. Daraus erwächst aber auch ein Umkehreffekt: die Ablösung des souveränen Dichters, der die Wörter zu beherrschen glaubt, die „Ausschaltung des Spielenden“, der selbst zum Teil eines Mechanismus wird – was im übrigen der geforderten Selbstdistanzierung des Autors entspricht. Das Spiel findet also als Grenzgang statt zwischen den Chancen der Befreiung und den Risiken der Mechanisierung, also einer neuen Abhängigkeit; der spielerische Faktor wäre in seiner Negativseite Teil eines allgemeinen Entindividualisierungsprozesses. Betont werden allerdings emphatisch die Möglichkeitsräume, die dies eröffnet, und zwar derart, daß das Gedicht noch Distanz zu sich selber schafft und der Autor sich im Spiel selbst vergißt, wenn er erst im letzten Schritt die Wörter zusammenbindet, vorher ihnen aber freien Lauf läßt: Er sammelt sozusagen seine Spielzeuge wieder ein. Das Spielerische, darauf hat auch Ludwig Harig hingewiesen, könnte sich hier in der Tat als die rettende Kategorie bei Krolow erweisen: „Der spielerische Mensch verwandelt sich, als Vogel ist er nicht mehr manipulierbar, als Vogel lenkt er seine Flügel selbst.“
Politisches, Natur oder Jahreszeiten wie auch Liebesbeziehungen sind nun nicht jeweils eigene Fächer, eigene Wertsphären, die jeweils separat zu behandeln wären, vielmehr tritt Krolow für einen übergreifenden, anonymen, überindividuellen Gedichttypus ein, wobei er so kühn ist, moderne Dichtung überhaupt als repräsentativ und vorbildhaft zugleich für die Gesellschaft auszuweisen. Nicht also im Jargon der Meinungsmacher, sondern aus einem spielerischen Raum heraus soll Dichtung im Sinne des Allgemeinen sprechen, was sich wiederum mit der Forderung der Anonymisierung des Gedichts verträgt: Das lyrische Ich soll Stellvertreter für eine mögliche Gemeinschaft sein. Darin zeigen sich Reste des nur indirekt politischen, gleichwohl messianischen Expressionismus, zugleich eine idealistische Auffassung, das Subjektive, Individuelle und das Spiel als Hoffnungsträger mit allgemeinem Anspruch zu sehen. Umgekehrt soll auch der tägliche Zugriff des Allgemeinen auf das Individuum durchsichtig gemacht werden; insofern soll das Gedicht widerständig sein. Von daher kommt es später auch gelegentlich zu politischen Zitaten aus Zeitungsmeldungen oder Stellungnahmen gegen „Die Macht“ (1967) oder zu Aufforderungen wie „Mut fassen“ (1986).
Das Liebesgedicht kann in der Moderne nicht mehr glaubwürdig als Idyllenvermittlung auftreten, es „mußte wohl seine Stimmlage ändern“. Es muß dem Allgemeinen das Individuelle abtrotzen, Spielräume ausloten, die noch nicht überlagert sind vom öffentlichen Raum, in den der Liebende sich entziehe wie in ein Ungreifbares, denn dieser Raum diene allein der Maskierung.
Begegnungen von Menschen sieht Krolow gerade im Zeichen des Zufälligen, des Diskontinuierlichen, wenn die Rede ist von der „Zufälligkeit menschlicher Begegnung, menschlichen Umgangs, von Begegnung und Abschied, von Erlebnis und Wiederholbarkeit des Erlebens, der Mechanik, die hier waltet.“
Zum Konzept des Spiels als indirekter Politik gehört, daß kleine, detaillierte Sinneseindrücke aus dem geläufigen Erlebniszusammenhang herausgelöst werden, Details isoliert sind und dadurch das Ganze auf den Kopf gestellt wird. Der Augenblick wird beschworen, es entstehen flüchtige Arrangements, die in einem magischen Moment sich dem gewohnten Zeitverlauf entgegenstemmen. Aus diesem Augenblick heraus soll die Utopie wieder zurückgewonnen werden – ein typisches Merkmal moderner Lyrik im internationalen Sprachraum (‚illumination‘, ‚glimpse‘, ‚epiphany‘).
Das Gedicht ist jedoch nur bedingt als hermetisch zu bezeichnen, weil es darauf hin konzipiert ist, beim Leser Assoziationsbereiche zu eröffnen, die dieser schließlich mit eigenen Erfahrungen vergleicht. Über die direkte, faßliche, zu analysierende Bildlichkeit der Gedichte hinaus zeigt sich, daß sie eine Lehre über das Sehen selbst anbieten, als ein Vermögen, die Dinge in Anführungszeichen zu setzen. So kann der Leser durchaus als Partner, vielleicht als Ko-Autor des Gedichtes gesehen werden, das schließlich darauf angewiesen ist, daß der Leser die Füllungsfreiheiten, die die Leerstellen bieten, nutzt. Daraus ergäbe sich in erster Näherung ein Arbeitsvorschlag: nicht vorab das Gedicht zu interpretieren, sondern die eigene Reaktion zu schildern, mit eigenen, knappen Bildern, die auch in Prosastil abgefaßt sein können, und diese Erzählung mit anderen vergleichen.
Das Titelmotiv des Glücks reflektiert das Spielerische des Augenblicks, der belebt ist, konkrete Einzelheiten benennt und doch den Eindruck von Zeitlosigkeit erzeugt: Ein Körper, durch „Brust, Achsel und Knie“ metonymisch vertreten, begegnet einem anderen in einer Situation des „Unterwegs“, die als andauernd scheint und doch transitorisch ist. Die Körper werden dabei allerdings zu Kunstprodukten, fragmentarischen Skulpturen („Torsen“) stilisiert, und entsprechend maschinenhaft oder besser: automatistisch, ohne alle absichtsvolle Steuerung, wird das Entzücken in Linienfiguren umgesetzt. Damit wird unter anderem die Frage ‚wer spricht?‘ angeregt, denn es handelt sich bei der Übermittlung des Vorgangs um einen anonymen Reflektor. Das lyrische Ich ist getilgt.
Die Verkehrung von oben und unten entspricht auch dem dynamischen Bauprinzip der Bildbestandteile, die ihre Merkmale wechselseitig austauschen: Krolow beschreibt gerne „ein märchenhaftes Drüber und Drunter“, das erreicht werde „durch freie, ja schrankenlose Aufeinanderbeziehung aller Details“ im stets veränderlichen Zusammenhang, und was er über die Wortkonfigurationen Hans Arps äußert, beschreibt vor allem sein eigenes Kompositionsprinzip: „eine Welt ohne oben und unten, links und rechts, gestern und morgen, ohne Zeit, ohne Ort“, ohne Anfang und Ende, könnte man hinzufügen. Das entspricht der „Atmosphäre“ des Gedichts, das keinen Anhaltspunkt für die Zeit bietet und ortlos ist, damit zum Irrgarten wird, der sich jeder empirischen Verrechnung entzieht: „[N]iemand hat es beobachten können“ lautet die lakonische Schlußzeile. Nähe und Ferne sind nicht verortbar, und wenn man das Gedicht als Bild bezeichnet, ist es nicht begehbar. Dadurch werden aber, wie in einem höheren, übergreifenden Zusammenhang, Gegensätze überbrückt, und so deutet „das Leitbild des Tanzes die Möglichkeit des Freiwerdens von der körperlichen Verhaftung und dem Zwang der Vernunft an.“
Den Beginn der neuen Lyrik sieht Krolow entsprechend in einem „Raumgefühl, in dem sich der Mensch […] zu verlieren begann“, und das Spielerische oberhalb der Erde ist in seiner Rede anläßlich der Büchner-Preisverleihung beschrieben, die den Titel „Intellektuelle Heiterkeit“ trägt. Krolow sieht hier Büchner nicht so sehr als materialistischen Revolutionär, sondern als Anarchisten aus dem Geist des Spiels: „Er verband sich mit Luft und bewegte sich in diesem Element mit Selbstverständlichkeit und Anmut wie die Liebenden Chagalls.“ Daraus erhellt im übrigen noch ein weiterer Einfluß: nämlich die bildende Kunst, insbesondere die französische Malerei des 20. Jahrhunderts von Cézanne über die Surrealisten bis zu den Skulpturen Hans Arps, und in der Tat lassen sich die schwebenden Figuren Chagalls in „Ziemlich viel Glück“ hineinlesen. Die Elemente werden vertauscht, die Aggregatzustände können sich wandeln, wie es auch Ludwig Harig in seiner „Lobrede auf Karl Krolow“ formuliert, wenn er dort beschreibt:

[D]ie Freizügigkeit des Leichten und Durchsichtigen, die zärtliche Anarchie der aufgehobenen Schwerkraft, wo nämlich nicht nur feste, flüssige und gasförmige Körper je nach veränderten Temperaturen ihre Eigenschaften ineinandertauschen, sondern wo […] das Wasser wie der Himmel und der Himmel wie das Wasser ist.

Um nun dieses Schwerelose gelegentlich zu befestigen, braucht das Spielerische bei Krolow auch immer seinen komplementären Gegensatz: das Gesetzmäßige, ebenso wie das Abstrakte das Konkrete benötigt – ein Zusammenhang, der sich mit der Wendung ‚genaues Wunder‘ des spanischen Dichters Jorge Guillén gut beschreiben läßt. Formeln als Motive lassen sich vielfältig finden; so geht es etwa in der „Ode 1950“ um die „Formel der Früchte“, die in einer „Algebra, zart erdacht / Aus atmenden Silben“ gesucht wird. Kegel, Kugel, Konus usf. werden anzitiert, in „Ziemlich viel Glück“ sind es die ‚zärtlichen Linien‘, die dem Hang zur Geometrisierung entsprechen, und assoziieren läßt sich hier ganz wörtlich auch ein englischer Maler des 18. Jh., nämlich William Hogarth, der die ‚line of beauty and grace‘ als Inbegriff von Harmonie zu seinem Leitmotiv erhob. Die umkreisenden, regellosen, ja ekstatischen Linien bleiben auf die Vertikale des Baumes bezogen, worin die Annahme eines Gesetzes zu erkennen ist. In der Aufwärtsbewegung – später wird Krolow die Abwärtsbewegung bevorzugen – zeigt sich eine Ambivalenz zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Gesetz und Spiel, und darin liegt eine Spannung, die Krolow immer wieder als Merkmal des Lebens ausweist. So kann das Bild auch einen Entstehungsprozeß zeigen – dem Gedicht liegt nicht eine fertige Landschaft voraus (natura naturata), vielmehr entsteht diese erst bei ihrer allmählichen sprachlichen Verfertigung (natura naturans). Nicht um Naturentsprechung geht es, sondern um ein imaginatives Spiel, das aber auch Regeln braucht. Artur Rümmler bezeichnet Krolow in diesem Sinne als „poeta magus-mathematicus“, als Dichter also zwischen magischer Vision und mathematischer Berechnung.
Hugo Friedrich faßt, zeitgleich zur Entstehung von „Ziemlich viel Glück“, inhaltliche und formale Tendenzen der lyrischen Moderne wie folgt zusammen: „Ängste, Wirrnisse, Entwürdigungen, Grimasse, Herrschaft der Ausnahme und das Absonderliche, Dunkelheit, wühlende Phantasie, das Finstere und Düsteres, Zerreißen in äußerste Gegensätze, Hang zum Nichts“. Diese umfassende Ästhetik des Häßlichen erzeugt formal „Desorientierung, Auflösung des Geläufigen, eingebüßte Ordnung, Inkohärenz, Fragmentarismus, Umkehrbarkeit, Reihungsstil, entpoetisierte Poesie, Zerstörungsblitze, schneidende Bilder, brutale Plötzlichkeit, Dislozieren, astigmatische Sehweise, Verfremdung“. Kein Zufall scheint, daß er zu einem Gedichtband Krolows ein Nachwort geschrieben hat und dort entsprechend hervorhebt, daß Krolow mit starken Bildkontrasten arbeite, daß er Begriffe und Dingbezeichnungen aus ihren geläufigen Kontexten löse und und so durch Verfremdungsstrategien neue Verbindungen erziele aus Dingen, die sonst heterogen sind.
In diesem Sinne läßt sich das Gedicht lesen als am äußeren Rand der Moderne, in einer Beruhigungsphase sozusagen, in der die schlimmsten Krisen zunächst bewältigt scheinen, formal aber Fortsetzungen zu erkennen sind. Im übrigen bleibt der skeptische, lakonische Ton, die gedrosselte Stimmung, durch Wortknappheit und Konversationston erzeugt – das Schwelgen in einer Liebesszene ist eigentlich nicht möglich. So sehr auch die Gedichtlandschaft ein Arkadien scheint, in dem alles harmoniert, wird sie doch mit der letzten Zeile deutlich als Illusionsraum gekennzeichnet. Das ganze Tableau ist nämlich im Konditional gegeben, als möglicher Zustand, und dazu paßt der Satz Wittgensteins: „Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein. Alles, was wir überhaupt beschreiben können, könnte auch anders sein.“ Erkennbar wird mithin der Musilsche Möglichkeitssinn, und war die imaginative Bildwelt bei Krolow vormals noch stärker an Gegenstände gebunden oder benutzte sie diese zumindest als Sprungbrett, entkoppelt sich die Phantasie hier von jedem empirischen Raum – der anzitierte Baum ist nur noch ein abstraktes Zeichen.
Geht es bei Krolow in den fünfziger und sechziger Jahren um eher spielerische, sublime Beziehungsformen mit lebensbejahender Tendenz, sind doch die Naturbilder durch Zivilisation und Todesahnungen bedroht. Zweifel und Aggression schlagen immer wieder durch – sei es im Frühwerk, sei es aber auch um 1970. Dort sind es dann Puppen und Maschinen, die eher ein nihilistisches Bild abgeben, indem sie dort eine Sexualität ausagieren, die durch Unterdrückung, Brutalität und durch gegenseitige Verdinglichung gekennzeichnet ist. Im folgenden werden dann die krassen Motive wieder zurückgenommen, die Sprache wird schließlich durch das Verwenden von Redensarten vereinfacht, die autobiographisch eingestreuten Reflexionen nehmen zu, Krolow kehrt auch zu alten Reimschemata zurück. Es bleibt indessen die Profilierung des Schreibens an alten Themen von Natur und Liebe, was auch das Verhältnis zum Tod miteinschließt.

Ralf Köhnen, Universität Duisburg-Essen, Stand: 15.11.2000

 

FESTSÄNGER KROLOW

Er hat zu jedem Feste das passendste Angebot Verse,
hier für ein Twen-Magazin, dort für die Imker-Revue.
Greift in den Topf, kein Bedürfnis, das euch nicht der Dichter versorgte!
Fehlt es an Festen, er schafft auch noch die Feste dazu.

Johannes Bobrowski

 

 

Lesung Karl Krolow aus dem Vorrat seiner literarischen Arbeiten und neue Gedichte am 29.1.1992 im Deutschen Literaturarchiv Marbach

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLGIMDb +
ÖM + Archiv 1 & 2Internet ArchiveKalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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