REDLICHKEIT
Redlichkeit, Fremdwort für immer,
geschunden die längste Zeit,
zeigt sich – als Lebensschimmer −
in Treu und Redlichkeit.
Aber sonst eher verschwunden
− redlich im Wettbewerb −
bisher nicht wiedergefunden
als allenfalls im Verderb
der Worte ins Bodenlose,
wo immer genügend Platz
für ein „Jacke wie Hose“
und sonst alles für die Katz.
Karl Krolow hat bis kurz vor seinem Tod am 21. Juni 1999 Gedichte geschrieben. Tag für Tag arbeitete der große Lyriker an Versen, in denen er noch einmal alles zu thematisieren suchte, was ihn zeitlebens in Atem gehalten hat.
Dabei sind, in den letzten drei Jahren vor seinem Tod, Gedichte entstanden, die, in ihrer Lakonie und sprachlichen Schönheit, den „ganzen Krolow“ in der Welt seiner Fragen zeigen. Noch einmal scheint hier „das von Krolow erkundete, unsichere Gelände zwischen Leben und Tod, Lieben und Verlassenwerden, Gesundheit und Krankheit, Glück und Angst“ auf (Rolf Michaelis).
Wer diese Gedichte aus dem Nachlaß liest und sich mit ihrem Autor auf die Reise ins „Verschwinden im Diesseits“ macht, wird erstaunt feststellen, daß Krolow bis zuletzt, von Schmerz und dunklen Gedanken geplagt, dennoch immer wieder zu einem heiteren, leichten, von feiner Ironie durchwirkten Ton findet. Angesichts der verrinnenden Zeit, die er nüchtern konstatiert, gelingen ihm meisterhafte Gedichte, Verse voll bezwingender Intensität.
Suhrkamp Verlag, Ankündigung
− Weltabschiedsmelodie: Karl Krolows lyrischer Nachlass. –
Der stattliche Band, fast doppelt so umfangreich wie Die zweite Zeit, Karl Krolows letzte, 1995 erschienene lyrische Publikation, sieht man vom vierten Band der Gesammelten Gedichte von 1997 ab, enthält alle Gedichte, die der Autor zwischen dem 13. August 1996 und dem 23. Mai 1999, also bis vier Wochen vor seinem Tod am 21. Juni 1999, geschrieben hat. Mancher lyrische Ertrag eines ganzen Dichterlebens ist kaum größer als dieser Nachlass, der 206 Gedichte umfasst, ein poetisches Wunderwerk ohnegleichen. (Eine Auswahl erschien im vergangenen Herbst als schmales Insel-Bändchen unter dem Titel Die Handvoll Sand.)
Alter und Krankheit – Krolow starb mit 84 Jahren – vermochten diesen Prospero nicht zum Zerbrechen seines Zauberstabs zu bewegen. Kein Versiegen, kein Versagen; im Gegenteil: Über die Hälfte der Verse entstand in den ersten fünf Monaten des Todesjahres. Der offenen Auges, aufrechten Ganges seinem Ende Entgegensehende, schrieb fast jeden Tag ein – sorgfältig datiertes – Gedicht. Die „zweite Zeit“, in die der vom Tod Gezeichnete geflohen war, eine Endzeit, die nur noch aus Sprache gewoben war, erwies sich noch einmal als Ort einer dichterischen Wiedergeburt. Krolow machte den Vorsatz wahr, den er am 30. September 1996 in einem Siebenzeiler ausgesprochen hatte: „Ich werde weiterschreiben.“
Der lapidare Satz ist als Antwort auf alle ungelösten Daseinsfragen formuliert. Denn die „Gleichung Leben“ geht nie auf, wohl aber die poetische Gleichung, die dieses Nichtaufgehen ins Wort fasst.
Unser tägliches Gedicht gib uns heute. Haben wir es mit einem lyrischen Tagebuch zu tun? Ja und nein. Einerseits folgt die regelmäßige strophische Aufzeichnung zweifellos dem Modell des poetischen Diariums, das durch die Nähe des absehbaren Für-immer-Verstummens seine unheimliche und faszinierende existenzielle Beglaubigung erfährt. Während für manchen anderen in einer vergleichbar finalen Situation die Parallele von Atmen und Hoffen gilt, wie sie in der lateinischen Parole „Dum spiro, spero“ ausgedrückt ist, tritt hier an die Stelle des Hoffens das Schreiben von Gedichten. Die Produktivität hängt ab vom Zufall der noch verbleibenden Tage, ist von keiner werkimmanenten Entelechie gesteuert. Der unbedingte Wille zum Weiterschreiben erzeugt einen Werkcharakter von prinzipieller Unabschließbarkeit.
Was bleibt, sind leere Hände
So eignet diesem Nachlass nichts Fragmentarisches. Keine angestrebte Vollendung steht aus. Dennoch wird ihm das Etikett des lyrischen Journals nicht gerecht. Wenn er auch als lebensbegleitende Melodie kein in sich abgerundetes Ganzes sein kann, so gilt das nicht für das einzelne Gedicht. Dieses will mehr sein als nur ein Notat, es tendiert zur abgeschlossenen, ablösbaren, also absoluten Form: Fast alle Stücke sind gereimt. Krolow gebraucht den Reim allerdings mit solcher Virtuosität, dass er wie ein Element der Alltagssprache wirkt.
„Die Gedichte, die er Tag für Tag schreibt“, liest man in Peter Härtlings schönem, sehr persönlichem Nachwort, „sind nicht mehr nur Gedichte, sie haben sich befreit von der Anstrengung, ein Gedicht sein zu wollen.“ Das ist gewiss richtig, ändert aber nichts am Vollkommenheitsstatus einer erstaunlich großen Zahl dieser mit scheinbarer Beiläufigkeit und mitreißender Geläufigkeit aufgezeichneten Verse. Er ist unüberhörbar und kann nur bewundernd und dankbar registriert werden. Ein „Achtzeiler“ aus dem September 1998 lautet so:
Zu viel wär übertrieben.
Zu wenig: wenig wert.
Und was ich aufgeschrieben,
was ich verdammt, verehrt,
ist schließlich aufgezehrt.
Nichts ist davon geblieben.
Was bleibt, sind leere Hände:
so geht die Zeit zu Ende.
Nun, sie ging noch nicht zu Ende, sie hielt noch viele Lieder bereit, wie dieses „Volkslied“:
Was ich noch übrig hab:
Wieviel davon ich begrab,
tagein, tagaus.
Es fällt mir deshalb leicht,
weil es mir längst schon reicht:
mach mir nichts draus.
Nichts kommt mir in den Sinn,
als dass ich garnichts bin:
nichts als Poet,
dem es vielleicht gelingt,
zu tun, was garnichts bringt,
dass er noch weiter singt,
dem Tod entgeht.
Ich kehr schon auf den Hacken
Natürlich gibt es in der Fülle der sich gewissermaßen jagenden Texte auch weniger gelungene Stücke, weniger geglückte Variationen zu den eng begrenzten Themen, um die Krolow unablässig kreist. Aber selbst sie sind fast immer mehr als nur ein „Abschieds-Gesumm“, wie ein Titel suggeriert. Von Hoffnung keine Spur. Doch auch nichts von Lebensende-Verzweiflung. Weil es das Lied noch gibt und das Licht (vier Gedichte aus den letzten Lebensmonaten sind jeweils mit „Licht“ überschrieben), das betäubende Blühen und das unbegreifliche Noch-immer-am-Leben-Sein.
Die Gedichte verschweigen nicht die würgende Angst, das „plötzliche Skalpgefühl“ unter der Kopfhaut, den namenlosen Schrecken, mit dem der Hals des Todeskandidaten den Strick erwartet. Aber sie sprechen mit der gleichen Überredungskunst von der Lust des im Diesseits Verschwindens, von Augenblicks-Hingerissenheit und jener aus der Luft gegriffenen Leichtigkeit, die als „Lohn für einen Lebensverlauf“ übrig bleibt. Die inhaltlichen Widersprüche – heitere Gelassenheit und tiefes Erschrecken, Sinnenglück und Weltekel – lösen sich auf in Melodie, Rhythmus und Reim. Da bedarf es keiner zusätzlichen Sinngebung: „Ich höre Lebenssinn / und kehr schon auf den Hacken…“, beginnt eines der letzten Gedichte.
Die „Editorische Notiz“ besteht aus nur wenigen Zeilen. Man wüsste doch gern Genaueres über die Form der Niederschrift der Gedichte. Was ist mit dem Konvolut von mehr als siebenhundert Seiten, aus dem die Editorin des oben genannten Inselbändchens ihre Auswahl traf? Bald nach Krolows Tod publizierte die von Anton G. Leitner herausgegebene Zeitschrift Das Gedicht die mit dem Datum des 14.5.99 versehenen Verse „Hoher Mai“, in denen der als „Naturlyriker“ angetretene Dichter zu seinen Anfängen zurückkehrt:
Päonienweiß und Holunder,
der Rhododendron rot.
Es ist etwas wie Zunder
im Blühn, ein Brand, der droht
vegetativ auszubrechen.
Hoher Mai: es ist soweit −
die hohe Frühlingszeit.
Die Augen sollen zechen
von Farben und einem Grün,
das schwelgerisch ist wie das Blühn.
Vergänglichkeit ist so schnell
Hier bricht die dritte Strophe interpunktionslos ab. Das Fragment bildete die Druckvorlage für eine in der Welt erschienene Interpretation. Im Buch präsentiert sich der Text vollständig, mit einer um eine Zeile ergänzten, im Wortlaut teilweise veränderten dritten Strophe. Sollte im poetischen Diesseits Verschwundenes im philologischen Jenseits wieder aufgetaucht sein?
Albert von Schirnding, Süddeutsche Zeitung, 30.3.2002
− Karl Krolows nachgelassene Gedichte. –
Karl Krolow, der beweglichste unserer Lyriker, war zugleich ein langsamer, ja ein zäher Mensch, der in einem Interview davon sprach, daß er gern bei dem bleibe, „was ich angefangen habe“. Das hieß für ihn: beim Gedicht, beim Schreiben von Versen. Vor sechzig Jahren, mitten im Krieg, gab er sein Debüt mit dem Gedichtheftchen Hochgelobtes, gutes Leben. Im Sammelband Im Diesseits verschwinden und der kleinen Auswahl Die Handvoll Sand tönt noch einmal die Stimme des toten Dichters. Dazwischen ein Werk, das belegt, daß es in der zweiten Jahrhunderthälfte – außer Paul Celan – keinen Autor gegeben hat, der sein Schreiben und seine Existenz so sehr auf das Gedicht konzentriert hätte.
Dennoch war Krolow kein Dichter, den Apoll geschlagen hat. Er war ein Proteus der Poesie, wach und neugierig, immer auf dem Sprung, eine neue Möglichkeit der Lyrik zu probieren und einen Stoff, ein eben gefundenes Motiv an das nächste Gedicht weiterzugeben. Das erst machte eine umfangreiche Produktion möglich, führte aber auch zu Niveauschwankungen, zu wahrhaft faszinierenden Funden, aber auch zu den „glitzernden Perlen aus der Gablonzer Ecke seines Repertoires“ (Peter Härtling). Krolow kam aus der Tradition der deutschen Naturlyrik, von Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann. Doch er hat sich schon früh von internationalen Strömungen anregen lassen, vor allem aus der Romania. Erkennbar blieb das Temperament dessen, der sich gern als Zauberer und Artist, ja als ein Maître de plaisir verstand. Verse sollten so genießbar sein wie eine gute Mahlzeit, ein trinkbarer Wein.
Karl Krolow, der Epikureer und Melancholiker, hat lange Abschied genommen. Schon 1984 titelt er „Schönen Dank und vorüber“, und 1988 klingt es bedrohlich „Als es soweit war“. Vollends geisterhaft ein Titel von 1992 „Ich hörte mich sagen“. Da heißt es:
Wer fragt: Was ist geblieben?
Ich sage: Die Reise ging schnell.
Und was ich aufgeschrieben,
ist zwischen den Fingern zerrieben.
Es war wohl Krolows Zähigkeit, seine eiserne Labilität, die immer wieder das Ende hinausschob. Dieser Dichter schrieb wohl schon seit den achtziger Jahren um sein Leben.
Das letzte Gedicht, das wir lesen, ist auf den 13. Juni 1999 datiert – acht Tage vor Krolows Tod. 400 Gedichte sind in den letzten fünf, etwa 150 in den letzten beiden Lebensmonaten entstanden, oft mehrere an einem Tag. 50 von ihnen bringt das Insel-Büchlein Die Handvoll Sand, immerhin 206 der Suhrkamp-Band Im Diesseits verschwinden. Es gibt Überschneidungen. Etwa die Hälfte der Insel-Auswahl findet sich auch in dem größeren Sammelband. Dort wiederum fehlen die allerletzen Gedichte aus dem Sterbemonat Juni. Die Handvoll Sand bringt immerhin 7 daraus; darunter „Reste des Lebens“, mit dem bedeutungsvollen Zusatz: „11.VI. 84 Jahre, 3 Monate.“ Die Schlußstrophe lautet:
Was ist von mir übriggeblieben,
erbärmlich genug, was ich treibe.
Oder ist’s übertrieben?
Die Zeit vergeht mir: ich schreibe.
Das letzte Gedicht fragt: „Was kann man dem Tod erwidern?“
Für Krolow ist das eine rhetorische Frage. Schreiben ist das dominierende Thema fast all dieser Gedichte. „Weiterschreiben als Zwang? / Es ist wie am Leben bleiben, / das noch einmal im Schreiben gelang.“ Er weiß um seine Obsession und hat auch die Gegenargumente parat, den Spott, und gegen ihn die Selbstironie. Er fürchtet, die Laune derer zu trüben, „die um mich sind“. Zu lange hat er den Zauberer gegeben, der Singvögel unter seinem Hut hielt, um sie in einen eingebildeten Äther entweichen zu lassen, um nicht mit dem Mißmut jener Leser zu rechnen, die sich nicht unterhalten fühlen. Die Sonderrolle des Dichters betrachtet er mit Mißtrauen, nicht zuletzt Rilkes Vorstellung vom „eigenen Tod“.
Und doch ist eines der schönsten dieser nachgelassenen Gedichte ein Selbstporträt. „Eine Büste“ ist es überschrieben, und nur der Untertitel verrät, daß es sich um die „Büste K. K.“ handelt. Es nimmt die Distanz eines anonymen Betrachters ein, der sich mit Vermutungen begnügt, wer und wie der Dargestellte sei. Am Schluß steht die zusammenfassende Prägung: „Ein Mann der Empfindlichkeit“. Es ist das letzte einer Reihe von Selbstporträts, deren erstes ein „Selbstbildnis 1945“ war. Dieses letzte ist in seiner raffinierten Schlichtheit das eindrücklichste.
Über der existentiellen Problematik dessen, der um sein Leben schreibt, sollte man nicht vergessen, daß es nicht bloß um Konfession geht, sondern immer noch und vor allem um Kunst. Was Krolow als „Gekritzel“ denunziert, „das manchmal noch gelingt“, ist Produkt von Artistik. Oder sagen wir vorsichtiger: Handwerk. Manchmal schlägt dieser Stolz auf das Gutgemachte kräftig durch:
Worte mit leichten Silben,
aus Buchstaben gemacht,
wie von der Luft erdacht,
betroffen von keinem Vergilben.
So variiert der dem Tod nahe Dichter noch einmal das Horazische „Dauerhafter als Erz“. Er tut es immer noch mit „intellektueller Heiterkeit“, dem Stichwort seiner Rede zum Büchner-Preis, in der es nicht um Lenz oder Woyzeck, sondern um Leonce und Lena ging: „Das Wort hatte sich gelockert. Es hatte Grazie.“
Diese Grazie findet Krolow in der alten Form des dreistrophigen Reimgedichts, das sich auf das Volkslied, gerade auch das zersungene, zurückbezieht. Es ist eine Form, die sich seinen Bedürfnissen anbequemt, den gefühligen, ironischen, selbst den prosaischen. Diese Form hat Platz für das „Liebeslied (im alten Ton)“, für die Volksliedart eines Ratschlags „Hast du etwas auf dem Herzen, / behalts für dich“, für Anklänge an Eichendorff, aber auch für eine Gottfried-Benn-Pastiche: „Allein mit den Worten: allein.“ Krolow verschärft Benns „Altern als Problem für Künstler“ zur Frage des Verschwindens im Diesseits. Sub specie mortis werden die Avantgarden eitel, kommen die alten Bestände noch einmal herauf. Sie retten nicht, aber sie machen manches leichter.
„Alles wird jetzt leichter mir vor Augen“, heißt es in „Luft“: „Kann es sein, daß ich mich darin täusche?“ Das ist fern aller Verführung zur Regression. Krolow, der Liebhaber des Leichten, Luftigen, ist sich treu geblieben. Wer mit den Worten allein ist, kann mit ihnen immer noch spielen, eine Melodie machen. Jedenfalls lädt uns der Dichter ein, auf seine Melodie zu hören. Und diese Melodie von Liebe, Tod und Wiedersehen, nicht mehr artistisch, aber immer noch verführend, verdient es, ganz gehört zu werden:
Wie es ihr winkte, wie
man sich dann wiedersah: −
du kennst die Melodie,
ein Kinderlied beinah,
von Lippen hingesummt,
ist sie so kinderleicht,
wie sie zu Kopfe steigt,
im Kopf nicht mehr verstummt
als Lied so liebesnah,
die rechte Melodie,
eh man sich wiedersah.
Komm nur und höre sie.
– Noch einmal „Ich“ sagen – Neue und ältere Gedichte von Rolf Haufs und Günter Kunert, neue Gedichte von Elisabeth Borchers und Nachgelassenes von Karl Krolow. –
Am Abend wollten wir für immer nur noch vor weißen Blättern sitzen. Zu viele waren dabei, ihre Dekrete abzugeben. Die Welt sei verloren, keine Rettung in Sicht. Nahe daran, ihnen beizupflichten, ließen wir noch einmal unsere Köpfe kühlen und begannen, möglichst kurz den Nachtwind zu beschreiben, der lau durchs Fenster hereinwehte.
Dieses als „Kleines Credo“ betitelte Porträt des Dichters am Abend von Rolf Haufs spricht im Plural von einem „wir“ – die hier gemeinsam mit ihm zu besprechenden Günter Kunert, Elisabeth Borchers und Karl Krolow ließen sich ohne weiteres in diese Gemeinschaft aufnehmen. Alle haben sie ihr „Tagessoll“ als Dichter längst erbracht und sind damit in die Literaturgeschichte eingegangen, doch auch jenseits des regulären Erwerbsalters – Haufs ist als Jahrgang 35 der Jüngste unter ihnen – wollen sie nicht vom weißen Blatt lassen. Allgemeinverbindliche Dekrete aber sind passe, selbst eine kurze Beschreibung des Abendwindes gerät zu einem Credo, einem persönlichen Bekenntnis, das immer in der ersten Person, immer von einem „Ich“ spricht.
(…)
Gegen den Verlust und das Verschwinden anzuschreiben war auch bis zuletzt das Bedürfnis von Karl Krolow, der im Juni 1999 mit 84 Jahren starb und dessen Stimme eine der wichtigsten der deutschen Nachkriegslyrik war. Er schrieb gleichzeitig gegen den Tod und dem Tod entgegen, immer wieder ein – vielleicht letztes – Gedicht auf ein weißes Blatt setzend gegen die bevorstehende Leere:
Ich bin am Leben. Ich schreibe.
Was alles verlor seinen Sinn?
Daß ich schreibend derselbe bleibe
und wie mitten im Leben bin,
im selben Leben, das ständig
sein Dasein bestätigen muß
doch immer noch lebendig
geblieben. Und sein Schluß,
manchmal im voraus genommen,
bekommt sogar seinen Sinn.
Aber dies Ende mag kommen,
wenn ich mitten im Schreiben bin.
Nachdem bereits 2001 im Insel Verlag unter dem Titel Die Handvoll Sand eine kleinere Auswahl nachgelassener Gedichte Krolows erschienen war, bietet die Ausgabe Im Diesseits verschwinden bei Suhrkamp nun über 200 Gedichte aus dem Nachlass (mit einem sehr persönlichen Nachwort von Peter Härtling). Leider gibt es nur eine äußerst knappe editorische Notiz, der nicht zu entnehmen ist, ob und wie aus den Manuskripten ausgewählt wurde – in der Insel-Ausgabe war von mehr als 700 Seiten die Rede. Auch ist es schade, dass die Entstehungsdaten der Gedichte ausgerechnet im alphabetischen Titelverzeichnis angegeben werden und nicht unter den – chronologisch geordneten – Gedichten oder im Inhaltsverzeichnis. So lässt sich nur sehr mühsam verfolgen, in welchen Abständen und Schüben die Texte entstanden.
Nach diesem vielleicht etwas kleinlichem Mäkeln muss aber gesagt werden, dass die Gedichte ganz wunderbar und erstaunlich sind. Es ist faszinierend, wie ein Dichter, der hochkomplexe Sprachkonstellationen geschaffen und die Errungenschaften des französischen und spanischen Modernismus für die deutsche Lyrik fruchtbar gemacht hat, zu einem schlichten Ton, zu einer einfachen und selbstverständlichen Sprache findet, die geradezu klassizistisch oder vielmehr zeitlos wirkt. Der Großteil der Gedichte besteht aus drei vierzeiligen Strophen, meist mit kurzen dreihebigen Versen und fast immer gereimt. Dennoch scheint die Sprache meist völlig unangestrengt und natürlich, als ob sich die Form wie nebenbei von selbst ergäbe. „Leichtigkeit (…) / Ist sie nicht schließlich der Lohn / für einen Lebensverlauf?“ – heißt es an einer Stelle. Man könnte die Gedichte statt zeitlos natürlich auch unzeitgemäß nennen, sie fallen so aus dem Rahmen heutiger Schreibweisen, dass sie sich gängigen kritischen Maßstäben zu entziehen scheinen und jedes modernistischen Das-kann-man-so-nicht-mehr-Machens spotten. Allenfalls Sonntagslyriker scheitern noch mit ähnlichen Ambitionen; es wäre ein schönes Gedankenexperiment, wie es Krolows Gedichten als unverlangter Zusendung (unter anderem Namen) bei Suhrkamp ergangen wäre – vielleicht wären sie auf den ersten Augenschein hin umgehend zurückgeschickt worden… Aber trotz aller Unwahrscheinlichkeit sind die Gedichte frisch und lebendig und gleichzeitig ein anrührendes Zeugnis für einen Kampf gegen den Tod, den jemand mit dem stärksten Mittel führt, das er zur Verfügung hat: der Sprache. Jedes Gedicht ist ein neuer Anlauf, ein weiteres Sich-Aufbäumen und eine seismographische Aufzeichnung der aktuellen Befindlichkeit. So kommt es, dass, was in einem Gedicht noch gewiss war, in einem anderen ungewiss wird. Manchmal behält die Gelassenheit das letzte Wort, schwingt sich sogar zu gedämpfter Euphorie auf, manchmal weicht sie dem „tödlichen Gefühl“ des „Unterliegens“. In dem Gedicht „Verschwinden“ vom 11.10.97 heißt es noch: „ganz ohne den Schweißgeruch der letzten Angst / laß dir die letzten Flötentöne beibringen“, ein Jahr später, am 11.10.98, ist das, was dementiert wurde, genau das, „was übrig bleibt: kalter Schweiß“. So erklärt sich die Eigenart der Sprache wohl nicht nur aus der gelassenen Meisterschaft des Alters, sondern der – obgleich schwerelose – Formwille versucht auch das Schmerzhafte und das Maßlose zu bändigen:
Verschwunden bleibt doch verschwunden.
Und was im Verschwinden ist,
zeigt nicht gern seine Wunden: –
eine letzte Lebens-List.
Alexander Frank, neue deutsche literatur, Heft 545, September/Oktober
Hans Dieter Schütt: Leben – das ist ein trügerisches Vermischen
neues deutschland, 27./28.4.2002
Kurt Drawert: Die letzte Zeit
Neue Zürcher Zeitung, 4.9.2002
VEGETARISCHES NACHTLIED
Nach Karl Krolow
1963
Sommer webt den Lendenschurz
mir aus Phlox und Flieder,
Berberitz und Bürzelwurz –
die Natur: mein Mieder.
Lattich, Minze, Malvenmond –
der Poet inmitten.
Wald- und Wiesenhorizont
wird nicht überschritten.
1983
Und PLOPP steht das Herz dir still
im schönsten Wiesengrunde.
Der Darm, ein letztes Ventil,
verbellt deutsche Schäferhunde.
Dann ist es auch damit Schluß.
Das Vögeln hört auf im Walde.
Ein letzter Samenerguß,
dann heißt es: Warte nur, balde.
Kurt Bartsch
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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