WENN ES TAG WIRD
Erlkönig flüchtete
vor dem Morgenstern.
Unhörbar der Todesschrei des Dunkels.
Der Tag verteilt
Licht auf Gegenstände.
Ein Vorhang
senkrechter Nelken und Rosen
wird hochgezogen.
Die Kraft gebündelter Linien,
die eine Faust umschließt.
Gleich wird es blitzen,
oder zwei Hähne,
bunt wie Zuaven,
kämpfen um ihr Leben.
Ihr elliptisches Krähen
steht lang in der Luft.
enthält zum größten Teil Gedichte aus den Jahren 1964/65; sie bestimmen ein altes, charakteristisches Thema der Krolowschen Lyrik neu: die Landschaft als Ort der Selbstvergewisserung menschlicher Existenz und als „visuelles Ereignis“.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1966
Ich nahm den neuesten Band von Krolow, Landschaften für mich, in die Hand. Um mich zu informieren. Lesen, um zu wissen, was die andern tun. Professionelle Neugier. Ich erwartete, was man sich bei Krolow eben erwarten darf: intelligente Glossen, scharf oder auch überpointiert. Durchsichtig und überraschend, die gelungenen. Als ob Krolow „wie Krolow“ schreibe, die andern. „Ein wirkliches Talent“, hatte man zu seinem 50. Geburtstag geschrieben, das Lob nach oben und unten behutsam absteckend. Ich nahm also dies Bändchen, „um … zu“, ein wenig zögernd, es kam mir zu rasch hinter dem dicken Sammelband des Vorjahrs, aber durchaus nicht ungern. Ich ging auf einen Schaufensterkauf, ich dachte, die Auslagen zu kennen, so schnell wechseln sie doch kaum. „Der reine Himmel der Abstraktion, der über der Latinität steht“, das darf, das durfte man von Krolow erwarten. Das ist sehr sehr viel. Intelligenz, das Rarum. Nicht nur den so verfügbaren Intellekt.
Aber plötzlich waren die Fensterscheiben weg. Die „Fensterscheiben“ sind heute nur selten weg. Ich las Krolow abwechselnd mit Kleist. Kleist sagt hierzu („Brief eines Dichters an einen andern“): „(…) rühmtest Du mir auf eine Art, die mich zu beschämen geschickt war, bald den Rhythmus, bald den Reiz des Wohlklangs und bald die Reinheit und Richtigkeit des Ausdrucks und der Sprache überhaupt (…) Vorzüge, die ihren größesten Wert dadurch bewiesen haben würden, daß Du sie gar nicht bemerkt hättest. (…) Die Kunst kann, in Bezug auf sie, auf nichts gehen als sie möglichst verschwinden zu machen.“ Etwa so würde ich auch die „Fensterscheiben“ definieren, die bei aller Bewunderung zwischen Leser und Gedicht stehen können. Das Gelungene wird als solches zunächst nicht wahrgenommen, es wirkt unmittelbar, eignet sich, eben weil es über der Wirkung vergessen wird, fast zur Unterschätzung.
Dies ist eine Umschreibung. Es ist schwer zu definieren, was der Unterschied einiger dieser neu esten Gedichte ist im Gegensatz zu den vorigen. Vielleicht läßt sich dies feststellen: ein gewisser Leerlauf der Metaphern, eine sich auf hohem zünftigem Niveau bewegende Unverbindlichkeit, die gelegentlich wie Selbstimitation klingt (ohne daß sie jedoch von andern, die nicht über dies wxquisite Handwerkszeug verfügen, leichtlich nachgemacht werden könnte), hat der Verbindichkeit Platz gemacht, den Metaphern ist die Autonomie des hübschen Spracheinfalls beschnitten, ihre Beliebigkeit und ihr Exhibitionismus. Sie dürfen sich jetzt einfügen in den Ductus des Gedichts statt miteinander um das Rampenlicht zu wetteifern. Der Unterschied ist fühlbar. Er stellt Krolow in die allererste Reihe, oder er zeigt doch nur, daß Krolow dort steht. Ich würde sagen, wo andere heute ins immer Sterilere Sehen, ins immer „Neutralere«, und immer mehr sich eignen, Lobe wie das von Kleist abgelehnte entgegenzunehmen, da hat Krolow auf eine neue Art Atem bekommen, ist fortgegangen vom Aseptischen, hin zum Menschen. Alles bewegt sich auf einmal, die gestellten Bilder leben.
Dabei ist nichts verloren von dem großen Können, nichts von der künstlerischen Subtilität. Krolows Worte sind wohl eingeübt, sie kannten und kennen ihren Weg, laufen nicht vom Pfad. Die Worte haben nur die haarscharfe Grenze überschritten, wo sie gut gewählte Worte waren, Worte, die man sah und bewunderte, zu Worten, die „verschwinden“ und glücklich machen. Sie evaporieren anders. Das ist alles.
Die erregten Hände
des Augenblicks
an dem die Adjektive sterben
Es gibt nur Gezählte unter den Lebenden, in- und außerhalb Deutschlands, denen das widerfährt. Ich zitiere eine jener so begnadeten (wer hätte dies Wort sonst bei ihm gebraucht) Stellen:
Die Brieftaube zwischen uns
steigt immer höher.
Wir sind im schönen Hause
ohne Türen, Himmel,
unverwischbares Blau
auf unsern Körpern.
Wo, im ganzen Werk von Krolow, wo überhaupt, ist in so wenig Worten, so genau gesetzten Worten so viel Atem! Eine solche Würde der Diktion! Diese Gedichte sind asketisch. Auf Paraphernalia, die verblüfften, ist fast ganz verzichtet. Das Artifizielle fehlt, in den schönsten dieser Gedichte. Das Selbstverständliche wird mit Verwunderung gesehen.
In andern Worten, hier ist – nicht in allen, aber in einigen der Gedichte, die an die besten in Fremde Körper anknüpfen zum Spiel der Phantasie, vor allem der sprachlichen Phantasie, in der Krolow es zu einer solchen Virtuosität gebrach, hat, jenes Quäntchen „Notwendigkeit“ oder „Gesetz“ getreten, das Spannung fühlbar macht und das das „Sonderbare“ (H. Friedrich über Krolow) ins Gültige wandelt. In dieser Spannung ist gleichsam ein breiterer Pinsel benutzt. lch möchte das ganz klarmachen :
Das andere Leben
mit zwei Augenpaaren.
Wir haben Fieber
wie die Steine
in der Sonne.
Im gemeinsamen Mund
fliegt unser Atem davon.
Man würde das dem Ductus nach auf den ersten Blick nicht unbedingt für Krolow halten. Ich habe die beiden Metaphern ausgelassen, das unverkennbare „made by Krolow“ dieses Gedichtes:
Stilleben abgelegter Kleider.
Unser Dunkel – leuchtendes Öl
unsicher durchs Fenster geschüttet
Hier schlägt Handwerk um in Manier, eine Gefahr, die bei Krolow immer naheliegt und die er selber kennt und fürchtet, als fehle ihm oder könne ihm doch fehlen, was ihm vielleicht nun so spät noch zuteil wird. In Solo für eine Singstimme schreibt er:
Nimm das hin (…)
Das kann eine Weile
gutgehn. Du mußt nur
dabei dir nicht auf den Mund
sehen, die Nachtigall
läßt auf sich warten.
„Sieh dir nicht auf den Mund“, vergiß das „Machen“ am Machen, ein Übermaß an Reflektion, zu große Selbstbeobachtung verscheucht die Spontaneität, diese „Nachtigall“. Gerade dies Gedicht, in seiner Resignation, in seiner Bescheidung auf die eigene Grenze einer mittleren Begabung, gehört zu den schönsten des Bandes, zu denen, die Krolow erst jetzt gelingen, wie ich glaube:
Laß es mich ruhig
versuchen –
tonlos zunächst, ein ruhiger
Singvogel oder so.
Du sollst nicht denken
daß ich an meiner
Stimme ersticke.
Bei zugehaltener Kehle
singt es sich einfach und kurz.
Ich denke, Krolow hat, in einem Augenblick, in dem sein Instrumentarium schon ganz perfekt war, in dem er alles ausdrücken konnte, was auszudrücken er sich nur je vornehmen würde, in diesem Augenblick hat er etwas wie eine zweite Jugend bekommen. Nach 50 sollen Menschen manchmal eine zweite Jugend bekommen. Die hält dann und ist künstlerisch so gut und besser als die erste: weil so viel mehr da ist, was in Bewegung gerät. Die neue „Naivität“ ist eben um so viel „naiver“, als sie nicht naiv ist. Als so viel vergessen wird in jedem Augenblick, der nur er selbst ist.
Dabei ist das Thema Krolows nicht weiter geworden. Thematisch bringen diese Gedichte nichts Neues. Wir bewegen uns fast immer in einer Gartenlandschaft, im Karussell der Jahreszeiten: nicht in einem Park, in einem Garten im engsten Sinne oder in einer Zivilisationslandschaft. Man könnte sagen, eine Idylle. Die Bewegungen sind leise, wie sie leise waren. Gemessen, wie sie gemessen waren. Alles liegt an dem Menschen, der sich in dieser gleichen Landschaft bewegt. Der immer in diesem Garten ist, aber doch nie in diesem Garten ist. Der immer zugleich da ist und zugleich sich enthält. Der unaufgelöste Rest zwischen dieser „Landschaft“ und dem Dichter, die Spannung zwischen dem, der die Dinge an sich vorübergehen läßt und nicht teilhat, das ist das, was den Leser so berührt und bewegt. Diese große Traurigkeit und Verlorenheit, die noch in den sichersten Zeilen da ist. Sie ist anders als die Verlorenheit anderer Zeiten. Jede Zeit hat ihre eigene Verlorenheit.
Es ist ein merkwürdiges Ding, daß gut ausgedrückte, wirklich verlebendigte Verlorenheit so glücklich machen kann wie das Glück selbst. Der Gegenstand der Katharsis ist gleichgültig, solange Katharsis sich ereignet. Im Teilhaben an der gelassenen Hilflosigkeit dessen der sagt („Cartesianischer Mai“):
(…) folgerichtiges Blühen.
(…)
Man sieht der Entstehung
bekannter Blumen zu.
Grüne Silben
kommen zu Wort.
Der unaufhaltsame Flieder
grüßt den gerechten Himmel
und der hier ist nur zur Bestandsaufnahme, selber ebenso „cartesianisch“ vorübergehend, verschwindet Hilflosigkeit, kommt Verlorenheit nach Hause.
War dies aber ein „cartesianischer Mai“? Das ist die Freiheit der Kunst. Das ist unsere Freiheit. Es beginnt plötzlich eine ganz neue Reihe, wir sehen nicht dem Entstehen der „bekannten Blumen“ zu, ganz neue sind plötzlich da.
Man kann hier nur dem Beschenkten und uns, den Beschenkten, gratulieren. Und die „Tischordnung“ bei den lyrischen Banketten umgruppieren. Was allerdings bei uns, wo das ad hominem das ad rem so überschattet und der Kritiker darauf aus ist, zuerst einmal zu zeigen, daß er „eingeweiht“ ist in die gültigen Konventionen, wo also die literarische Tischordnung sich wie durch Magie erhält, weil niemand es auf sich nähme, sie anzutasten – gleichgültig, ob einer gute oder schlechte Bücher vorlegt -, eines kleineren Erdbebens bedarf.
Vielleicht ist es bei diesem eingestandenen Versuch, Krolow neu zu situieren, nicht unangemessen zu erwähnen, was wir ihm überhaupt verdanken. Er ist einer von den ersten, die uns, nach dem Kriege, „Welt“ gebracht haben: das Frankreich der Surrealisten. Und, in französischer Filtrierung, fast nur im Gestus, etwas von Spanien. (Was Ivan Goll, dieser Grenzgänger, hierin bereits in den zwanziger Jahren versucht hatte, ist durch die Diskontinuität so gut wie verloren, das unmittelbare Nachkriegswerk wurde im Verlauf der widerwärtigen literarischen Fehde zu einer Art Tabu.) In der Rolle des Mittlers ist Krolow vielleicht Vicente Aleixandre zu vergleichen, dessen Mittlerschaft für Spanien allerdings weit früher liegt und dessen Figur sich in eine Gesamtentwicklung einfügt, die durch selbstauferlegte deutsche Quarantäne hier aicht stattfinden konnte. Krolow wurde sekundiert durch die Übertragungen spanischer Lyrik, in den frühen fünfziger Jahren, und durch das 1956, im Jahr seines Büchnerpreises, erscheinende ganz der modernen französischen Lyrik gewidmete Buch von Hugo Friedrich, das sich – außer, natürlich, für Benn und seine Theorie – für Krolow, gleichsam als einen deutschen Erben, einsetzt.
Einzig Celan darf sich rühmen, zwar nicht mehr als Krolow in der Methode, aber eben doch noch tiefere Schichten des französischen Surrealismus mit stärkstem Atem der deutschen Sprache anverwandelt zu haben, widersprüchliche und tragische Welten in seinem Werk vereinigend. Die „ Welt“, die Krolow uns gebracht hat, dies ist das Eigentümliche, bestand (abgesehen von ein paar südlichen Tönen der Palette) fast nur im Technischen. Wiederum aber gibt es keine Sprachtechnik, die nicht die Sache selbst implicite mitbrächte.
Krolow war von Anbeginn ein Landschafts- und Jahreszeitendichter, einer jener drei Schüler Loerkes und Lehmanns, die heute die Senioren der zeitgenössischen deutschen Lyrik sind. (Loerke, der große Anreger, ist in der Kulisse geblieben, aus der er vielleicht jetzt, wo das Bennsche Pathos nicht mehr unter die Haut geht und wo Benn ein Klassiker ist, abgestellt ins Regal, verspätet hervortreten wird, mit seiner leisen und noch unverbrauchten Stimme.) Huchel, Eich und Krolow, alle drei erst in der Nachkriegszeit zu breiter Wirkung gelangt, sind ja die einzigen unter den neuen Autoren, deren Werk noch in die dreißiger oder frühen vierziger Jahre zurückreicht, was man oft vergißt. Huchel ist Loerke wohl am nächsten geblieben, und wieder hörten wir, erst kürzlich, etwas von Loerkes Stimme, auf ganz neu und stark, in den Gedichten des Huchel-Schülers Bobrowski. Eich und Krolow haben sich, jeder auf anderem Wege, Eich auf dem Brechts, Krolow auf dem der Franzosen und Spanier, von Loerke sehr weit wegentwickelt. Das lyrische Werk von Eich, das Werk von Huchel sind schmal, zumindest das, was gedruckt vorliegt. Krolow schreibt und veröffentlicht sehr viel, weit mehr als irgendein anderer zeitgenössischer deutscher Lyriker. Immer hat es Autoren gegeben, die breit veröffentlicht haben, Gutes und weniger Gutes. Bei einer so großen Zahl von Gedichten ist das Gefälle naturgemäß größer. Vieles bei Krolow bleibt in der Anwendung virtuoser Routine stecken, wie wir sie bei Huchel nie und bei Eich nur hie und da und erst ganz neuerlich finden. Das verdeckt den Rang dieses Werks. Die manierierten Gedichte drängen sich vor, rein zahlenmäßig. Und man übersieht zu leicht, daß in der großen Zahl Krolowscher Gedichte sich eine Auswahl treffen läßt, die Krolow als durchaus ebenbürtig erweist. Spätestens nach diesem Bändchen also ist ihm das gleiche Podest – zumindest das gleiche geschuldet, das den beiden andern mit schöner Selbstverständlichkeit zugestanden wird.
Auf diesem „Podest“, auf dem Huchel und Eich so natürlich mit festen Füßen stehen, sehen wir Krolow in heikler Balance, täglich neu das Gleichgewicht suchend:
(…) und turnt
den Handstand im Wind
aus anderer Richtung.
Die Zehen tragen den Himmel
Das ist dieses Ariels private Art einer Gratis-Perspektiveverschiebung in unserer ohnehin kopfüber, kopfunter lebenden Welt. Dabei sieht und benennt er, was man in solch prekärer Position besonders gut ins Gesichtsfeld kriegt:
Über meinem Hause
ändert sich täglich die Wahrheit
schreibt Krolow unter dem Titel „Vorsicht“.
Karl Krolows Lyrik ist in den letzten Jahren womöglich noch liquider und arielhafter geworden. Das machten bereits die Schlussabschnitte der chronologisch aufgebauten Gesammelten Gedichte erkennbar; und auch dieses neue Versbuch bestärkt in dem Eindruck dass Krolow seine Poesie weitgehend von der Schwermut befreit hat, von jenem Element des Fühlens, das Hugo Friedrich noch vor wenigen Jahren als das am Zustandekommen seiner Gedichte überwiegend Beteiligte ansah. Dafür ist jetzt eine transparente Freude und eine unpersönliche Leichtigkeit in die poetische Szene eingezogen:
Wer lange Arme hat,
reicht an den Himmel.
Ermüdete Vögel
schlafen auf der Luft.
Und an anderer Stelle heisst es:
Ein herabgestürzter Ast
beginnt zu blühen.
Oder, noch bezeichnender:
Aus einem Schritt
wird ein Luftsprung.
Krolow, der als Naturlyriker begann, weiss instinktiv um das Lebensspendende und generell und trotz allem Lebenserhaltende der Welt; und gemeinsam mit Friedrich Schlegel, den er einmal zitiert, ist er sich auf eine geradezu selbstverständliche Art darüber im klaren, dass Nichtverstehen meist nicht von einem Mangel an Verstand, sondern von einem Mangel an Sinn herrührt.
Es ist also, um ein bekanntes Wort zu variieren, Vertrauen in „The Ground We stand On“, was die Krolowsche Dichtung – unabhängig von allen geistigen Wagnissen – mit den Jahren immer mehr wie von selbst reguliert; so dass wir es heute, mit einer Poesie zu tun haben, die zwar das Schweigen angeht und Irreales okkupiert, die aber die Ratio, dieses Ausschliesslichkeitsvehikel positivistischen Fortschrittglaubens, in die Schranken weist:
Die Natur ist älter
als Rousseau –
Krolow ist ein Lyriker, der (auf den Spuren Rimbauds; aber auch Mallarmés, Góngoras und Jorge Guilléns) eine poetische Totalsprache entwickelt hat, die weit mehr will, als reale Sachverhalte beschreiben. Krolow (hierin nur mit wenigen deutschen Lyrikern verbunden: mit Trakl, mit Ernst Meister, mit Celan; und, in gewisser Weise, mit Hans Arp; – wenn wir die Surrealisten von Hölzer über Hübner bis Poethen einmal beiseite lassen) bedient sich der absoluten Metapher, die mehr ist als ein dekoratives Bild, mehr als Blattgold über den baren Wortsinn gelegt. Die Metaphern Krolows gehören wieder ganz jener Realität an, in der ihre semantischen Wurzeln stecken; noch sind sie völlig beziehungslose sprachliche und spirituelle Ueberkompensationen. Krolows Metaphern (obwohl es syntaktisch quasi normal gebildete Konstruktionen sind, Konstruktionen, die nur dadurch spezifisch werden, dass die einzelnen Worte ungewöhnliche Verbindungen eingehen) erfrischen die Sprache an der Wirklichkeit, und sie regenerieren die Realität am Gesprochenen. Die Umwelt – auch die verbale – vernutzt sich für Auge, Ohr, Gefühl, Intellekt. Es ist deshalb nötig, dass der Lyriker, der, wie wir alle, mit einem beschränkten Vokabular auskommen muss, versucht, durch immer veränderte Wortgruppierungen die alten Sprachpartikel zu Bausteinen frischer Einsichten zu machen. Für die Dichtung gibt es kaum stoffliche Novitäten; wenn es also trotzdem ein Weiter, ein Voran in ihr geben soll, dann kann dies nur dadurch bewirkt werden, dass die archaischen und konstanten Themen, dass die lyrischen Grundmuster den jeweiligen gesellschaftlichen und geistigen Gegebenheiten sprachlich angepasst beziehungsweise metaphorisch entgegengesetzt werden. Hierbei gilt es natürlich nicht nur, Phantasie zu entwickeln und ästhetisches Kalkül walten zu lassen; der Dichter – bei seiner unumgänglichen Suche nach neuen adäquaten Ausdrucksmitteln – muss auch streng darauf achten, dass er wohl neuartig, nicht aber unnötig extravagant artikuliert; dass er einen Stil findet, der zwar zugleich individuell und zeitgenössisch, der aber nicht manieristisch im negativen Sinne des Wortes ist.
Jede Zeit, jede Kultur bringt für das dichtende Individuum ganz besondere Versuchungen und Gefährdungen hervor. In unserer Epoche, die man als das Zeitalter einer alles und jeden vereinnahmenden Soziologie bezeichnen könnte, wird das Aesthetische (das heisst: der innerste Bereich der Kunst, ihr einzig freier Ort) weitgehend von gesellschaftlichen Imperativen regiert, von unduldsamen Forderungen, die das Gedicht politisch und die den Lyriker als eine Art Sprachrohr imaginierter Massen und fiktiver Kollektiv-Intentionen haben wollen. Karl Krolow – und das ist ein Beweis mehr dafür, dass er ein echter und spontaner Dichter ist – lässt sich jedoch von der Sozietät, von den Verfertigern der sogenannten öffentlichen Meinung keine Bekenntnisse abverlangen, die er nicht freiwillig zu geben bereit ist. Krolow hat den Mut, privat zu bleiben und nur dann nach politischen und soziologische Themen zu greifen, wenn er das für nötig hält. So zeigt er – etwa in „Seestück“ – die zunehmende Banalität auf unserem von Traum und Metaphysik abgeschnittenen Konsum-Globus. Oder er belustigt sich – in der Folge „Im Frieden“ – über jene Lebensart, die in Deutschland unmittelbar nach den Wieder-Aufbau-Jahren heraufkam, sozusagen als deren Folge:
Frieden. Die ruhigen Leute
lassen ihr Haar wachsen.
Die rücksichtsvolle Prosa
ihres Umgangs.
Liebet eure Feinde:
geregelte Gleichgültigkeit.
… Mein Freund, der Pastetenbäcker
… Die errechnete Zukunft
ist eingetreten:
Langeweile.
Beschreibungen solcher Art sind mehr als nur Schnappschüsse von der Peripherie unserer Situation. Unter dem Flachen, unter dem zivilisatorisch Genormten verbergen sich metaphysische Bezüge und Dimensionen: Zonen, die vom Dichter nur deshalb kunstvoll ausgespart werden, weil sie durch die Realität, durch die politische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung verschüttet worden sind. Karl Krolow referiert in seinen Gedichten nur selten (und dann nie ohne Ironie) über die Welt wie sie ist. Im allgemeinen schafft er aus Wirklichkeitselementen und Sprachmöglichkeiten Regionen, Landschaften nach eigenem Geschmack:
OHNE ANSTRENGUNG
Ohne Anstrengung
nur so, gedankenlos
dieses und jenes – den Tag
als Wäscheblau auf der Leine,
Ravels künstlichen Finken
in der kichernden Luft, „ich fühle
sein Herz schlagen“, ein fremdes
Bewusstsein verlieren und weiter
zu kommen versuchen,
spurlos die echte Landschaft
mit richtigen Bäumen
auf sich beruhn sehn,
ohne Anstrengung, so weit wie möglich
den Kinderhimmel blau zu belassen –
nur so.
Hilde Domin: Karl Krolow, „Landschaften für mich“
Neue deutsche Hefte, Heft 2, 1967
Regina Käser-Häusler: Neue Gedichte von Karl Krolow
Basler Nachrichten, 25.3.1966
Erich Lotz: Karl Krolow, Landschaften für mich
Universitas, Heft 6, 1967
Heinz Piontek: Landschaften für mich
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1966
Heinz Piontek: Alles ist Augenschein
Die Welt der Literatur, 17.3.1966
Heinz Piontek: Schlecht bezahlte Tätigkeit. Gedichte über deas Dichten.
Rheinischer Merkur, 15.7.1966
Heinz Piontek: Auf eine Meile. Karl Krolow schrieb ironische Landschaftsgedichte
Christ und Welt, 27.5.1966
Jürgen P. Wallmann: Poetische Balanceakt
Tagesspiegel, 3.4.1966
Timo Brandt: Karl Krolow 1966–1970 – ein Ausschnitt
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com, 26.2.2014
Karl Krolow, obwohl er aus dem Lager der sogenannten Naturmagier stammt, läßt sich keinesfalls als Repräsentant der naturlyrischen Schule oder als Erbe deutscher Landschaftspoesie im weiteren Sinne verstehen. Krolow war ein Dichter, dessen Wesen und Bedeutung man nur erfassen kann, wenn man ihn in größeren kulturellen Zusammenhängen, speziell im Kontext des Romanischen, sieht.
Zwar stand der Autor mit seinen – relativ unbedeutenden – Anfängen im Schatten von Lyrikern wie Wilhelm Lehmann und Elisabeth Langgässer. Er selber aber hat sich, nach einer Zeit der stilistischen und thematischen Adaption, nicht ohne Nachdruck von seiner geistigen Ausgangswelt distanziert:
Unsere Natur- und Landschaftslyrik […] blieb oft stoffbenommen, stoffbetäubt. Ich versuchte – über die Jahre hin – den Worten größere Leichtigkeit und mit ihr größere Beweglichkeit zu verschaffen und der Zeichenhaftigkeit, der Chiffrenkunst eine Kunst der singbaren Formel einzuverleiben, der ,präzisen Zeichenlehre‘ ,mathematisches Entzücken‘ beizugeben, die geometrische Klarheit, die algebraische Sicherheit.
Etwas von der handwerklichen und essentiellen Ökonomie, die Krolow für seine Poesie benötigte, fand er bereits in der „optischen Klarheit und Wahrnehmungs-Zartheit“ Lehmanns. Doch die entscheidenden Anregungen, die ausschlaggebenden Impulse, suchte er anderweitig: jenseits der Sprach- und Landesgrenzen, im Umkreis der französischen und – zunehmend – auch der spanischen Literatur:
Das deutsche Gedicht unseres Jahrhunderts hat vorwiegend – auch vor 1933 – von seinen eigenen Artikulierungsmöglichkeiten, Äußerungsweisen gezehrt. Das war eine Art freiwilliger Isolation.
Krolow kannte und nutzte früh die Kontakte zur außerdeutschen Lyrik, die vor ihm von so verschiedenartigen Autoren wie George, Rilke, Trakl und Brecht bereits hergestellt worden waren. Doch weder diese Annäherungen noch Eindeutschungen durch Philologen hatten vermocht, jene „merkwürdige Inzucht“ zu beseitigen, die das poetische Leben seit Jahrzehnten charakterisierte. So nahm der Lyriker die allgemeine Rückständigkeit als persönliche Herausforderung an und begann eine eigene Nachdichtungstätigkeit, die ihn peripher mit englischer und amerikanischer, vor allem jedoch mit französischer und spanischsprachiger Poesie in Verbindung brachte.
Das Übersetzen war ein Prozeß, von dem der Poet in mehrfacher Hinsicht profitierte. Es gestattete ihm nicht nur, der deutschen Literaturszene mit ihren lastenden Traditionen und ihrer provinziellen Begrenztheit zu entkommen; es ermöglichte ihm auch, Schritte der Selbstkonfrontation, der intuitiven Annäherung an schwer zugängliche Gefühlslagen sowie an bisher unbekannte Sprechweisen zu unternehmen. Krolow war allerdings nicht der einzige, der nach Kriegsende Ausschau nach den poetischen Neuigkeiten unserer kulturellen Nachbarn hielt. Doch geriet niemand so sehr „in einen Rausch des Übersetzens“ wie er – aus Gründen, die vor allem in seinem Naturell lagen.
Der Norddeutsche, der gebürtige Hannoveraner, war von Anfang an ein scheuer und diskreter Poet, der gewissermaßen zwangsläufig alles Subjektive und Private aus seinen lyrischen Arbeiten ausklammerte. Da kamen ihm die fremden Temperamente und Regungen, denen er beim Übertragen begegnete, als evozierende Kräfte entgegen. Sie gestatteten ihm, in sich selber Verborgenes aufzuspüren und abgespaltene Empfindungskomplexe dem lyrischen Ich und damit dem personalen Subjekt zu integrieren.
Durch die anderssprachigen Worte, die neuartigen Satzverbindungen und die frappierend unbekannten Metaphern-Kombinationen wurde der Dichter sensationiert und unmerklich an das Zentrum seiner schöpferischen Sensibilität herangeführt:
Der Vorgang des Übersetzens ist für mich immer ein sinnenhafter Vorgang gewesen. Man kommt unversehens dem anderen Stoff, dem fremden Körper, seiner eigentümlichen Beschaffenheit nahe, ich möchte sagen: beängstigend nahe!
Der Umstand, daß Krolow die Annäherung an die zu übersetzenden Dichter als beängstigend empfindet und den Vorgang verbalen Transponierens als etwas Affektives erlebt, zeigt, mit welch wünschelrutengängerischer Behutsamkeit er in fremden Persönlichkeiten eigene Wesenszüge sucht – sozusagen deckungsgleiche Partikel aus dem (individuell unerschöpflichen) Vorrat kollektiver Bilder.
Bei so verschiedenartigen Dichtern wie Éluard, Apollinaire, Supervielle, Reverdy, Soupault, Follain oder aber bei Lorca, Jorge Guillén, Alberti, Diego, Altolaguirre etc. begegnete der Autor bis ins Kleinste durchgegliederten Texten, wie man sie im Umkreis der deutschen Lyrik damals noch nicht antreffen konnte und wie sie erst allmählich von ihm selbst, von Günter Eich, Paul Celan und einigen anderen entwickelt wurden.
Daß die fremdsprachige Poesie letztlich nur Stimulanz sein konnte, daß sie lediglich eine Fülle von Mustern bereitzuhalten vermochte, aus der ein eigener Stil noch zu erschaffen war – daran hatte Krolow, der ständig Wandlungsbereite und Änderungsfähige, vom Beginn seiner Experimente an keinen Zweifel:
Es gibt keine Flucht ins fremde Wort! Aber es gibt Fluchtversuche, Fluchtgesten, Bewegungen auf diese Flucht zu, von der man nicht zurückkäme, wenn sie gelänge.
Das völlige Eintauchen in die Sphäre einer anderen Sensibilität wäre das Ende aller Selbstfindung gewesen.
Bezeichnenderweise läßt Krolows Interesse am Übertragen von Poesie in dem Maße nach, in dem er sich selber lyrisch realisiert. Die fremde, die andersartige (Bild)Dichtung war für ihn nur so lange ein unentbehrliches Hilfsmittel, wie er dem eigenen Ich als etwas Fernern, fast Unerreichbarem gegenüberstand. Als er nach seiner ,hochmetaphorischen‘ Phase von Fremde Körper (1959), Unsichtbare Hände (1962) und, in gewisser Weise, auch noch von Landschaften für mich (1966) in ein Stadium niedriger frequentierten Redens trat und beinahe programmatisch Alltägliche Gedichte (1968) zu schreiben anfing, war auch die Lust am Übersetzen verschwunden.
Der Dichter verkehrte jetzt nicht mehr auf dem Um-Weg über fremde Text-Körper mit dem eigenen Unbewußten. Vielmehr projizierte er seine Empfindungen mittlerweile vorsätzlich auf die Objekte seiner realen Umwelt. Und was stilistisch als eine Verringerung der Sprach-Amplitude, als ein Zugriff auf gewisse smalltalkhafte Wendungen der jungen Amerikaner, aber auch deutscher Autoren (etwa Rolf Dieter Brinkmanns) in Erscheinung trat, das entsprach auf personaler Ebene dem Umstand, daß Krolow sich selber nun als konkretes Objekt faßbarer lyrischer Aussagen verstand:
…
ich besehe Bilder
von früher und lese,
daß es das gab,
während ich mir Neues
merken muß
…
und mich mit mir
neu einrichte, ohne Bilder,
kunstlos, ohne Jahreszeiten,
mit an den Beinen
hoch kriechender Kälte,
selber ein Stück
trockener Landschaft,
noch sichtbar.
Dieses für den älteren Krolow typische Textbeispiel findet sich in dem 1969 geschriebenen Gedicht „Landschaften, früher“, das in der Sammlung Nichts weiter als Leben (1970) steht. Zwar wäre es falsch, den Krolow der späteren Stilphase als gänzlich abgegrenzt von dem Krolow metaphorischen Redens anzusehen. In Nichts weiter als Leben heißt es einmal ausdrücklich:
Phantasie, immer noch
mächtiger als Gewissen.
Doch läßt sich nicht ignorieren, daß der Imagination jetzt eine geringere Funktion zukommt als in jener Zeit, in der Krolow seiner Umwelt die Lichter der Eingebungskraft aufsteckte und alles Sichtbare von einem ungeheuren visuellen Hunger plündern ließ:
Der Vorrat an Augen
reicht nie aus.
Krolow vollendete seine lyrische Emanzipation, zu der er sich lange, nicht zuletzt durch seine Übersetzungen, disponiert hatte, 1955 – möglicherweise nach einer Annäherung an die dadaistischen Kobolde Hans Arps, die gleichermaßen eine sprachliche Auflockerung und eine intellektuelle Erfrischung bewirkten und die Krolow in die Lage versetzten, seiner Schwermut mit selbstironischer Heiterkeit zu begegnen:
Es ging ein stilles Leuchten
Von ihm aus.
Das machte die Glühbirne,
Die er im Munde trug.
1955 machte sich Krolow endgültig daran, „In seinem Leben einige Veränderungen / Mit Hilfe der Phantasie vorzunehmen“. Und hierbei war ihm nichts so sehr von Nutzen wie gewisse Fertigkeiten, die er im Umgang mit moderner französischer und spanischer Poesie erworben hatte. Welch langer mühseliger Weg von dem Dichter zurückgelegt werden mußte, bis er sich mit Hilfe eines eigenen Instrumentariums ausdrücken konnte, weist Artur Rümmler in seiner Dissertation Die Entwicklung der Metaphorik in der Lyrik Karl Krolows (1942–1962) nach. In dieser – allerdings lediglich auf sprachliche Phänomene und Prozesse fixierten – Untersuchung wird dargelegt, wie nach und nach aus tradierten Naturmetaphern aggressive „expressionistische“ und sodann surrealistische Metaphern wurden, die sich ihrerseits ständig weiter differenzierten, bis schließlich, nach 1959, „die betont intellektuelle Metapher mit der Tendenz zum Unmetaphorischen“ zur Verfügung stand, so daß nun auch Bereiche und Zustände beschreibbar wurden, die ausschließlich der Einbildungskraft entstammten:
Fernes Land, in dem
Himbeeren durch die Luft fallen
und Männer mit leeren Bienenkörben
die Kirchenstille einfangen.
Besonders durch seinen Umgang mit den modernen spanischsprachigen Dichtern hatte Krolow sich poetische Verfahrensweisen erarbeitet, die ihn befähigten, seine Empfindungen und Vorstellungen minuziös abzubilden. Freilich darf man nicht außer acht lassen, daß Krolows Ähnlichkeiten mit den Poeten der 27er Generation mehr von konstruktiver, von technischer als von emotionaler und wesensmäßiger Beschaffenheit sind.
Autoren wie Rafael Alberti und vor allem Federico García Lorca waren – zumindest in ihren typischen Anfängen – noch stark vom spanischen Volksgut affiziert. Und wenn sie auch artistisch bereits Anschluß an die Erfahrungen der internationalen Moderne besaßen, so liefen ihre Intentionen doch, ähnlich wie die Bestrebungen der älteren Popularisten Antonio Machado und Juan Ramón Jiménez, auf Erneuerungsversuche lokaler, doch geschichtstiefer Traditionen des spanischen Südens hinaus. Sogar ein Vergleich mit Jorge Guillén ist nur bedingt zutreffend. Denn wenn Krolow diesem lyrischen Geometriker aus Valladolid auch die Fähigkeit zur Verräumlichung seiner Gefühle verdankt, so trennt ihn von jenem doch sein Verlangen, sich mit dem Phänomen der Zeitlichkeit auseinanderzusetzen… ein elementares Bedürfnis, das Krolow immer schon besessen hatte, wenn es auch erst im Titel seines 1972 erschienenen Bandes Zeitvergehen leitmotivisch thematisiert wurde.
Krolow, der gegen explizite „Bedeutungen“, gegen stoffliche Schwerpunktbildungen votierte, glich in seiner hochmetaphorischen Periode in mancherlei Beziehung Vicente Huidobro, dem chilenischen Dichter, der – via Paris – 1918 seinen creacionistischen Schreibstil nach Madrid gebracht hatte, um sofort junge urbane Talente wie Gerardo Diego und Guillermo de Torre zu initiieren und bald auch die aufgeschlossensten andalusischen Regionalisten anzuregen.
Wie Huidobro war auch der Krolow der mittleren Phase in erster Linie Artist, Stilist, formaler Experimentator, dem es weniger um die Abbildung spezifischer Emotionen ging als um die Vervollkommnung der lyrischen Sensibilität an und für sich. Hatte Huidobro 1918 in Ecuatorial mit programmatischem Innovationsbestreben ausgerufen: „EL RUISEŃOR MECANICO HA CANTADO“, „DIE MECHANISCHE NACHTIGALL HAT GESUNGEN“, so paraphrasierte Krolow diese typisch creacionistische Metapher 1961 in dem Gedicht „Siebensachen“, in dem er sagte:
Der Frühling
ist eine mechanische Nachtigall
Mehr noch als für Huidobros Artefakte begeisterte sich Krolow für das Künstliche bei Ravel. Das beweist das 1964 konzipierte Gedicht „Ohne Anstrengung“ aus der Sammlung Landschaften für mich, das folgendermaßen beginnt:
Ohne Anstrengung,
nur so, gedankenlos
dieses und jenes – den Tag
als Wäscheblau auf der Leine,
Ravels künstlichen Finken
in der kichernden Luft, „ich fühle
sein Herz schlagen“…
In seinem Poetischen Tagebuch von 1966 kommt Krolow wiederum auf Ravel zu sprechen, in zwei verschiedenen Kapiteln. Und zwar nennt er einmal Ravels Musik eine „große Spielzeugschachtel. Etwas für Algebraiker…“, während er anderweitig bemerkt:
Der Komponist des L’Enfant et les Sortilèges äußerte über einen künstlichen Buchfinken: „Ich fühle sein Herz schlagen“.
Diese Eigenart, das Lebendige gerade, ja nur noch im Leblosen zu gewahren, fasziniert Krolow, der nun pro domo hinzufügt:
… in der Lyrik hat der Frühling längst etwas von einer ausgestopften Nachtigall angenommen, wie der Herbst vom wohlpräparierten Fasan. Die ausgestopften Vögel schweben inniger an der Wand. Die Liebhaber des Künstlichen haben sich freilich zu allen Zeiten derartige Volièren gehalten, durch deren Maschen vor zweihundert Jahren die Sonaten Domenico Scarlattis und Baldassare Galuppis so gut schlüpften wie heute Gedichte von Hans Arp.
Wenn man sich vor Augen führt, daß Arp und Huidobro Brüder im dadaistisch-creacionistischen Geiste waren, ja daß sie sogar ein gemeinsames Buch, Tres novelas ejemplares, geschrieben haben, schließt sich ein Kreis, den Krolow in weitgespannter Erwartung um den verborgenen Mittelpunkt seiner Bedürfnisse geschlagen hat.
Die Intentionen Krolows in seiner mittleren Periode wurden wohl am besten durch ein (in einem Tagebuchblatt ausführlich kommentiertes) Wort von Stéphane Mallarmé ausgedrückt:
Weiß man, was Schreiben ist? Eine sehr alte, sehr unbestimmte, aber gefährliche Übung, deren Sinn im Geheimnis des Herzens verborgen ist.
Statt vom Geheimnis des Herzens sollte man heute, ein Jahrhundert nach Mallarmé, vom Unbewußten sprechen. Krolow allerdings hat auch jetzt, da er sich mit lyrisch gesenkter Stimme vor dem Hintergrund der Alltagskulisse artikuliert, immer noch Vorbehalte gegen allzu methodische Fragestellungen und analytische Durchdringungen der äußeren Umstände und inneren Bedingtheiten nicht aufgegeben:
Ich will nicht der Wurzel
meiner Traurigkeit nachgehen.
Das Erforschen von Motiven und das Erkunden dialektischer Beziehungen – etwa zwischen ,Determination und Freiheit‘ – gehören weiterhin nicht zum lyrischen und essayistischen Programm. Krolow bleibt Sinnesmensch, der dem Zyklus der Jahreszeiten folgt, auch wenn die Natur längst so vernutzt ist, daß der Sommer nur „seine eigene intelligente Kopie“ zu sein scheint:
Du kriegst die Augen nicht zu,
auch wenn die Gegend
ein blinder Fleck ist
Wie bei Ravel und bei Huidobro ist bei Krolow Künstlichkeit mit einem hohen Grad von Erregbarkeit gepaart. Und letztlich war es vermutlich diese geradezu peinigende Sensitivität, die den Dichter dazu gebracht hat, von der komprimiert-metaphorischen Sprechweise abzugehen und das pausenlose Sinnenfest der Imagination und Illumination in einen ,bürgerlichen‘ Normalzustand zu überführen:
Das mechanische Spielzeug meiner Kindheit,
Phantasie, in die Jahre gekommen,
früher ein Mittel, nicht gesehen zu werden…
In seiner späteren, wirklichkeitsorientierten Phase freilich verdeutlichte sich Krolow weniger durch Metaphern als durch Beschreibungen. Und was er schon in den Paris-Schilderungen seines Prosabandes Minuten-Aufzeichnungen (1968) erprobt hatte, eine gewisse Offenheit in sexuellen Dingen, das realisierte er nun auch in seinen Gedichten:
Libido, die vom Objekt
auf den Körper zurückfällt
[…] wenn ihn Sperma
verläßt im Stehen oder
Liegen, nach üblicher Art…
Oder:
Der Minuten-Zeiger
rückt ernsthaft vor.
Die winzige Zeit des Samen-Abgangs.
Eiweißflecke…
Früher, zur Zeit metaphorischen Redens, hatte Krolow das Geschlechtliche subtiler dargestellt; er hatte gesagt:
In den Heuschobern
Rascheln Mäuse
Und weibliche Schenkel.
Oder:
Das Bett im Winkel
brennt bis gegen Morgen.
Zwei sehr verschiedene Sprachlagen, die die Frage aufwerfen, was den Wandel der Gefühls- und Artikulationsart bewirkt haben mag. Das zunehmende Alter des Autors? Oder die veränderte geistige und gesellschaftliche Situation – etwa das Hereinströmen amerikanischer underground-Lyrik und das Entstehen einer deutschen Subkultur Mitte der sechziger Jahre? Immerhin ist bekannt, daß Krolow 1970 im Merlin-Verlag einen Band Bürgerliche Gedichte veröffentlicht hat: derb-sexuelle Verlautbarungen, die er zwar nicht in den zweiten Teil seiner Gesammelten Gedichte aufgenommen hat, zu denen er sich seinerzeit aber ausdrücklich bekannte – insofern, als er das Pseudonym Karol Kröpcke bei einer öffentlichen Lesung mit seiner eigenen Person deckte.
Auf die Frage eines Reporters des ZEIT-Magazins „Warum schreibt Krolow als Kröpcke Gedichte?“, gab er die Antwort:
Ich stehe mir sonst selber im Weg.
Dieses Bekenntnis läßt die Vermutung zu, daß der Autor, der als Lyriker apollinischen Typs begann, im Verlauf seiner inneren Entwicklung und seiner literarischen Profilierung einen allmählichen Spannungsabbau vorgenommen hat. Nachdem sich der Eros lange Zeit hindurch vergeistigen ließ, wurde nun der körperliche Teil der Liebe ,ausgeworfen‘, um die Affektivität – und damit auch die lyrische Stimmlage – zu senken.
Der Mensch Krolow wird in den Arbeiten des Lyrikers Krolow dadurch zunehmend sichtbar, daß dieser etwas von seiner ursprünglichen Scheu abbaut und sich – zumindest andeutungsweise – in seinen personalen Umständen zeigt. Wenn Krolow in seinem Poetischen Tagebuch einmal davon gesprochen hat, daß die „Begehrlichkeit der Schreibhand“ stets anderes zu schreiben versuche, als dies der Schreiber wolle, so werden jetzt der Intuition und der Imagination bewußt und konsequent Zügel angelegt:
Ich will doch wirklich
nur sagen, was ich sehe.
Phantasie wird ersetzt durch Methode, Erfindungsgabe durch Kritik und Ironie:
Manche lehren immer noch
ihre kleinen Söhne einen Diener machen.
Antibürgerliche Statements, Attacken gegen artige „kapitalistische Umgangsformen“ gehören fortan ebenso zum Repertoire von Krolows Lyrik wie emotionale Aufstände gegen die ontologische Gegebenheit des Sterben-Müssens:
… der Kinderwunsch,
sich unter einer fremden Achsel
zu verstecken.
Mehrmaliger Gebrauch
des Todes vorm Tode.
Du bist mehrmals vorher dran,
ehe es dunkel wird
und niemand mehr
Gute Nacht sagt.
Auch über den Sex wird ein bitteres Wort gesprochen:
… die sinnliche Revolution
verschaffte keine Erleichterung.
Der Poet, der seit Nichts weiter als Leben (1970) seine Gedichte en bloc, ohne jede strophische Gliederung, zu Papier bringt, benutzt die Phantasie nicht länger, um das Unsagbare zu sagen und metaphorische Transparenzen und Utopien zu erschaffen, sondern um das Sublime dem Trivialen unterzuordnen.
Für Krolow, der sich gern der Konjunktion „oder“ als eines Agens bedient, haben sich die poetischen Bilder mehr und mehr zu „Erklärungen“ aufgelöst. Und da der Imagist nun „weiß, daß Physik wahr ist“, versucht er beinahe systematisch, Distanz zu seiner Subjektivität und seiner Sensitivität zu gewinnen. Das Ergebnis der emotionalen Zurücknahme wird verbalisiert:
Langsam verschwindet Gefühl
aus den Sätzen.
Die veränderte dichterische Strategie führt zu einer bisweilen antimetaphorischen Redeweise und zu einem existentiellen Relativismus.
Das Ich, nachdem es die entzauberten Personen und Dinge der Umgebung lediglich noch als Erscheinungen im Zustand der Entfremdung und der Ernüchterung zu begreifen vermag, muß auch sich selbst als bloßen Funktionsträger in einem Ensemble des Auswechselbaren erleben:
Durch die sehenswerte Stadt gehen,
durch die Ehe, durchs Gras,
durch sein eigenes Deutsch.
Krolow, in seiner Glanzzeit, war ein regelrechter Jungborn der verkrusteten deutschen Nachkriegspoesie, die – länger noch als ein volles Jahrzehnt nach dem sogenannten Jahr Null – in angestammten Schreibposen erstarrt blieb. Indem er die abgelebten Formen und inhaltlichen Klischees durch eine neue gelöste Bildersprache überwand, betrieb er unverhofft eine Art sanfter Revolution, bei der er sich nicht, wie andere Innovateure jener Tage, dem obligatorischen Diktat einer ,Ästhetik des Häßlichen‘ unterwarf, sondern, nachträglich gesagt, einen surrealistischen Impressionismus entwickelte, in dem er das Schöne mit dem Irrealen verschwisterte – zum erstenmal in dem Band Fremde Körper von 1959, in dem sich Metaphern fanden wie:
Der Mittag, die Morgue der Pflanzen,
Bricht lautlos von draußen herein.
Oder, in einem realitätsentrückten Seestück mit dem Titel Marine:
Der Kapitän ist eine Erfindung derer,
Die vor uns das Schiff verließen.
Krolow streute in seine Gedichte Sentenzen ein, die bisweilen den Charakter kryptischer Subtexte lieferten:
Kabeljauköpfe bluten
überall im Land.
Oder:
Die Reiter sind ihren Pferden
immer ein wenig voraus.
Der Autor liebte es, seine Arbeiten locker zu gestalten und offen zu halten. Er ließ sich gleichsam von seinen Einfällen überraschen, und er vermied es, sich, wie er das an Helmut Heißenbüttels Elaboraten wahrnahm, „eine Reißbrett-Vorstellung von Sprache“ zu machen. Nicht das restlos ausformulierte Wortgebilde, sondern die – fast zufällige – „phonetische Erscheinung“ war Krolows lyrisches Ideal… fast im Sinne Kleists als ein sich erst beim Reden verfestigendes Entstehen des Gedankens.
Nicht selten fiel Krolow das Ungewöhnlichste ein:
Fünf Nagelmonde, die aufgehen
über dem Himmel
der rechten Hand…
Es gab viele Naturkontakte:
Überall ist Norden im Winter…
Oder, in einer gewissen Nachbarschaft zu den tellurischen Euphorien Jorge Guilléns:
Höhere Zustände,
Luftschöpfungen, diskrete
Ontologie…
Doch in den Phänomenen verbarg sich, außer den Wundern des Seins, krude Tagtäglichkeit:
Sprichwörter werden wahr.
Die Moderne mit ihren normierenden Zwängen kam näher:
Nur noch auf einer Briefmarke
zu erkennen: der Staat…
Langsam gelangte der Eskapismus an sein Ende; die Strophen raffiniert gespielter Unschuld stellten sich seltener ein:
Kinder kommen mit Kindern
aus einem richtigen Wald…
Und 1968, im Jahr der studentischen Rebellion:
Alles ist hinreichend beschrieben –
wie es anfängt und weitergeht,
übrig bleibt
die verbrauchte Landschaft…
In Krolows dritter, letzter Schaffensphase gewann die Wahrnehmung innerer und äußerer Mißlichkeiten zunehmend Herrschaft über die ästhetischen Wertsetzungen und die phantasie-gesteuerte Gestaltungskraft. Das nahende Ende wurde zu einem sich verselbständigenden Thema. Und gelang es dem Dichter anfangs noch, seiner Verzweiflung mit sarkastischen Artikulationen in freien Versen zu begegnen, so benötigte er schließlich zur Bewältigung der Ängste bindende Strophen und verklammernde Reime.
Der Lyriker, der sich von bestimmten Gedichten abwendet, die er schrieb, kann freilich mit ihrer Rachsucht als einer letzten Reflexwirkung rechnen.
Diese Einsicht, einst in der Prosasammlung Poetisches Tagebuch publik gemacht, wandte sich unversehens gegen ihren Urheber, der nun Positionen einnahm, die er selber einfürallemal für überwunden gehalten hatte.
Krolows Retardieren zu alten Gefühlsstrategien und vormodernen Gestaltungsmustern geschah in merkwürdiger Parallelität zu den Rückzugsmanövern der politischen Progressisten, die, als sie die Grenzen des Wachstums erkannten und sich der ökologischen Misere bewußt wurden, zwar das Banner der künstlerischen Postmoderne zu schwingen begannen, sich faktisch aber dem (in Wirklichkeit nie ganz besiegten) Konservatismus überantworteten.
Eine Zeitlang, in der Mitte seiner Wegstrecke, war Karl Krolow der Ariel der deutschen Lyrik gewesen. Metaphern, so leicht und schön wie Montgolfieren, schwebten über den Phantasielandschaften seiner Poesie; selbst dort, wo sich die Erscheinungen mit Bleigewichten abzumühen hatten, ging es unbeschwert zu: utopisch auf eine fast konkrete Art, die ihren Charme aus der Welt des Mediterranen bezog.
Krolow wußte zwar, daß unter den Rosen Falltüren lauerten. Aber er legte dennoch, inmitten der Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts, eine Art privaten Rokoko-Garten an, eine lyrische Fragonard-Welt, in der er quasi eine Handbreit über dem Boden schwebte, getragen von einem mittelmeerischen Aufwind, der über die Pyrenäen und durch das Rhonetal nordwärts kam.
Euphorisiert von Lorca und Alberei sowie spiritualisiert durch Valéry und Guillén wurde Krolow die Natur zum „visuellen Ereignis“, und während er das mittelmeerische Grün über das heimatliche Lodengrün stellte, gelangte er zu der Einsicht:
Die Natur ist älter
als Rousseau.
In jenen Jahren der Beschwingtheit hörte der Dichter sogar die Statuen miteinander sprechen. Die im Prosatagebuch Minuten-Aufzeichnungen gestellte Frage „Welcher Süden ist südlich genug?“ war Ausdruck einer halkyonischen Haltung. Krolow verstand die Jahreszeiten als physiologische Chiffren, und er erinnerte sich, „wie in Norddeutschland eine Landschaft ihr Gewicht zu verlieren begann“.
Literarische Leichtigkeit, das war damals ein programmatisches Stichwort, und es wurde verwirklicht in Gedichten wie „Im Grünen“:
Frauen- und Vogelköpfe
im Laub, das aussieht wie Laub
der Aquarellmaler.
Hier kann man sitzen
und langsam mit der Luft sprechen.
Grün: bis unter die Herzen,
unter den Kinderhimmel,
in dem jeder Verdacht
zur Wolke wird.
Es macht Kopfweh, weil es
noch bei geschlossenen Augen
grün bleibt.
Aber man kann auch darüber lachen
und sich ein blaues Fahrrad ausdenken,
mit dem man den Horizont entlang fährt.
Krolows Eloquenz blieb selbst in Versen erhalten, in die sich die brutalen Gravuren der Gegenwart gruben:
Melancholische Staaten
zerfielen an Straßenecken.
Oder:
Tag mit blauen Fingernägeln,
mit deutschen Augen, nichts
für Freunde von Logarithmen.
Am Brunnen wird das Blattgrün
gewaschen, bis es weiß ist:
Staub von Gefühl, mit dem sich
schreiben läßt, zum Beispiel:
gotisch oder mit Gewehren…
Das Politische bei Krolow entzieht sich parolenhaftem Gebrauch, und das Heitere ist vielfach elegisch grundiert:
Die Schwermut hat
eine lange Geschichte.
Der Dichter weiß, daß Glück und Inspiration keine dauerhaften Gesellschafter sind. So schrieb er schon 1963, vor dem Sieg des Realitätsprinzips über die Kräfte der Phantasie, mit spiritueller Bedachtsamkeit dieses selbstreflektorische Gedicht mit dem Titel „Melodie“:
Langsam, langsam.
So schnell
vergißt eine Melodie
ihren Anfang.
Valéry liebte Gluck.
Ich sitze in der Luft
mit einem Lied unterm Hut
oder mache es anders
in einer Falternacht
pour le piano, ohne Alter,
drei Terzen weit, vier
Quarten im Dunkel.
Man kommt voran,
wenn man den Mund öffnet.
Das Singen besorgt
ein anderer.
Weil Krolows Eingebungen überwiegend aus dem Unbewußten stammten, nahm sein Einfallsreichtum mit zunehmender Selbsterkenntnis ab. Hierbei spielte sein Outen als Karol Kröpcke gewiß eine Rolle. Doch neben dieser ,Enttarnung‘ der Metapher als Substitut des Erotischen führten auch der Wandel der Zeitumstände und das eigene biologische Altern zu einem Dämpfen der lyrischen Tonlage.
Der bald nach der 68er Rebellion in Erscheinung tretende Neo-Formalismus verschlug Krolow ins Lager der Traditionalisten und ließ ihn Sonette und Reimgedichte à la Rilke und Benn verfassen, wobei seine Hervorbringungen meist nicht die Geschmeidigkeit der Anreger besaßen. Der Autor erkannte das Dilemma:
Ich habe Glück mit den Sätzen,
wenn ein Zufall die Worte lenkt…
Oder:
Ich sage: Die Reise ging schnell.
Und was ich aufgeschrieben,
ist zwischen Fingern zerrieben…
Krolows Krise fiel in eine Epoche, in der die Leistungen der Moderne, die er selber entscheidend mitgestaltet hatte, einem neuen Epigonentum wichen, dem er sich tragischerweise auch noch als Lyrikrezensent unterordnen mußte… seiner Konversion zusätzliches Gewicht gebend durch die Wertigkeit seines Namens.
Das persönliche Desaster stand dem Autor deutlich vor Augen, und es vergrößerte den physischen Leidensdruck:
zuweilen fällt [mir] nichts
mehr ein als
ein tückischer Titel
für nicht mehr Geschriebenes…
Krolow war, anders als Rilke und Benn, den bitteren Einsichten eines sich dem Ende zuneigenden Lebens sprachlich nicht immer gewachsen. In dem Band Zwischen Null und Unendlich von 1982 sagte er in dem seitenlangen Resümee „Ausverkauf“:
… still, mein Junge, du überzeugst nicht!…
1977, in der Sammlung Der Einfachheit halber, hatte es noch geheißen:
Vor der Haustür
begann früher gleich der Süden.
Man kaufte sich ein Pfund Orangen
[und hatte] wirklich nichts anderes zu tun
als Mignons Früchte zu verzehren.
Solche taktile Direktheit kam Krolow in seinen letzten Lyrikbänden weitgehend abhanden. Er spürte, wie mancher damals, den Paradigmenwechsel:
Die inhaltlichen Jahre trocknen aus.
Inmitten ungelenker Verskonstrukte finden sich, en passant wie Zufallsbefunde, scharfsinnige gesellschaftskritische Diagnosen:
An Hauswänden
nimmt die Aufklärung
der Analphabeten zu.
Doch Krolow weiß längst:
Definitionen nützen nichts.
Die Devise lautet also: weiter! weiter! –: auch wenn die Politik, die Technik und die Ökonomie einflußreichere Lobbyisten haben als die Poesie:
Am Kehlkopf
spürst du den Industrieherbst
als leichten Druck.
Da wird ein montiertes Trakt-Zitat zur makabren Kontradiktion:
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht.
Krolow erlebte seine Schreibweise als „täglich zufälliger“. Er fühlte sich nicht mehr als das, was er war und bleibt: als der große Sensualist der deutschen Nachkriegslyrik. Sein Unglück als Schriftsteller bestand darin, daß seine Kreativität an das Vorhandensein noch halbwegs intakter Landschaften gebunden war und daß ihm die Sujets, die Figuranten seiner Phantasie, gerade dann abhanden kamen, als die Last des Alters ohnehin den Auftrieb der Einbildungskraft zu beeinträchtigen begann.
An die Stelle der ersten, der eigentlichen Natur war definitiv die zweite, die technik-abgeleitete getreten: die moderne, elektronisch dominierte Cyberspace-Welt, die nichts mehr von haptischen Erfahrungen und spirituellen Räumen wissen will, sondern sich im universellen Chat-Room ersatzbildhafter Unwirklichkeiten dauerhaft eingerichtet hat.
Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation in Universitas, 8/1975. Hier in Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens. Essays über 33 Schlüsselfiguren der Moderne, Wallstein Verlag 2008 revidiert und essentiell erweitert.
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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