Karl Krolow: Meine Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Meine Gedichte

Krolow-Meine Gedichte

HIMMEL UND HÖLLE

Mit Kreide hast du aufs Pflaster geschrieben −
den Himmel hier und die Hölle dort.
Himmel und Hölle: ich könnte dich lieben
an dem einen oder am anderen Ort.

Zwischen den Zähnen die Zungenspitze,
spielst du noch einmal das alte Spiel,
das Straßenspiel in der Sommerhitze.
Himmel und Hölle gelten gleich viel.

Ich sehe ihm zu, dem kindlichen Hüpfen.
Das Paradies und die Hölle sind weit.
Ich spüre dich schon zum Flüchten bereit.
Ich fühle dich unter den Händen entschlüpfen.

 

 

 

Rechtzeitig zum 75. Geburtstag

erscheint, auf Anregung des Verlags, Karl Krolows eigene Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk. In seiner erfrischenden und immer aufs neue überraschenden Präsenz ist der Fluß dieser Gedichte zu einer der wenigen zuverlässig durchgängigen Determinanten der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg geworden.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1990

 

Beitrag zu diesem Buch:

Charitas Jenny-Ebeling: Spätlese
Neue Zürcher Zeitung, 19.10.1990

 

Die Körpersprache der Poesie

− Laudatio auf Karl Krolow bei der Verleihung des Friedrich-Hölderlin-Preises. −

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

lieber verehrter und nun seit gut vierzig Jahren mit wachsender Leselust verfolgter Karl Krolow, wie wollen wir diesen mit Ravel begonnenen Abend eigentlich mit erörternder Prosa in der Schwebe halten? Da kein Wissenschaftler Ihnen entgegensteht, sagen wir: kollegial, genossenschaftlich, informell. Da es auf der anderen Seite keine zuverlässigen Meßinstrumente für artistische Hochleistungen gibt, sagen wir: so subjektiv wie möglich und immer hübsch an den Ausschlägen unserer Nervenenden entlang. Es haben sich im Laufe Ihres viele Büchermeter langen Lebens ja solche Scharen von Forschern, Exegeten und Doktoranden an Ihre Fersen geheftet, daß wir auf dieser objektiven Auslegeebene gar nicht mehr mithalten können, dann schon eher am Ariadnefaden unserer Neigungen entlang, und wenn der manchmal gewisse Schwankungen aufweist, betrachten Sie das bitte als eine Sache der persönlichen Betonung und auf keinen Fall der Benotung.

Als ich Karl Krolow kennenlernte, nicht als Person zunächst und auch noch nicht in gesammelter und gebundener Form, sondern aus verstreuten Zeitschriftenpublikationen der ersten Nachkriegsjahre, erschien er mir übrigens noch als poetischer Wildemann und robuster Eisenkerl. Ob in der Wandlung oder im Ruf, ob in der amerikanisch inspirierten Neuen Zeitung oder im Ost-Berliner Eulenspiegel, überall konnte man damals auf die Ableger oder Nebentriebe dieser lyrischen Pionierpflanze treffen, und daß sie auf unterschiedlichsten Böden hatte Fuß fassen können, hing gewiß mit einem ganz ungewöhnlichen Durchsetzungsvermögen zusammen. Das sind nun alles Begriffe, die sich mit der inzwischen sprichwörtlich gewordenen Empfindsamkeit des Poeten nur schwer überein bringen lassen. Bis zur Durchsichtigkeit verfeinert – oder sagen wir besser, spiritualisiert −, scheint er sich solchen fetten Etiketten wie von selbst zu entziehen. Dennoch hatten seine frühen Nachkriegsgedichte auch etwas Grelles, Buntes, Wuchtiges, was unserem jugendlichen Bedürfnis nach schreienden Farben und krassem Ausdruck entgegenkam. Karl Krolow, dieser eindrucksvoll stabgehämmerte Name stand bei uns für die unverbrüchliche Allianz von Wort und Wahrheit, Sinn und Form, Literatur und Leben. „Gedichte gegen den Tod“, „Gedicht für den Frieden“, „Lied, um sein Vaterland zu vergessen“, „Huldigung an die Vernunft“, das war als Überlebenssignal und Befestigungsschwur nicht bloß für die Kunst, sondern mitten in die Zeit hinein gesprochen. Außerdem kam dieser Dichter, treudeutsch und traditionsverhaftet wie wir, vom deutschen Expressionismus her – von Georg Heym, von Ernst Wilhelm Lotz; wie Wolfgang Borchert, wie Arno Schmidt −, und daß das durchschlug vom rhythmischen Unterbodenbereich bis hoch in die Gedankensphäre, machte die Wahlverwandtschaft erst richtig rund.

Unter den Lumpen tragen verbrannt sie die Haut,
Haben sie Fleisch, schwarz und von Eisen zerrissen,
Blecken die großen Zähne, grölen mit Stimmen laut
Fremde Gesänge, vor denen den Frauen graut,
Und frieren im Ungewissen.

Und sie speien die Hoffnung wie Tabak, im Munde gekaut,
In den Schlamm vor die Füße und hinken vorbei,
Verziehn die gesprungenen Lippen und gehn ohne Laut
Unter im Schweigen, im knisternden Scharbockskraut,
Im Ohr das Gemurmel der höllischen Wahrsagerei.

Diese zwei Strophen aus der „Elegie von den Soldaten“, dies beschwörende Abschwören und „Gemurmel der höllischen Wahrsagerei“, sind mir auch heute noch nicht aus dem Herzen, aus dem Sinn, was nicht zuletzt mit ihrer magischen Eindringlichkeit zu tun hat. Das gibt uns gleich ein weiterleitendes Stichwort an die Hand. Wie man weiß, verbinden sich Krolows lyrische Anfänge keineswegs nur mit der expressionistischen Schule, sondern auch mit jenem, nennen wir es einmal etwas despektierlich, Landschulheim der Naturlyrik, das seine Pforten auch während der Nazijahre geöffnet hielt und in dem „naturmagisches Dichten“ gewissermaßen auf dem Lehrplan stand. Hier fand sich im Namen Oskar Loerkes, Wilhelm Lehmanns und Elisabeth Langgässers, was dem Zeitgeist nicht recht über den Weg traute und lieber seinen eignen schmalen Fährten folgen wollte am beschaulichen Waldrand oder am Wiesenrain entlang. Hier traf sich in der Zerstreuung – aber im kleinen Rahmen bodendeckend −, was dem Vorwärts-Vorwärts-Geschmetter der hellen Fanfaren die Resonanz verweigerte, ohne schon auf den Namen Widerstand oder Systemkritik getauft zu sein. Der Politik den Rücken kehrend und statt der ungeliebten Zeit dem ungetrübten Ablauf der Jahreszeiten zugewendet, sah man sich selbst in einen magischen Zirkel vegetabilischer Vorgänge einbezogen, in dem die Geschichte ihr Recht verloren hatte und die allgegenwärtige Natur am Ende über Göttermacherei und Götterstürze triumphierte. Wie tief der Marschtritt der Legionen allerdings auch in diese ökologische Nische eindringen konnte und mit welch schmerzlicher Genauigkeit er gelegentlich registriert wurde, können wir einem Gedicht Karl Krolows aus dem Jahre 1944 entnehmen, bei dem der Titel „In der Fremde“ zweifellos als Zeitanzeiger verstanden werden will.

Ich hör die fremden Schritte um mich her.
Und harte Stimmen nisten in der Stube.
Im Wiesengrund dreht flackernd ihre Tube
Die Herbstzeitlose, vom Verfalle schwer.
Laut pocht das Herz im Hals aus kalter Grube.

Die Toten nehmen in der Dämmerung zu.
Sie schweben – Bast und Bärlapp in den Haaren.
Wie sie mir dumpf im Blattlicht widerfahren,
Streif ich sie langsam mit dem flachen Schuh
Und fühl sie nahe, die vergessen waren.

Entfremdung, wir lesen es, hören es, ist für diesen jungen Dichter alles andere als ein Fremdwort, und die Erinnerungen an Krieg und Kriegsgeschrei begleiten Krolows Poesie bis heute hin wie eine dunkle Hadeslinie unter dem bisweilen auch ganz munter plätschernden Lebensstrom. Von den Schüssen der frühen Jahre hallen unheimlich noch die spätesten Gedichte und Erzählprosen wider. Das bedrohliche Blitzen von Messern, Dolchen und Bajonetten pflanzt sich als leitmotivischer Angstreflex bis in die astralen Höhen seines Metaphernhimmels fort. Trotzdem ist in der Literatur mit bloßem Ächzen und Geseufze natürlich kein Blumenkorb zu gewinnen, auch und besonders in der Naturlyrik nicht. Sie kann nur leben und blühen, wo sie uns belebt, durch die positive Beschwörung glückhafter Daseinszusammenhänge; aber wie die Angst bei Karl Krolow alles andere als ein angelesenes Leiden ist, hat auch das ihr trotzig entgegengesetzte Levitationsmotiv aufs erstaunlichste mit privater Biographie und praktischer Erfahrung zu tun. Setzen wir statt des etwas hochgestochenen Wortes „Levitation“ nur einmal die von Krolow bevorzugte „Erleichterung“ ein und statt ihrer schließlich die medizinisch nüchterne Diagnose „Untergewicht“, dann haben wir genau das passende Schlüsselwort zur Hand, das uns biographisch und poetologisch weiterhilft. Wie unzählige andere junge Menschen seiner Generation für ein normales Heldenleben und einen normalen Heldentod ausersehen, wurde Krolow im Jahre 1943 gemustert, vermessen, gewogen – und: für zu leicht befunden (88 Pfund wog der spindelige Kerl bei einer Körpergröße von 1 Meter 77), Grund genug für einen glücklichen Verschonten, seiner Fortuna noch viele Preislieder auf die Leichtgewichtigkeit zu singen.

Wen die Psychologie dabei stört, der kann sich die Zusammenhänge zwischen einer einmaligen Glückserfahrung und den bleibenden poetischen Einbildungen natürlich auch auf einer anderen Ebene zusammenreimen. Was wir gemeinhin „magisches Denken“ nennen, und worunter wir den Glauben an die Allmacht der Gedanken sowohl verstehen können wie das Vertrauen der Dichter in ihre Imaginationen, hängt mit dem atavistischen Bedürfnis der Primitivperson zusammen, ihr eigenes Schicksal zum Zeichen zu nehmen. Tritt wie in unserem Fall sogar noch ein überraschender Erfolg hinzu – das heißt, daß ein scheinbarer Makel, ein Minderwert, ein Untergewicht auf einmal existentielle Bedeutung bekommt −, ist des Wunderglaubens natürlich kein Ende und der Versuchung, den glückhaften Zauber zu wiederholen, virtuell keine Grenze gesetzt. Die Unermüdlichkeit, mit der unser Dichter nun seit einigen Jahrzehnten den Wert der Luftigkeit/Leichtigkeit preist und selbst deren mindere Schwestern, die Windigkeit, die Flüchtigkeit, die Verhuschtheit in sein Gebet mit einbezieht, scheint mir immerhin mit solchen fruchtbaren Obsessionen zu tun zu haben. Verbündete für magisches Beziehungsdenken lassen sich dabei allenthalben finden, vor allem in der erfindungsreichen Natur. Sie bringt knorrige Eichen hervor, gewiß, und unerschütterliches Felsgestein, angeblich ewig singende Wälder oder unergründliche Kraterseen. Aber daneben und darüber gibt es dann auch noch den flüchtigen Wind und die wandelhaften Wolken und das Glück eines rasch vorüberhuschenden Regenschauers, Luftgeister der Natur, mit denen man sich fast schon brüderlich besprechen kann.

Wie ein kurzer Regen, der verhuscht,
wie der Wind die Vogelhaube bauscht,
hat Vergänglichkeit mich hingetuscht,
bin ich selig an die Welt vertauscht.

Das ist nun wirklich der holdeste poetische Beziehungswahn, aber seltsam, weil das Wunder so glänzend in Szene gesetzt ist, empfinden wir es als vollkommen wahr. Trotzdem muß unserm Dichter solches lyrische Vergleichs- und Übertragungswesen („Wie ein kurzer Regen“, „wie der Wind die Vogelhaube bauscht“) eines Tages als eine etwas beliebige Kunst erschienen sein und auch der Reim als läßliche Balancierstange. Wer bei sich selber bleiben will in Merlins Zauberreich, der muß sich wandeln. Wer sich verwandeln will, dem scheint auch der poetische Vergleich bald nur als öde Wiederkehr des Immergleichen. Wer in den Jungbrunnen will, der muß wortwörtlich zu Grunde gehen, egal, wohin es ihn treibt, aber daß es ihn treibt, ist paradoxerweise die einzige Garantie für sein Überdauern und Vorsicht gerade die Stiefmutter der lyrischen Porzellankiste.

Gänzlich unvorbereitet lassen sich die Metamorphosen der Dichter ohnehin nicht an. Das heißt, wohin sie sich wenden, hängt meist mit in der Stille verfolgten Nebenbeschäftigungen und scheinbar unscheinbaren Liebhabereien zusammen. So hatte sich Krolow in den Jahren 1956 bis 1959 nochmals ausgiebig mit der französischen und spanischen Moderne auseinandergesetzt – er hatte Guillén, Alberti, Apollinaire, Michaux, Valéry, Éluard und García Lorca übertragen, was mit magischem Einverleibungswesen schon eine Menge zu tun hat – und, wie sollen wir sagen, nein, sagen wir es lieber mit den Worten des Poeten:

Ich holte nach, wie andere etwas nachholen, schnell, manchmal hastig, aber ungeheuer intensiv: Den Surrealismus in seinen Ausprägungen und Verwandlungen.

Ob dieser Sprung, dieser Raum und Zeit überfliegende Mutsprung aus dem Bauerngarten der deutschen Naturpoesie in die mittlerweile schon ziemlich leergefegte Arena des internationalen Surrealismus seiner Veränderungslust wirklich gut tat, ich weiß es nicht so recht. Im Jahre seines Erscheinens, 1959, sah mich der neue Gedichtband Fremde Körper jedenfalls wie ein ziemlicher Fremdkörper seinerseits an. Von der alten Behendigkeit und Lebendigkeit keine Spur mehr und statt zaubrisch murmelnder Reime „verhuscht“ – „bauscht“ – „hingetuscht“ – „vertauscht“) nur noch die metaphorische Beliebigkeit endzeitlicher Schwarzmalerei: „schwarze Tulpen“, „schwarze Vögel“, „schwarze Bräute“, „schwarze Handschuhe“, „schwarze Standbilder“. Um so positiver elektrisierte es mich dann freilich, als ich drei Jahre später Krolows neuen Gedichtband Unsichtbare Hände zu Gesicht bekam, und – o Wunder des dichterischen Gestaltenwandels von ihm aus gesehen, entpuppten sich die Fremden Körper plötzlich als die larvenhafte Vorform einer erst jetzt ans Licht getretenen Imago.

Insektenkunde hin, Surrealismus her, was die Unsichtbaren Hände an gewöhnlichem surrealistischen Alltagsleben vor uns ausbreiteten, war nun wirklich erstaunlich. Eine unscheinbare ländliche Nebelszene zum Beispiel, „eine Landschaft mit verbundenen Augen“, wie in jeder Hinsicht zaubrisch vertauschten sich hier doch die Eigenschaften von Subjekt und Objekt und wie geheimnisvoll begegneten sich Wahrnehmungsorgan und Wahrgenommenes im gemeinsamen Blindekuhspiel. Beziehungsweise „Sprich Blumen als Fensterglas“, wie persönlich behauchte sich da ein Objektträger zum sprechenden Medium. Mit den öden Beliebigkeiten des literarischen Surrealismus verglichen (nach Lautréamont „das zufällige Zusammentreffen eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“) tat sich dieser neue Karl Krolow ja fast wie ein einsamer Hochspannungsmast in der Landschaft hervor, bestechend durch die Ökonomie seiner Mittel, gewinnend durch kluge Zurücknahmen, betörend durch seine assoziative Treffsicherheit. Während sich seine Vorgänger gar nicht genug tun konnten im Zusammenkegeln disparater Sonderbarkeiten, begnügte sich Krolow damit, uns den sanften Wahnsinn im Gewöhnlichen zu beweisen und die Wunder der Welt an den fünf Fingern einer Hand herzuzählen.

PORTRÄT EINER HAND

Fünf Nägelmonde, die aufgehen
über dem Himmel
der rechten Hand: −

Sie hält eine schwarze Haarsträhne,
eine Blume ohne Alter,
ein namenloses Lichtbild.

Die Geschichte des Ringfingers
ist nicht die Geschicht
des Zeigefingers.

Diese Hand griff zu.
Sie schlief den Schlaf
ihrer fünf Monde
in einer anderen Hand.

Wie offen der Spielraum Ihrer Vorstellungskräfte dabei bleibt, werden Sie vielleicht an Ihren eigenen Reaktionen beobachtet haben. Haben Sie nicht auch erstaunt, erschreckt und möglicherweise entsetzt Ihre eigenen Finger betrachtet, wobei ja allein der Gedanke an den Finger am Pistolenabzug das traute Miteins seiner scheinbaren Harmlosigkeit entkleidet. Trotzdem macht die nackte Entzauberung ein Gedicht natürlich noch nicht rund und schön und zieht auch keinen neuen Himmel vor uns auf. Was das jäh zum Bewußtsein erwachte Auge auseinandersieht, die gewölbte Himmelsschale mit ihren fünf Nägelmonden, schließt sich am guten Ende zum einverständnisvollen Hand-in-Hand von zwei Verliebten, was einmal mehr beweist, daß poetischer Gleichniszauber oft der reine Liebeszauber ist.

Leider können wir unser bißchen Zeit hier nicht weiter mit solchen interpretatorischen Handlesekünsten verbringen. Wir müssen fort, voran, neuen Gedichtbüchern, neuen Verwandlungen, neuen Imagines zu, auch auf die Gefahr hin, daß wir die folgenden Falter nur noch lieblos an die Pinnwand heften können. Um Ihr historisches Zeitgefühl dabei nicht ganz aus dem Gleichtakt kommen zu lassen, muß ich allerdings anmerken, daß es nun um den uns nähergelegenen und mir persönlich besonders nahestehenden Abschnitt zwischen den Jahren 1966 und 1970 geht. Das ist immerhin ein brisanter und von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Fluoreszenzerscheinungen erleuchtet gewesener Zeitraum. Was alles haben wir in diesen von hoch- und höchstgespannten Veränderungswünschen geprägten Jahren nicht getrieben. Wir warfen uns gegen den restaurativen Obrigkeitsstaat auf mit einem richtigen Titanenzorn und erklärten die Straßen und die Marktplätze zu unserem Forum. Wir fochten das alte Ordinarienwesen an und forderten mit der Formaldemokratie, der Formalgerichtsbarkeit und der Formalpädagogik auch den Formalismus in den Künsten in die Schranken. Wir vertauschten unsere Stubenhockerperspektive mit dem freien Blick auf utopische Höhen und Weiten und schritten aus und marschierten ein und stiefelten mitleidslos über unser eigenes altes Seelenleben weg, unsere geliebten Maroditäten, unser zart besaitetes Innere, unsere kompliziert verwundenen Nervenfäden, und was hat nun wieder gezielt auf ihn zurückzuführen – unser Karl Krolow eigentlich die ganze Zeit getrieben? Er ist spazierengegangen. Er hat seine Runden gedreht, immer hübsch im Zirkel seines Rosengeheges und an den wechselnden Jahreszeiten entlang, hier einen Augenblick in flagranti erhaschend, dort einen Landschaftsausschnitt in die Totale treibend, und was herausgekommen ist bei diesem scheinbar weltabgewandten Einmannsbetrieb, sind immerhin drei lichterfüllte und diesseitig positive Lyrikbändchen, die Landschaften für mich von 1966, die Alltäglichen Gedichte (1968) und Nichts weiter als Leben von 1972.

Damit will ich nun nicht die eine Biographie gegen die andere ausspielen, dafür sind mir Krolows lyrische Erträge viel zu lieb und die eigenen Erinnerungen zu teuer. Nur zart mit Buntstift unterstreichen, daß der erklärte Respektlosigkeitszug des Zeitalters und sein spontihafter Augenblickskult sich auch in Krolows neuen Gedichten wiederfinden. Fliegenden Wesens, gewiß, das war er eigentlich immer gewesen. Und es ist auch keineswegs so, daß die ihn ständig begleitenden Hadesschatten sich mit der Zeit verflüchtigt hätten; zu nahe wohnen bei diesem peripathetischen Geist die Lust am schnellen Durchgang und die Angst vorm schnellen Vergehen. Trotzdem scheint sich in seinen Versen jetzt etwas zu lichten und mit Lokalfarbe anzureichern, was in seinen kubistischen Jahren schon einmal zur nature morte zu erstarren drohte. Grün, grün, grün, grün sind alle seine neuen Kleider. Grün ist der Atem, grün der Schatten, grün sind selbst noch die Worte, die Silben, es macht fast den Eindruck, als ob ein großes Kind zuviel vom antiautoritären Zeitgeist genossen hätte oder als ob es die vielzitierte Narrenhand wäre, die hier Tisch, Wand und Welt beschmierte. „Aufplatzendes Laub“, „Frühling im großen und ganzen“, „Glückliche Fahrt“, „Glückslinie“, „Jubel“, das sind nur einige charakteristische Titel dieses poetischen Zwischenhochs, wobei die leuchtenden Farben alla stagione bedeutungsvoll mit dem Zeitkolorit korrespondieren.

FASSLICH

das ist faßlich −
auf Kleidern entstehen
Blumen,
auf der bloßen Haut
Schatten von blühenden
Beeten im Vorübergehen.
Das Licht ist faßlich,
die Luft am Gesicht.
Oben ein standfester Himmel
kommt hinzu,
fraglos, mit Gefühl
für die Landschaft unter ihm,
die grün wird
bis in die Bartstoppeln
der Tagediebe.

Ein Stück so richtig nach der Jahreszeit, meine Damen und Herren, und eigentlich genau der passende Farbfleck, um unsere sommerliche Soiree in Wohlgefallen aufzulösen, nur daß wir über einen dunkelheiklen Punkt im Leben des Laudaten leider noch hinwegmüssen. Er findet sich dort, wo der uns lieb und immer lieber gewordene Rosenkavalier sich eines zweifelhaften Tages in ein liederliches Subjekt namens Karol Kröpcke verwandelte. Die 1970 unter Pseudonym und ausnahmsweise im Merlin-Verlag veröffentlichten Bürgerlichen Gedichte schienen nämlich alles andere als dies, Ausdruck einer neuen Biederlichkeit zum Beispiel oder Zeugnisse eines wiedergewonnenen Vertrauens in die alten Maßhaltetugenden. Lese ich ihre unverschämte Körpersprache recht – Darstellungen von Geschlechtsakten als lieblose Nummern und das Auf und Ab und Rein und Raus von teilnahmslosen Körperteilen als mechanische Repetition −, scheinen sie eher deren drastisch herausgekehrtes Gegenteil. Statt Bürgeranstand, Ordnungssinn und positivem Leistungsstreben begegnet uns deren böswillige Karikatur zum angestrengten Wiederholungszwang. Statt mit der guten alten Liebe bekommen wir es mit deren entleerter Handelsform, ihrer kondomhaften Larve, dem Sex zu tun. Versuchen wir noch etwas tiefer in die Verse hineinzusehen (d.h. sie nicht einfach als Fauxpas abzutun), dann erkennen wir hinter dem Bocksfuß allerdings den gezielten Fußtritt, der nicht nur dem bürgerlichen Leben und Lieben im allgemeinen, sondern dem eigenen, mehr und mehr im Leerlauf sich verlierenden Curriculum gilt. In der pornographischen Verzerrung enthüllt besinnungsloses Weitermachen sich als seelenlos betriebskonformes Gerammel, was mit frivolem Amüsement dann schon gar nichts mehr, mit dem von Freud so benannten „Unbehagen in der Kultur“ aber eine ganze Menge zu tun hat.

Da die Bürgerlichen Gedichte uns keinerlei utopischen Durchblick bieten – und sie sind ja auch sprachlich nicht aus jenem Stoff wie dem zum Träumen −, halte ich sie letztlich für unerlöste Puppen und insofern den erwähnten Fremden Körpern nicht einmal so unverwandt. Auch poetologisch rechtfertigt sich die schmerzliche Prozedur erst im nachhinein. Unzimperlich mit sich selbst und ungeachtet jener bürgerlichen Reputationsausweise, wie sie Preiskrönungen, Ehrendoktorate und Akademiemitgliedschaften bedeuten können, reinigt der Autor seine kleine Bühne von den Bildern, Masken und Metaphern der Vergangenheit: ein Purgatorium, dessen geheime Gründe wieder einmal in jenem Leiden an der Gewöhnung zu suchen sind, das bei Krolow der Verwandlung vorangeht.

Erst nach dem symbolischen Gewaltakt, erst nach der zwangsweisen Aufhebung seines lyrischen alter ego, kann der Poet mit einer neuen unverstellten Stimme zu sich selber sprechen. Überhaupt erst richtig von sich sprechen, was er bisher mit auffälliger Verhaltenheit vermied: von den Beschwerden des Alters, der Hinfälligkeit des Leibes, der entschwindenden Lebenszeit, der Unlust an der Wiederholung, Lust, ganz unvermittelt in Tränen auszubrechen, und, seltsam, diese neue leise furchtlose Stimme scheint mir seine eindrucksvollste. Von hier aus gesehen, muten uns die kunstreichen Reime seiner Jugendjahre fast nur noch wie tönende Relikte aus alter Väter Zeiten an. Aber auch in den überzogenen Vergleichen und Überraschungsmetaphern seiner mittleren Periode war ein Ich ja eigentlich nur vergleichsweise anwesend gewesen. Jetzt tritt es aus sich heraus, der eigenen Stimme folgend, den eigenen Seufzern nachlauschend, den eigenen Ressentiments vertrauend, trotzdem nie larmoyant und noch den schmerzlichsten Befund mit Ironie begleitend: der von Gedicht zu Gedicht neu gewagte Versuch, sich unaufwendig in Verse zu fassen und durch subjektive Wahrhaftigkeit für sich einzunehmen.

SUBJEKTIV II

Streichholz und Blitz −

ich reime mir das zusammen.
Ein Wort gibt das andere.
Aus Fleisch, Käse, Aquavit
wird ein Abendessen
ein Beilager aus
einem Mädchenfoto.
Ich entscheide mich für nichts,
nehme schöne Tage persönlich.
Die Biegung der Eigenschaftswörter
gefällt mir.
Rotwein und Bleistift
lassen sich zu Wort kommen
bis zum Ende vom Lied.

Als Schlußwort können wir das so natürlich nicht gelten lassen, lieber Karl Krolow, und wie sollten wir auch. Immerhin haben wir von einem reich gestuft/gestaffelten Leben nur erst einige markante Segmente betrachtet, Schachtelhalmabschnitte, abgelegte Schlangenhäute, von Ihnen so benannte „Hinterlassenschaften“, aber was heißt in Ihren Zusammenhängen eigentlich „hinterlassen“, Sie kommen doch in jeder neuen Gestalt wieder bei sich selber an. Wie ein wahrhaftiger Picasso der Poesie sind Sie von Periode zu Periode, von Verwandlung zu Verwandlung, von Phase zu Phase tiefer nach vorn gedrungen, immer weiter auf ein utopisches Wesen zu, das Wiederholung in der Veränderung heißt. Denn auch nach diesen ein bißchen flüchtig von uns gestreiften Gedichten Ihrer späten fünfziger und unser aller siebziger Jahre haben Sie sich ja noch viele Male selbst umrundet, selbst umrandet, mit diesem unvergleichlich sicheren Kreidestrich. Und als ob dem noch nicht genug gewesen wäre, haben Sie sich in Ihrem siebten Lebensjahrzehnt noch einmal völlig überraschend in Prosa gefaßt – Prosen so leicht im Ansatz und zügig im Duktus wie von einem Jüngling aufs Papier geworfen −, und dann sind Sie in zweiter, dritter, vierter Unschuld sogar noch einmal neu auf den Reim zugestoßen, als ließen sich heute noch Lieder singen. Unter uns, Karl Krolow, sie lassen sich auch. Lassen sich singen und trällern, wenn man sie auf die Zunge nimmt wie Sie und der Volksmund, leichthin, unangestrengt, gewichtlos, und sie im Zweifelsfall dann einfach ihr Bewenden finden läßt als „zersungene Lieder“.

Das schreibt sich ins Reine.
Hör zu: es ist nichts.
Nur eine ganz kleine
Sache geringen Gewichts.

Ein Lied und nichts als ein Lied
wie bekannt, über dies und das,
wenn es zwischen Türen zieht
und du denkst dir nichts oder was.

Daß es nun gerade der Zugwind ist, der an dieser Stelle den Rausschmeißer für uns macht, ist natürlich der reinste Zufall, lieber Karl Krolow, und trotzdem wieder kein Zufall, Sie kennen ja Ihre Dämonen. Gehören sie zu den weniger stabilen Elementargeistern, so können sie doch jederzeit und durch den schmalsten Türspalt bei uns eindringen. Sind sie vorüberwehenden Wesens, flüchtig, behende, sprunghaft, an den Augenblick gebunden, so, auf den gesamten Lauf der Welt gesehen, doch auch wieder ständige Begleiter. In der Erscheinungen Flucht etwas Dauerndes und Bleibendes. Genau das scheinen mir Ihre Gedichte.

Peter Rühmkorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.10.1988

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge.
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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