STELE FÜR CATULL
Tot in toter Sprache: −
unbeweglich
im schwarzen Zimmer Roms
perdita juventus.
Doch der Vogelflug der Worte
fällt immer wieder
aus vollem Himmel.
Ihre hellen Körper
bewegen sich in unserer Luft.
Wir legen sie ins Grab dir,
in dem du ganz allein bist
mit dem toten Sperling −
Catull, von leichten Buchstaben
der Liebe geschützt,
vom Alter jener Augen,
die sich nicht mehr schließen.
Passer mortuus est
meae puellae.
Ein Flüstern noch
in Pappeln.
ist Lyriker par excellence. Wie nur wenige Zeitgenossen hat er sich ausschließlich des lyrischen Mediums bedient: sein Werk wächst folgerichtig und organisch von Gedichtbuch zu Gedichtbuch. Die beiden Teile des neuen Buches verhalten sich zueinander wie die Schalen einer Waage; sie entsprechen den Modi der lyrischen Aussageweise Krolows. Die Gedichte der ,Landschaft nach dem Augenmaß‘ schreiten den Tages- und Jahreskreis des natürlichen Daseins ab, „Gefühle der Landschaft“ werden wahrgenommen und protokolliert. – Die zweite Suite des neuen Buches ,Für einen Augenblick‘ zeigt den Menschen in dieser Landschaft, sie bringt Gedichte, die „für einen Augenblick“ im Vertrauten das Fremde, hinter der Fassade den Abgrund sichtbar machen und im Unwirklichen das Wirkliche erspüren.
Wieder fasziniert an diesen Gedichten der thematische Reichtum, die sprachliche und formale Kraft, eine ironische Grazie und eine höchste Sensibilität des Beobachens und Erfahrens. Sie schließen dem Leser Räume auf, Räume unserer Zeit, Augenblicke und Tage in Deutschland, die wohl nur durch den Schlüssel des Gedichts zu öffnen und zu betreten sind.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1962
Schon die Untertitel von Karl Krolows kürzlich erschienenem Gedichtband Unsichtbare Hände legen dem Leser nahe, seine Optik aufs Knappbemessene und Kurzgefaßte einzustellen: „Landschaft nach dem Augenmaß“, so heißt es zuerst und dann: „Für einen Augenblick“. Diese sanft programmatischen Parolen, rückbezogen auf die Verheißung des Buchtitels selbst, lassen dann allerdings vermuten, daß es der Autor bei der Fixierung von Ausschnitt und Einzelheit hier nicht bewenden lassen will. Man ahnt, daß das durch Augenblick und Augenmaß Beschlossene, die kurze Frist, der überschaubare Ort hier nur den Ausschnitt repräsentieren, wo das Geheimnis, das Unsichtbare, gefaßt, zutage tritt.
Das führt von Programm und Vorsatz her durchaus folgerichtig einen Weg fort, dessen Beginn bereits bei Krolows naturlyrischen Anfängen lag. Allein, wenn man ihm früher oft den Vorwurf nicht ersparen konnte, daß die freiwillige Bescheidung in die Enge des Vorgartens und der Anspruch, im Blumenstück die Dämonen zu beschwören, nicht immer gerade zu überzeugenden Lösungen fand, so scheinen der Austausch zwischen den Bereichen und die Beziehung eines Vordergrundes auf seinen Hinterhalt in diesem Bande vollkommen geglückt. Die Verse haben es von vornherein auch garnicht so sehr darauf angelegt, uns das große Gruseln zu lehren als das sanfte Entsetzen. Und wo nicht dies, so doch das frische Erstaunen vor allem, was für bekannt und gewöhnlich gilt. Da ist gemeinhin von alltäglichen Begebenheiten die Rede, von vertrauten Dingen, geläufigen Vorgängen, aber ein zarter Wahnsinn wohnt noch, im Allergewöhnlichsten, und unweit dem Vertrauten liegt meist Geheimnis auf der Lauer:
Hinter meiner Zunge
lauert eine fremde Stimme.
Die wird sich bald
für meine eigene ausgeben
und mir einen guten Abend
wünschen.
Auf das Selbstverständliche also hat Krolow es abgesehen, das Augenscheinliche, das keiner Frage mehr Gewürdigte. Und weil hier einer sich noch verwundern kann wie von Anfang an, weil er den Kinder-, den Kasper-, den Sesamblick besitzt, kommen ihm Antworten auf nie gestellte Fragen. Fallen ihm Antworten bei von hintergründiger Einfalt, Antworten, die wiederum Fragen im Gepäck tragen und den Leser ins basse Verdutzen setzen. In diesem Sinne mag es einen zunächst eine Banalität dünken, wenn da steht: „Die Geschichte des Ringfingers / ist nicht die Geschichte / des Zeigefingers“, und doch vermag allein der Gedanke an den Finger am Abzug die schlichte Feststellung ihrer scheinbaren Harmlosigkeit zu entreißen. Das Auf-der-Hand-Liegende, so spüren wir, ist das eigentlich Bedenkliche, und wo wir, fraglos, trauliches Einvernehmen voraussetzen, herrscht oft das wüsteste Beieinander.
Man hat gelegentlich bemerkt, Krolow habe vom Surrealismus gelernt. Er hat. Auch, wie man es tunlichst nicht machen soll. Das heißt, daß ihm wenig daran liegt, das Ungleiche nach jeder Willkür zu verkuppeln und Disparates unvermittelt zusammenzupferchen, aber: für die Surrealismen des Alltags hat er das Auge, und für das „Phantastische, wo es sich ganz natürlich“ ergibt. So ist es denn durchaus „natürlich“ und gleichwohl von reizvoller Irrealität, wenn es zum Beispiel in einem Wintergedicht heißt: „Sprich Blumen ans Fensterglas“ und, in einem Nebelgedicht: „eine Landschaft mit verbundenen Augen“; so ist es gleichermaßen grotesk und wahrscheinlich, monströs und möglich in einem, wenn uns ein Zeitgedicht die Gegenwart des Scharfrichters über den Hinweis auf seine Hühner suggeriert:
Die Hühner des Scharfrichters
nehmen weiter ihr Bad
im farblosen Sand.
Diese Gedichte geben zu bedenken. In jenem besonderen Sinne als sie Bedenken anmelden, wo Fraglosigkeit herrscht, und ihre Leser das Nichtgeheure erwarten heißen am gewöhnlichen Ort. Vom fragwürdigen Augenblick initiiert, münden sie häufig gegen Schluß in Konklusionen ein, Warnungen, Anrufe, Erwägungen und Appelle; zeigen sie Bilder zu Exerzitien entwickelt. „Merke dir unterwegs alles“, so rät der Schlußvers des bereits erwähnten Winterpoems, denn: „zwischen Hinweg und Rückkehr / wird Schnee fallen“, und wo uns das Stilleben von des Scharfrichters Hühnern gemalt wurde, lautet der Ausklang:
Im Brief schreibe ich manchmal
daß mein Kopf Bescheid weiß
und höflich nickt.
Peter Rühmkorf, Neue Rundschau, Heft 1, 1963
Dem, der manchmal über neue Poesie redet, ist es geläufig, das Krolow-Gespräch:
Schon den Gedichtband von Krolow angeschaut? – Welchen? – Na ja, den allerneuesten. Schreibt mir ein bißchen zuviel und zu leicht. – Kein Wunder, er lebt ja davon. – Wenn er nur nicht soviel Talent hätte (…) – Eben; doch auch das nutzt sich ab.
Die Angelegenheit ist vertrackt. Gelesen haben die beiden anscheinend das neue Buch von Krolow nicht, doch mit ihrer Meinung sind sie rasch zuhande. Und solchermaßen brabbelt man kritisch schon seit Jahren, ein Vorurteil pflegend, das selbst honorige Kritiker bei der Lektüre hindert.
Neun Gedichtsammlungen hat Krolow zwischen 1943 und heute veröffentlicht, und wer zumindest fünf davon kennt, wird erstaunt sein über das Maß an geduldigem und ungemein behutsamen Fortschritt, das sich, Gedicht nach Gedicht, abzeichnet. Er sieht die Variationsbreite, die Beweglichkeit in der Aneignung, die vibrierende Musikalität. Schwer lassen sich die breitzeiligen, bitteren Oden (nachzulesen in Die Zeichen der Welt, 1952) aus der Erinnerung vertreiben; auch die Liebesgedichte nicht, die er damals schrieb: Wo die Mutlosigkeit sich unterm Morgenlicht krümmt und seufzend verendet. Man applaudiert ihm als freundlichem Naturschilderer, als einem soignierten Pansflötisten, und überhört die gelegentliche Schärfe des Tonfalls, seine Traurigkeit und seine Ironie. Zwar haben nicht wenige seiner Gedichte den Anschein von Gefälligkeit, von kunstvoller Glätte, doch oft zuckt man, noch verführt vom Wohlklang, unter einer herben, genau eingesetzten Metapher zusammen, die sich dem Zartsinn widersetzt. Er liebt es, die Wörter leicht zu machen, „zierlich“, was eine seiner Lieblingsvokabeln ist. Und seine Hausgeister – Scarlatti, Pergolesi, Catull, Alberti und Cocteau – haben ihm das köstlich vorgeführt. Der süße Pergolesi-Ton – wohl hängt er ihm nach; den galligen Nachgeschmack hat er freilich auch auf der Zunge.
Lange hat ihn der Reim gelockt; er bot sich ihm an als musizierender, bisweilen doppelsinniger und verdeckender Verbinder. In seiner neuesten Sammlung, den Unsichtbaren Händen, (und schon in den beiden Bänden vorher) hat er ihn aufgegeben. Er hat die gehauchte Sprödigkeit entdeckt, das Gelispel, kurz vorm Verstummen. Die Korrespondenz mit Gedichten einiger Spanier, die Krolow übersetzt hat, ist den Zeilen anzumerken: ein einprägsamer, ebenso lakonischer wie tänzerischer Rhythmus führt die Sätze. Es sind transparente Bilder, die auf Antworten warten. Die Antworten können ausbleiben, doch sie können auch, widerrufend oder fortführend, gegeben werden. Krolow spielt, um neue und ungewöhnliche Metaphern nie verlegen, auch mit den Regeln der Surrealisten. Dabei unterlaufen ihm, selten, Bildverbindungen, die komisch sind („Unter offenen Hemden / niemals soviel Himmel! / Himmel wie der Brustkorb / eines Mannes“), andererseits schafft er vielen seiner Gedichte gerade durch die Verwendung derartigen Materials einen Spielraum, der von Echos durchtönt ist und den imaginäre Gestaltenzüge durchwandern.
Die Vögel sind seine Freunde; ihnen traut er verwandelnde Macht zu, ihrem immer gleichen Lied. Er belustigt sich an ihren Gaunereien: Galgenvögel sind sie für ihn alle ein wenig. Auffallender noch ist seine Sympathie fürs Wasser: Ich habe nur wenige Gedichte in dem neuen Band gefunden, in dem es nicht fließt, nicht gurgelt oder strömt, in dem nicht Flüsse, Seen oder das Meer Kulisse bildeten, mehr als Kulisse – sie werden zum tragenden Element seiner Gedanken, seiner Imagination. Verschwistert ist das Wasser der Luft, die leicht und zärtlich ist.
Selbst den Dingen ist bei Krolow Sensibilität eingegeben: „empfindliche Netze“, „weibliche Straße“; da stellt sich eine Art von Ding-Neurasthenie ein, die den Leser erschaudern macht: Er sieht sich umstellt von zusammenzuckenden Gegenständen, die sich unterm Angriff aufzulösen vermögen. Krolows Gedichte sind geredet, mit leiser, fester Stimme; sie wünschen zu überreden, und es gelingt ihnen, indem sie ohne jeglichen Zierat Wirklichkeiten bauen:
Sprich Blumen ans Fensterglas:
es ist draußen Winter.
Die Gefühle der Landschaft
heißen Langmut
mit erfrorenen Flüssen.
Krolow hätte nicht die Erfahrung, triebe er nicht auch die einfache Rede an ihre Grenze: Dort glänzt sie dann in schlanker und launischer Preziosität. Ich habe ein Faible für diese glitzernden Perlen aus der Gablonzer Ecke seines Repertoires. Unnachahmlich errichtet er seine „Stele für Domenico Scarlatti“:
Ein Hut in der Luft
ist ein Vogel,
der seinen Namen sucht
oder die Verbeugung des Leichtsinns
vor allen, die auf Erden
ohne Klavier zurückblieben.
Zierlich? Und ob. Leicht? Kaum zu wiegen. Es gelingt ihm, so zu schreiben, wie Fragonard malte. Aber zwischen dem Rokoko und seinen Versen liegen die furchtbaren Schattenfelder der verflossenen Zeit. Vor denen flieht er nicht. Trocken und sarkastisch schlägt er den kritischen Ton an, ohne den seine Poesie nicht denkbar ist. „Tag in Deutschland“ überschreibt er drei Strophen:
Tag mit blauen Fingernägeln,
mit deutschen Augen, nichts
für Freunde von Logarithmen.
Am Brunnen wird das Blattgrün
gewaschen, bis es weiß ist:
Staub von Gefühl, mit dem sich
schreiben läßt, zum Beispiel:
gotisch oder mit Gewehren.
Am Tisch der Wein:
er macht die Trinker schwarz.
Sie fallen mit ihren Seelen
durch die offene Nacht.
Wer will, mag die zwei Krolows auseinanderhalten; sie verdienen es, als einer angesehen zu werden. Sie widerlegen, gemeinsam, in virtuoser Beharrlichkeit das oben notierte Krolow-Gespräch.
Peter Härtling, Die Zeit, 12.10.1962
Günter Grack: Karl Krolow, Unsichtbare Hände
Die Bücherkommentare, 15.9.1962
Hans-Jürgen Heise: Karl Krolows kubistische Poesie
Deutsche Zeitung, 1./2.12.1962
Curt Hohoff: Gedichte in dieser Zeit. Sammelrezension
Süddeutsche Zeitung, 13.4.1963
Eberhard Horst: Krolows neunter Gedichtband
Rheinische Post, 13.7.1963
Heinz Piontek: Fahrt ins Innere der Augenblicke
Neue Zürcher Zeitung, 16.10.1962
Heinz Piontek: Nach dem Surrealismus
Zeitwende, Heft 11, 1963
Peter Rühmkorf: Bedenken anmelden
Behain-Blätter, Heft 3, 1963
Fritz Joachim Sauer: Täuschungen und Erfüllungen im Gedicht
Der Tagesspiegel, 28.7.1963
Werner Vordtriede: Karl Krolow, Unsichtbare Hände
Neue Deutsche Hefte, Heft 92, 1963
Anonym: Poems in a Vacuum
The Times Literary Supplement, 3.5.1963
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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