Karl Krolow: Zeitvergehen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Zeitvergehen

Krolow-Zeitvergehen

BEDAUERN

Ich hebe mir das
für später auf −
eine Handbewegung.
Alles läuft weiter,
möblierte Einsamkeit,
Wäschewechsel, ein Augenbad.
Die schönsten Körper sind hin −
eine Handbewegung,
alles läuft weiter.
Andere Leute versuchen schon
mit mir ihr Glück,
das ich ihnen
schuldig bleibe.
Ich hebe mir das auf
für später.
Wenn es zu spät ist,
bleibt immer noch Zeit
zum Bedauern,
eine Handbewegung,
alles läuft weiter

 

 

 

Rückkehr zur Wirklichkeit

(…)

„Ich weiß, das hat / keinen Gebrauchswert — / für sich sein“, notiert Karl Krolow ironisch in seinem neuen Band Zeitvergehen und deutet damit an, mit welchen Erwartungen Äußerungen von Subjektivität derzeit belastet werden. Krolow zeigt den Mut, der zu solcher Äußerung gehört, im Bewußtsein, damit nicht mehr ganz allein zu stehen. Für Änderungen des Zeitgeists besaß Krolow von jeher Gespür. Die Titel der voraufgegangenen Bände (Alltägliche Gedichte und Nichts weiter als Leben) demonstrierten bereits die neue Zuwendung zur Realität. Sie setzt Zeitvergehen fort nach der Devise „man gibt das Schreiben nicht auf / angesichts komplizierter Belohnung“. Eine Reihe programmatischer Äußerungen markiert das weiter versachlichte Verständnis von Welt und Gedicht; z.B. „Ich lasse den Gegenständen ihre Namen“, „Ich entscheide mich für nichts, / nehme schöne Tage persönlich“. Bemerkenswert vor allem, daß Krolow die Ordnungsbegriffe seiner surrealphantastischen Phase nun positivistisch wendet. „Die rationale Proportion setzt sich durch“, heißt es, oder „Ordnung herrscht gern / nach verschiedener Weise“ — was sich mit Meisters Wendung berührt: „Pünktlich gehts zu / im Raum“. Man ergänze — aus dem Mund eines Lyrikers! —: „Ich weiß, daß Physik wahr ist“, um zu begreifen, daß dieser Realismus nach traditionellen Begriffen einer Kapitulation der Poesie gleichkommt. Die Metapher verliert ihre Evidenz:

Die Bilder lösen sich auf als Erklärungen.

Aber, wie immer, ist das Programm noch nicht Realisation. Man darf sich von Krolows lyrischen Selbstdeutungen nicht zu sehr verführen lassen. Die eigentümliche Faszination dieser Gedichte ist in solchen Reduktionen nur größer geworden. Poesie erscheint als Minimum in der trockenen Grazie der Behauptungen, in bewußt eingesetzten Unbestimmtheiten, in der Stereotypie der Beobachtungen und Aussagen. Das Geheimnis scheint in der Entlastung zu liegen: wie das Gedicht sich erleichtert, so auch der Leser; indem es keine Ansprüche an die Realität stellt, wird diese sichtbarer:

Die Seele der Worte
spielt keine Rolle mehr.
Darum bleibt es draußen
so schön.

Nach einer langen Laufbahn als Lyriker scheint Krolow aus dem Sprachinnenraum herauszutreten. Die lange trainierte Sensibilität läßt sich nicht verleugnen, sie verleiht auch den Verfremdungen eine Aura von Bedeutung und Geheimnis. Man lese etwa den Schluß einer Liebesszene:

Sie hing vom Bett herab.
Eine große, geöffnete Melone
statt Sprache, die Adern
am Unterschenkel,
die Kurve des Rückens.
Sonst nichts.

Was sind Bedürfnisse?
Ein vorüberziehendes
Band von Stille.
Hautflächen leuchten.
Er ging aus dem Zimmer,
sah sich im Dunkel um.
Absolut nichts.

Die sprachlose Faktizität bedarf der Sprache, um zu erscheinen. Metaphorik erscheint nebenher, nicht um ein Beziehungsgeflecht zu schaffen, sondern um das eine Faktum durch ein anderes zu ersetzen; die Melone steht „statt Sprache“. Sprache kommt gegen die Fakten nicht auf; eine Frage erhält keine Antwort oder nur scheinbar. Anstelle der Antwort erscheint „ein vorüberziehendes / Band von Stille“. Die Dinge scheinen ohne Bedeutung, ohne Tiefe. Damit hat das erlebende Ich sich nicht wirklich abgefunden; indem es konstatiert, daß „nichts“, sogar „absolut nichts“ außerdem vorhanden ist, evoziert es das Geheimnis, den Widerschein der Dinge: „Hautflächen leuchten“ — sie sind absolut, scheinen ihr Licht aus sich selbst zu haben. Der Mensch sieht sich um, um sich zu vergewissern, daß da nichts ist als die Phänomene selbst. Krolows Realismus nähert sich hier Wirkungen, wie sie die Lyrik Gustafssons auszeichnet, der Magie geheimnisloser Dinge. Realismus kann in eine kalte, sachliche Phantastik umschlagen. Bemerkenswert ist, daß Krolow solche Möglichkeiten nicht weiterführt und zur Methode erhebt, sondern sich mit momentanen Irritationen und Verfremdungen alltäglicher Realität begnügt. Der Übergang in Phantastik reizt nicht mehr, ein Indiz dafür, daß wirkliche Desillusionierung stattgefunden hat. Sie macht vor der Tätigkeit des Schreibens nicht Halt. Manche Texte sind Notate des ennui. Indem sich der Schreibende dem Automatismus der Wahrnehmungen, der Geläufigkeit seiner Technik überläßt und sich so gegen jede eigene Tätigkeit wendet, kommt er zu Aufzeichnungen, an denen fast einzig noch bemerkenswert ist, daß sie überhaupt gemacht wurden. Ihr Sinn ist nur noch „sich wieder (zu) erleben / in Kleinigkeiten ohne Perspektive“. Es sind Fingerübungen jemandes, der gesagt hat, was zu sagen war: „Schwäche, Schwäche — mache ein schnelles Geschenk daraus.“ Rilkes Pathos des Dinge-Machens aus Angst hat sich verflüchtigt zur Marotte, „erschöpfte Sprache zum Vergnügen (zu) gebrauchen“. Es ist leicht, solche Tätigkeit als privatistisch oder als Leerlauf eines Talents zu denunzieren; der Autor liefert alle diese Argumente selbst. Solche Kritik verstellt den Blick auf das, was in den Texten gerade im Nachlassen kompositorischer Kraft erscheint: alltägliche Realität, wie sie sich in psychischen und physiologischen Prozessen spiegelt.

(…)

Harald Hartung, Neue Rundschau, Heft 1, 1973

„Zeitvergehen“

„Man ist am Leben, wenn man / seine farbigen Hemden zählt“ – schon in Alltägliche Gedichte (1968) hatte Karl Krolow im Prozess seines lyrischen Schaffens jene Entwicklung in Gang gebracht, die sich in Nichts weiter als Leben (1970) noch intensivierte und die man wohl am besten mit einem Verlagern des Interesses von der Sprache auf das in ihr Bezeichnete, vom Gedicht auf seinen Inhalt, vom artistischen Spiel auf die Existenz charakterisieren könnte. Denn wenn Krolow auch in den Arbeiten seiner früheren Bände keinesfalls darauf verzichtete, Realitätskontakte zu unterhalten, so nahm er sich doch als Subjekt weitgehend zurück und brachte sich und seine Empfindungen nur indirekt zur Sprache: mittels metaphorischer Projektion, auf tatsächliche und speziell (Eine Landschaft für mich) auf imaginierte Dinge.
Die Hinwendung zum unmittelbaren Leben jedoch bedeutete für Krolow in stilistischer Hinsicht eine zunehmende Distanzierung von dem Mittel der absoluten Metapher, und sie bewirkte auch ein Zusammenrücken der Verszeilen, fast als solle der Phantasie, die sich bisher so luftig zwischen die Strophen geschoben und die den einzelnen Bildern illusionistischen Aufwind gegeben hatte, nun die Anwesenheit im Gedicht erschwert werden und als wolle der Autor, der einmal Porosität, kommunizierende Offenheit angestrebt hatte, nun selber verhindern, „dass die letzte Metapher des einen Gedichts Anlass zur ersten Metapher eines anderen würde“.
Krolow, einer der wenigen Autoren, denen es gelungen ist, die Form des Gedichts über Jahrzehnte nicht nur zu benutzen und verwendungsfähig aktuell zu halten; sondern sie darüber hinaus in einer den jeweiligen Umständen adäquaten Weise zu modifizieren, hat, nach seiner naturmagischen und vor allem nach seiner hochmetaphorischen Phase, mit Zeitvergehen eine neue Sprach- und Bewusstseinsstufe erreicht. Denn seine Arbeiten sind jetzt vollends „alltäglich“ geworden. Sie haben ihre Bildhaftigkeit zwar nicht aufgegeben, aber gedrosselt, und sie kontrollieren die eigene Imagination nicht weniger als das gesellschaftliche und naturhafte oder sonstwie dingliche Draussen, das Anlass zu ständiger Beobachtung und oft zu kritischer Befragung wird. Krolow sieht die Wechselwirkungen zwischen Ich und Gruppe, zwischen eigenem Wollen und kollektiver Norm:

Ich bin auch diesmal das,
was einige aus mir machen.

Die Ironisierung des Ego ermöglicht eine Relativierung des – stets nur von wenigen postulierten – vermeintlichen Gesamtinteresses.
Aber wenn es Krolow auch darum zu tun ist, denen entgegenzutreten, die – zusammen mit den Produktionsmitteln – auch das Recht auf eine individuelle Artikulation des Lebens expropriieren wollen („… die Wörter sind Ueberbleibsel des Kapitalismus – Ich sehe das nicht so…“), so läuft seine Intention doch weniger auf reaktive Polemik als auf aktive, auf kreative Darstellung jenes Zeitvergehens hinaus, das sich in uns und um uns permanent ereignet, das aber nur im menschlichen Ego eine formulierbare Vorstellung seiner selbst erlangt:

Die Anziehungskräfte des Leidens,
verborgen in der Vegetation.

Die Gedichte Krolows sind auch heute noch, da der Autor den Tod einen „Zeit-Trick“ nennt, Protokolle des Immanenten. Doch ist mittlerweile die sinnliche Spontaneität, mit der der Lyriker früher alles und jeden zu einem Reflex seiner stets überwachen Sensitivität zu machen geradezu gezwungen war, einer elegischen oder spöttischen Haltung gewichen, die mehr auf Abstand hält und die sogar die Natur wie ein spätes Zitat aus Gärtnermund ansieht:

Der Sommer ist
seine eigene intelligente Kopie…

Krolow erblickt in der modernen Welt eine vordergründige Szenerie, auf der ein Stück Strassentheater gegeben wird, in dem die meisten nur wortlose Rollen haben:

Den Sonntag
erkennt man am neuen Hemd,
das man trägt.

Small talk, Lapidarität verbindet sich mit Lebenserfahrung, Beobachtung mit berichtigender Polemik:

Dinge leuchten, weil sie
mit Eigentum unterlegt sind.
Eigentum leuchtet, weil es
mit Gefühl unterlegt ist.

Krolow sieht die Geschichte in Verbindung mit dem Sein und das Sein als die temporäre Ausnahme des Nicht-Seins:

Endlich bleibt nicht ewig aus.

Der Autor, der im Titelgedicht seines neuen Bandes sagt „Die Bilder lösen sich auf / als Erklärungen“, hebt den Sachverhalt vitaler Verarmung durch begriffliche Erstarrung wieder auf, wenn er die Transition eines signifizierten Dinges in eine Metapher vor Augen führt:

Ich sehe zu,
wie aus einem Gegenstand
ein Bild wird.

Dieser Lyriker, der sich fragt „Wer spricht hier mit meinem Munde?“, bleibt auch im Zustand zunehmender Skepsis sensualistisch, und wenn er auch als ein mit den Sprachtheorien Wittgensteins vertrauter Geist die Gleichwertigkeit aller „Sätze“ konzediert, so lässt er doch im Bereich innerer Abläufe eine andere Logik walten, nämlich die assoziativ-überspringende des Unbewussten, der Träume und der Bilder, die ihre Indizien unter anderem aus dem undurchschaubaren Stoffwechselgeschehen des Physischen holt, wenn sie andeutet, dass der Schlaf den Zustand des Wachens mit einschliesst – als die grössere, die umfassende Kategorie:

Die somatische Nacht – eine Geschichte
in der man sich schliesslich
schlafend an den Händen hält.

Hans-Jürgen Heise, Die Tat, 23.9.1972

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Heinz Piontek: Zeitvergehen
Neue Zürcher Zeitung, 27.10.1972

Joachim Günther: Karl Krolow: Zeitvergehen
Neue Deutsche Hefte, Heft 1, 1973

Walter Helmut Fritz: Der ,Zeit-Trick‘ Tod
Zeitwende, Heft 1, 1974

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLGIMDb +
ÖM + Archiv 1 & 2Internet ArchiveKalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00