Karl Krolow: Zu Hans Arps Gedicht „Blatt um Feder um Blatt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Arps Gedicht „Blatt um Feder um Blatt“ aus Hans Arp: Gesammelte Gedichte II. Gedichte 1939–1957.

 

 

 

 

HANS ARP

Blatt um Feder um Blatt

Nachdem er Blatt um Feder um Blatt
abgelöst hatte
entschloß er sich das feste Erdreich
für immer zu verlassen
und sich fortan hoch hoch oben
in der Schwebe zu verhalten.

 

Ein Prozeß der Erleichterung

Das Gedicht gehört einem Zyklus an, der die Gedicht-Überschrift trägt. Es handelt sich um ein spätes Gedicht des Autors. Es entstand in den Jahren 1951/52, vierzehn Jahre vor seinem Tod. Arp war damals fünfundsechzig. Arp hatte das Federleichte des Schreibens von Anfang an, das Spielerische und das Hurtige. Aber mit zunehmendem Alter kamen andere Elemente hinzu, die bis dahin verdeckt geblieben waren: eine Neigung zur Balance, zum ruhigen Schweben, auch zum verbalen Mystizismus. Der alt Gewordene ließ in seinen Gedichten ein kindliches Lamentieren zu. Das Holterdipolter, das in seinen lyrischen Konfigurationen aus der Dada-Zeit steckte, war verschwunden oder hatte sich doch so weit zurückgezogen, daß man es nicht mehr gleich entdeckte.
Das spielerische Gedicht, das Arp entwickelt hatte und das in den fünfziger Jahren einen gewissen Einfluß auf damals junge Lyriker bei uns ausübte, war bei ihm immer ein kompliziertes Gebilde gewesen: etwas, bei dem der verbale Scherz, der lyrische Fabelsinn, eine kindliche Sprechweise sich mit einer kaum verhüllten Melancholie verbanden, mit einem traurigen Bescheidwissen, schließlich mit einer Bodenlosigkeit. Arp hat, Gedichte schreibend, sozusagen Leitern in die Luft gelegt, immer höher in etwas, das es nicht gibt. Der absurde Vorgang war Ausdruck einer Position, zu der auch eine Spielart von Hilflosigkeit gehörte. In seinen späten Arbeiten hat Arp oft von seinen früheren Schreibweisen in solch hilflosen, kindlichen Mitteilungen Abschied genommen.
„Blatt um Feder um Blatt“ könnte man auf solche Art und Weise ansehen und interpretieren. Es ist ein Gedicht von der unauffälligen Leichtigkeit eines vegetativen Vorgangs. Es ist zugleich ein Vorgang von Auflösung und Entschweben. Etwas wird endgültig aufgegeben, nachdem der letzte Halt abgelöst worden war: „Blatt um Feder um Blatt“. Aufgegeben wurden die Schwerkraft der Welt und die Schwerkraft einer Existenz. Doch geschieht das ohne jeden Aufwand, vielmehr ganz selbstverständlich.
Der Vorgang wirkt auch wie ein stiller Rapport. Es wird in der dritten Person berichtet. Es wird damit Distanz gewahrt. Man sieht sich selber zu und kann es um so leichter aussprechen, so sehr man auch beteiligt ist. Die Handfestigkeit, die Ding-Festigkeit waren nie Hans Arps Sache gewesen. Hier sind sie kaum noch der Rede wert. Ein stiller Entschluß. Er heißt: 

Das feste Erdreich für immer zu verlassen.

Boden aufzugeben, das, was schwer macht, aufzugeben war von jeher die Absicht des Autors gewesen. Nun wird dem allen noch einmal ganz kurzer Prozeß gemacht: Ohne jede Aggression, ohne Widerstand zu leisten, löst man sich von Zusammenhängen, vom Zusammenhalt, um sich „fortan hoch hoch oben / in der Schwebe zu verhalten“.
Das „hoch hoch oben“ ist so wunschhaft, so heftig kindlich zum Ausdruck gebracht, daß keine Alternative, kein Zurück mehr möglich ist. Das hat nichts mit irgendwelcher poetischen „Entrückung“ zu tun. Es ist ein Prozeß der Erleichterung, der Prozeß eines ernsten Vergnügens sozusagen. Das späte Arp-Gedicht hat nirgends das Sprechtempo früher Gedichte. Es hat nicht mehr das Einfalls- und Zufallstempo von einst, das einen Gedichttext auf eine übertriebene und oft deutlich angestrengte Weise abschnurren läßt.
„Blatt um Feder um Blatt“ beschränkt sich auf wenige Wörter. Arp hat dazu einmal gesagt:

Die Beschränkung in der Zahl der Wörter bedeutet keine Verarmung des Gedichtes, vielmehr wird durch die vereinfachte Darstellung der unendliche Reichtum in der Verteilung, Stellung, Anordnung sichtbar.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Karl Krolowaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

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