Karl Krolow: Zu Karl Krolows Gedicht „Lesen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Karl Krolows Gedicht „Lesen“ aus dem Gedichtband Karl Krolow: Nichts weiter als Leben. −

 

 

 

 

KARL KROLOW

Lesen

Ich habe alles
liegen gelassen.
Mein Schatten hinter mir
wandert langsam
von Norden nach Osten.
Meine Erinnerung endet
am Rande des Buches.
Langsam neben mir
im Glas trocknet
das Wasser.
Ohne Vorwurf
vergeht die Zeit.
Sie ist eine vollkommene
Geschichte ohne Fluchtpunkt,
auf den man
zugehen könnte,
um etwas zu finden.

 

Über ein eigenes Gedicht

Das Gedicht entstand im Frühsommer 1968. Doch ist der Zeitpunkt im Hinblick auf das, was es als Vorgang fixiert hat, belanglos. Lektüre, Lesen als gewiß nicht beliebig und jederzeit zu wiederholender Prozeß, hat als Vorgang doch etwas ebenso Momentanes wie nicht Datierbares, etwas unter Umständen Unvermitteltes wie Entrücktes, so daß die Entstehungszeit und die Verhältnisse gleichgültig bleiben, unter denen ein Gedichttext zustande kam, der Lektüre zum Inhalt hat.
Inhalt? Ich weiß mit den Jahren immer weniger, was es mit ihm in einem Gedicht für eine Bewandtnis hat, oder gar, was für eine Funktion er in ihm übernehmen könnte. Gewiß gibt es im Ablauf eines solchen Textes etwas, „an das man sich halten“ mag: eine Stütze des Verständnisses, etwas, das einem zu Hilfe kommt, ein Hilfsmittel also. Natürlich gibt es Gedichte, die etwas beinhalten, wo es auf diesen sogenannten Inhalt entscheidend ankommt, Gedichte, bei denen – beinahe – alles auf das anzukommen scheint, was sie vorbringen. Gedichte, mit anderen Worten, die überhaupt etwas vorbringen wollen und die folglich sich in ihrer Absicht auszuweisen haben, die sich sofort zu erkennen geben müssen.
Von dieser Art ist das Gedicht „Lesen“ nicht. Ich weiß nicht, ob es überhaupt Absichten hat und verfolgt. Ein argloses Gedicht, sozusagen, das einen Zustand reproduziert. Das Zuständliche und ein Verharren im Zustand ist jedenfalls an ihm ebensosehr einzusehen wie der Vorgang, der zugleich Geschehenlassen und Geschehen darstellt. Solche Anlagen und Voraussetzungen begünstigen nicht die Frage nach seinem Inhalt und der Verläßlichkeit, der Einsehbarkeit oder auch Problematik von Inhalt. Inhalt und der Stoff, der solchen Inhalt liefert und ihn gewährleistet, haben sich nicht einmal zu verflüchtigen brauchen, weil sie im Sinne des für unsere Vorstellung mit Stofflichkeit in Verbindung gebrachten Kompakten, mit Faktizität von vornherein nicht vorhanden waren. „Lesen“ notiert etwas Unstoffliches, etwas, in das uns eine bestimmte Höhe, ein bestimmtes Maß intellektueller Aufmerksamkeit, aufmerksamer Bereitschaft und Frische, ein (plötzlich) vorhandenes oder ein geübtes, ein trainiertes Vermögen geraten läßt. Dies ist der Zustand, in den sich der Lese-Bereite, der Lesende versetzt findet, aus dem sich dann der Vorgang – Lektüre – entwickelt, mit seinen möglichen Folgen, seinen Konsequenzen, seinen Verhaltensfähigkeiten gegenüber Zeit und Umwelt.
„Ich habe alles liegen gelassen.“ Die Betonung liegt auf alles. Dieser Zustand hat Rigorosität. Er ist durch Ausschließlichkeit ermöglicht, die alles verändert oder in andere Verhältnisse bringt, in veränderte Relation mindestens. Derartige Ausschließlichkeit schafft die Voraussetzung für das, was nun folgen kann und was folgerichtig wird: Konzentration, ein ausschließliches Gesammeltsein auf den Vorgang Lektüre, eine Fixierung, die etwas von einer Benommenheit annimmt, bei aller Präsenz, bei der konzentrierten Klarheit, die notwendig ist, um durchgehalten zu werden, für die Dauer des Lesens. Dauer aber, Zeitvergang demnach, wird nur noch indirekt wahrgenommen, schattenhaft geradezu im verändert registrierten Tages- und Lichtablauf einer zweiten Tageshälfte, der Zeit zwischen Mittag und Nachmittag/Abend: „Mein Schatten hinter mir / wandert langsam / von Norden nach Osten.“ Tageslicht und Tageszeit als zurücktretende, als reduzierte „Phänomene“, als Randerscheinungen, jenseits des Buchrandes. Denn Wirklichkeit, Leben, Augenblick, gesteigertes Leben und gesteigerter Augenblick finden derzeit woanders statt: auf den Seiten des Buches, Zeile um Zeile, Seite um Seite, begrenzt durch Buchformat und Buchrand geradezu, äußerst eng limitiert und alles limitierend, das nicht zum Lese-Prozeß gehört: „Meine Erinnerung endet /am Rande des Buches.“ Lesend habe ich – auf Widerruf – einiges aufgegeben, was mir sonst notwendig und selbstverständlich war, was dazugehörte wie Gedächtnis, wie Sich-erinnern-Können und -Mögen. Erinnerung, Gedächtnis jedoch sind nun absorbiert, weggesogen von der konzentrierten, ausschließlichen Beschäftigung Lesen, die mir die Aufmerksamkeit nimmt, mit der ich sonst in der Lage war, Kleinigkeiten, Banalitäten des Zeitvergangs, des Stundenverlusts zu entdecken wie – beispielsweise – langsames Wegtrocknen des Wassers im Glase: „Langsam neben mir / im Glas trocknet / das Wasser.“
Das könnte unter meinen Augen geschehen, weil es „neben mir“ geschieht. Aber ich habe für den Vorgang keine Augen mehr, sowenig ich Gefühl für Zeit aufbringe, in die ich mich – zur Zeit – nicht mehr reagierend, mit Vorwurf oder Hoffnung, in Beziehung bringe. Daher sind die folgenden beiden Gedichtzeilen möglich geworden: „Ohne Vorwurf / vergeht die Zeit.“ Warum das so ist, bringen die nächsten Zeilen des Textes zur Sprache. Zeit, wie auch immer verstanden – als objektive Zeit, als Erlebniszeit im menschlichen Bewußtsein oder als historische Zeit −, wird hier, im Vorgange wie im Zustande des Lesens, für den Lesenden schrumpfend oder gesteigert zur vollkommenen Geschichte, zu dem, was das Buch anbietet und aufbietet an seiner Wirklichkeit, seinem Daseinsstoff.
Aber sie ist nicht nur im Buche zur vollkommenen Geschichte geworden, mit der man lesend auszukommen hat, da nichts zu wünschen übrig geblieben scheint, sie ist zugleich etwas, das „ohne Fluchtpunkt“ ist. Sie ist damit zu einer Erscheinung geworden, deren Vollkommenheit auch darin besteht, daß sie keiner teleologischer Vorstellungen mehr bedarf, daß sie ziel-los bleibt und damit un-erreichbar, phantastisches Projekt, das sich dem entzieht, der auf dieses Projekt wie auf jenen Fluchtpunkt zugeht, „um etwas zu finden“. Im Gedichttext wird schon die bloße Möglichkeit einer Realisation („Fluchtpunkt, auf den man / zugehen könnte“) in Frage gestellt und abgewiesen. Die auf solche Weise sich für den Lesenden ereignende „zweite“ Zeit ist eine Gegen-Zeit, Zeit ohne Turm- und Taschenuhren, die allein von der Intensität der Beziehungen ermöglicht und gehalten wird, die zwischen Lesenden und Lese- und Buchwirklichkeit entsteht, während alles so bleibt, wie es zu Beginn des Textes festgestellt wurde: „Ich habe alles liegen gelassen.“

Karl Krolow, aus: Karl Krolow: Nichts weiter als Leben, Suhrkamp Verlag, 1970

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