Karl Krolow: Zwischen Null und Unendlich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Krolow: Zwischen Null und Unendlich

Krolow-Zwischen Null und Unendlich

ES WAR EINE ANDERE ZEIT

In der rue du cherche-midi
lauern immer noch Schatten wie Dichter,
haben namenlose Gesichter
in der rue Ferrandi.

Es ist eine andere Zeit,
ohne Dada und Surrealisten
von früher. Das liegt zu weit
zurück. Die Protagonisten

von einst, sie sind im Grab.
Du lebst dort und sie sind Staub.
Du atmest das staubige Laub
der Straßen, die Seine hinab.

Du bist eilig. Du brauchst nicht zu spüren,
was hier war. Jetzt heißen die Namen
ganz ander. Du gehst durch die Türen
aus Glas. Bücher kommen und kamen

aus dem Glashaus, sind alt oder neu.
Was einst hier die Sonne beschien,
ist verschwunden. Dein Blick geht nun scheu
über alte Photographien.

 

 

 

Der Band enthält neue Gedichte;

es sind Gedichte unterschiedlicher Art. „Ausverkauf“ – das längste der beiden seitenlangen Gedichte – schafft Ordnung, rücksichtslos. Es macht reinen Tisch mit allem: „Verkauf das alles. Ja, ja, höchste Zeit, beeil dich… Man muß die Rührung aus den Haaren kämmen.“ Schon Rimbaud verkaufte: „das Geräusch, die Bewegung und die Zukunft, die sie hervorbringen“; so auch hier, „die Schrecksekunde“, mehr noch, radikaler, selbst den „Schatten an der Wand, die stehn blieb nach der Einwirkung dieser Bombe“. Es geht also nicht nur um eine höchst private Anschauung und Abrechnung, sondern um eine Räumungsaktion, die den „Neutronen-Westen“ einschließt. Tabula rasa im Langzeitgedicht, mit eingeschnittenen Refrains.
In der folgenden „Minimal Music“ stellt sich – nach dem Aufruhr – die Ruhe wieder ein, als sehr sanfte Pause, sanfter noch, als Entspannung sein kann: „Du bist jetzt im Himmel, sagt jemand. Der Himmel ist ohne Geschwindigkeit, ohne Gefühl, ist ein kleines schattiges Feuer, beinahe kühl, ein Hauch auf der Hand, ein Gewimmel von nichts – wie Liegen auf duftendem Gras aus mystischen Wiesen: Pythagoras auf der Suche nach der unendlichen Zahl, mystischer Arithmetik, nach narkotisch genauer Wahl.“
Das große Kapitel des Buches sammelt fünfzig Liebesgedichte. In dieser ,Geschichte‘ spielt sich das zum Thema Gehörende ab: von der Skepsis bis zur Euphorie, vom Einverständnis bis zur Distanz, vom Kinder- und Märchenspiel bis zur spirituellen Betrachtung; eine Skala aus Liebes-Erscheinungen, Liebes-Orten, Sprachen, Zeichen, Geschehen. „Zwischen Null und Unendlich fällst du mir zu.“ Ein endloses Bilderbuch in Farben, mit denen schon Heine verschwenderisch umging, melodiös und gespenstisch, von Sinnen und mit allen Sinnen geschrieben, kannibalisch:

Deine Haut ist eßbar.
So ist es −
Du ermißt es
wie Liebe: die ist ein Verschlingen,
ein unablässiges Singen,
dich um den Verstand zu bringen.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1982

 

Überraschende Rückkehr zum Reim

Essayistische Theorie und eigene Versproduktion liegen bei Krolow nahe beisammen. Zwischen Null und Unendlich heißt sein eigener jüngster Gedichtband. Am Anfang steht das etwas programmatische Langzeilengedicht „Ausverkauf“ und eine Huldigung an die sanfte „Minimal Music“ von Brian Eno. Danach folgt ein Corpus liedhafter Parlandotexte im resignativen Krolowschen Altersstil. In ihnen setzt er die im Gedichtband Herbstsonett mit Hegel mit unnachahmlicher Leichtigkeit zurückgewonnenen Reimstrophen fort. Das Titelgedicht ist ein Liebesgedicht vor dem unauslöschlichen Grundgefühl des sich annähernden Todes.

ZWISCHEN NULL UND UNENDLICH

Zwischen Null und Unendlich
fällst du mir zu.
Auf einmal wirst du
in deinem Wesen verständlich.

Als ich über dich kam,
deine heiße Zunge im Mund,
war alles anders, und
ich bekam, was ich mir nahm.

Eine spanische Wand verstellt,
was es zu sehen gibt.
Man hört nur, wie man liebt
in dieser und jener Welt.

Ein Grammophon verlockt,
und der Puls schlägt überall –
Die Liebe kommt vor den Fall,
wenn Blut in den Adern stockt.

Die zärtlichen Gespenster –
sie kommen ohne Laut.
Wie Dämmrung, mit grauer Haut
oder Lichtschein in einem Fenster.

Krolows lyrische Einfachheit schließt höchstes Raffinement ein. Seine späte Volksliedstrophe gerät in eine merkwürdige Nähe zu Heinrich Heine. Aber während der späte Heine „Hebräische Melodien“ entdeckte und die Quelle der Verjüngung auf der poetisch-karibischen Insel Bimini suchte, schreibt Krolow illusions- und wohl auch hoffnungslos „Da bleibt nichts“.

Ich weiß nicht, wohin das führt –
ein Gesicht auswendig zu lernen,
nach und nach, das man berührt
hat im langsamen Sich-Entfernen.
Das läuft unbewußt. Doch man spürt:
da bleibt nichts unter den Sternen.

Krolows resignative Altersgedichte bezeugen einen bestürzend aufflammenden Geist. Erinnerung an Kindheit, Erinnerung an Liebe. Zukunft mag keine Gegenwart mehr gewinnen. „Die Geschichte ist aus“, hämmert er in einem unnachahmlich leichten Ton.

Paul Konrad Kurz, aus Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre, Verlag Josef Knecht, 1986

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Harald Hartung: Verwegene Wonnen, dem Leben abgelistet
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.4.1982

Paul Kersten: Verkauf die Schrecksekunde
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 11.4.1982

 

Die Fremde, die Heimat, vertrautes Gebiet

Vera B. Profit: Also. „Wenn Sie sich in der Fremde aufhalten und Landsleute treffen: befällt Sie dann Heimweh oder dann gerade nicht?“

Karl Krolow: Es kommt natürlich auf die Situation, die eigene Situation in der Fremde… ein schönes Wort, ein, fast ein poetisches Wort… an. Es gibt Augenblicke, wo ich eher sagen würde: Mach einen Bogen um diese Leute. Aber es kann auch genauso gut sein, daß ich sage: Gott sei Dank. Endlich jemand, der mir auf meine Sprache oder in meiner Art antworten kann und mir meinetwegen helfen kann dadurch, der mich weiterbringt in der Fremde, in der Isolation, in der Abgeschiedenheit, welcher Art auch immer sie sein mag. Also beides ist möglich. Ja, Fremde, die man braucht, und die im Grunde keine Fremde ist, in der man sich, mit der man sich eingerichtet hat und die man endlich begehrt als Zuflucht, als etwas anderes; da braucht man die eigenen Leute nicht. Was soll ich? Noch einmal ein Gespräch anfangen auf diese Weise, in deutscher Sprache? Wozu? Wozu? Das ist das eine. Und das andere ist diese (Lage) von Celan. Celan… nichts als Französisch, nur Französisch, der französische Alltag, die französische Familie, die französischen Sätze, das französische Kinderplappern. Der war notwendigerweise süchtig, nicht wahr, er brauchte dringend ein (literarisches) Deutsch, das er nicht selbst verwenden mußte, aber das er selbst, für sich als verbindlich, empfinden mußte. Aber das immerhin Deutsch war. Deutsch in einem bestimmten Bereich gewiß, im literarischen Bereich. Das ist entscheidend sogar in diesem Falle. Aber, er war, dieser Fall, wie ich Ihnen gestern geschildert habe mit Paul Celan, der mich buchstäblich aufgestöbert hat durchs Telefon, daß ich da und da gelandet war, um eben dann dieses doch sehr häufige, manchmal tägliche Treffen möglich zu machen. Ein Treffen. Er brauchte mich. Er brauchte diese Sprache. Er wollte sie hören. Die nicht unbedingt seine Lyrik sein mußte und werden mußte. Überhaupt nicht. Er hat, wie man weiß, ganz andere Gedichte geschrieben als ich. Darum ging es auch nicht. Aber er brauchte, er brauchte diesen Fundus, er brauchte diesen Klang, er brauchte dieses ganz bestimmte… diesen ganz bestimmten Duktus, oder wie soll ich es nennen, also… das ist schwierig.

Profit: Sie meinten, Paul Celan brauchte Sie in einem gewissen Sinne. Brauchten Sie ihn auch?

Krolow: So sicher nicht. Ich war freilich daran interessiert, einen Mann, den ich hochschätze als Lyriker und Kollegen, kennenzulernen. Und ich fand es natürlich sehr angenehm. Und… daß er von sich aus so initiativ war, so sehr darauf aus war, mich nicht nur kennenzulernen, das hatten wir ja vorher schon (getan) bei Tagungen auf viel unpersönlichere Art, (daß er) eben ganz persönlich auf mich zukam, um eben das zu nutzen, diese Gelegenheit, daß ich in Paris war und er mich doch so oft, wie er wollte, sprechen und sehen (konnte), um wieder auf das zu kommen, was ihm wichtig war. In einer Sprache, die auch eben nicht ganz gewöhnlich war, sondern doch etwas literarisiert, kompliziert oder anders als das Straßendeutsch würde ich sagen. Nicht? Er wußte ja, mit wem er sich traf, und daß das eine Gelegenheit war, die sich vielleicht lohnen könnte… für beide. Und so war’s. So wurde, so mußte es, würde ich jetzt sagen, zwangsläufig werden. Es sei denn, es wäre irgend etwas dazwischen gekommen, Verstimmung oder Anders-sein im Reagieren, im Wesen, und gewiß ist er sehr ein ganz anderer Typus, als ich es bin. Das ist aber eine Sache, die überhaupt genau das bietet. Natürlich. Ich sage, daß seine Gedichte ganz anders sind, kryptischer… ja wie soll ich es… ich will jetzt nicht eine Charakteristik von Celans Gedichten abgeben. Aber jedenfalls… hier ging es einfach um… ja eine ganz bestimmte Notwendigkeit. Und er bedurfte meiner sozusagen, als Gegenüber, als Partner, der (wichtig nahm) ganz bestimmte Fragen oder ganz bestimmte Probleme oder ganz bestimmte Dinge, mit denen er umging, die für ihn wichtig waren, die sollten auch von mir wichtig genommen werden. Diese Übereinkunft, die da sein mußte, aus der Umgebung des Schreibens, aus dem, was wir beide taten, wenn auch in ganz anderen Verhältnissen lebend. Aber dies, eben in der Fremde lebend. So gesehen, glaube ich, daß er in Frankreich (lebend), das er so genau kannte und dessen Sprache er buchstäblich sprach, als notwendige Alltagssprache, als Familiensprache, das besondere Deutsch, das literarische Deutsch um so mehr begehrte. Und er hatte so weit jemanden (gefunden), der eben dieses besondere Deutsch, das deutsche Gedicht eben zu schreiben versuchte, weil er ja auch nicht Französisch schrieb, sondern Deutsch schrieb, in französischer Umwelt, im französischen Sprachbereich, im unablässigen Französisch, das er von morgens bis abends zu hören bekam und selber sprach. Und da war jemand, der also, den er – na ja, sagen wir mal – schätzte, und das gab von vornherein ja eine ganz gute Situation. Und also haben wir es miteinander eben auch ziemlich gut gehabt. Und ich denke schon, daß er mich richtig gebraucht hat, wie ich ihn auf andere Weise in der Fremde (brauchte), als jemand, der doch nicht nur einfach Deutsch sprach, sondern dieses besondere Deutsch, das sich literarisches Deutsch nennt, beherrschte. Das gibt eine Übereinkunft, die von vornherein eben beide als besondere Partner erscheinen läßt. Und so war’s, war’s schließlich bis zum Schluß. Natürlich. Und meine Mentalität war durchaus der seinen ähnlich; gern, oft und immer wieder (kam) das Gespräch aufs Überleben von Tag und Stunde, aufs Über-die-Runden-und-Über-die-Stunden-Kommen. Es war ein Hauptgespräch für uns. So oder so oder so angefaßt und nuanciert. Aber es kam mindestens so sehr von Celan, als von meiner Seite. Und er war doch einer, (mit dem man) auf eine bestimmte Weise eben über das redete, ja über Vergeblichkeit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit, Überleben, Über-die-Zeit-Kommen, Über-die-Stunden-Kommen, über das, was ein Gedicht widerlegen könnte, also die eigene Arbeit widerlegen könnte. Dafür war Celan sehr wohl beschaffen. Nicht nur darüber nachzudenken, sondern existentiell zu empfinden, wie ich es in – wie soll ich es sagen – schwierigeren Stunden, die ich natürlich habe, auch empfinde. Es ist ja eine hanebüchene Sache, eine schon besondere Exaltation dabei, ein Gedicht als… Lebenskunstwerk oder als Überlebenskunstwerk und Produkt und Korpus oder, wie Sie es nennen wollen, zu empfinden und ernst zu nehmen und so ernst zu nehmen, daß es… nicht mehr zu tilgen ist.

Profit: Nächste Frage. „Hat Heimat für Sie eine Flagge?“

Krolow: Zum Auskennen (schon), aber zum Flaggenliebhaber (bin ich nie geworden), und also ist es… überhaupt Heimat… na ja… vielleicht habe ich zu viel Heimat gehabt und habe nicht das Schicksal so vieler Menschen teilen müssen, der Heimatvertriebenen und so etwas, (die) jawohl unablässig durch die Geschichte und durch die Gegenwart irren. Das müssen nicht Bosnier sein, wie jajetzt im Augenblick, und Jugoslawen.

Profit: Worauf könnten Sie eher verzichten: auf Heimat, auf Vaterland oder auf die Fremde?

Krolow: Oh, ich kann auf alles gleichermaßen, nicht gleichermaßen, aber relativ bald verzichten. Sage ich, der noch nie dahin gekommen ist verjagt zu sein. Natürlich, natürlich, ich habe gut reden, das füge ich hinzu. Aber verzichten. In dem Sinne Heimat, was ist das? Was ist das?

Profit: Was bezeichnen Sie als Heimat: ein Dorf, eine Stadt oder ein Quartier darin? Einen Sprachraum, einen Erdteil oder eine Wohnung?

Krolow: Eine Straße und eine Wohnung ganz sicher. Eine Wohnung. Ganz sicher, ganz sicher. Aber ja. Hannover ist für mich die Bandelstraße 23, dritte Etage oder zweite Etage, dann die Südstadt. Gemeint ist der Stadtteil Hannovers, und schon in Hannover, die Grenzüberschreitungen, die täglichen. Natürlich, natürlich. Als Sie nach dem Reisen fragten, ich sagte: ein Zimmer genügt, ein Um-die-Ecke-Gehen genügt. So auch bei dieser Frage. Ein Punkt genügt, eine Behausung genügt. Nenne es Wohnung, es ist Wohnung. Nenne es Straße, sie hat einen Namen. Nenne es Quartier, Hannover, so wie ich sagte, Südstadt.

Profit: Was lieben Sie an Ihrer Heimat besonders: die Landschaft, daß Ihnen die Leute ähnlich sind in ihren Gewohnheiten, daß Sie sich den Leuten angepaßt haben und daher mit Einverständnis rechnen können, das Brauchtum, daß Sie dort ohne Fremdsprache auskommen, Erinnerungen an die Kindheit?

Krolow: Ja, manches schon. Die Kindheit sicher und Erinnerungen an sie. Landschaften schon. Ich brauch’ die Stadtlandschaft. Die Straßenlandschaft will ich jetzt einbeziehen. Ganz bestimmte Straßen, ganz bestimmte Wege, täglichen Gang und Geschäfte. Nicht nur Schulwege, die sowieso. Gewiß, eine Ähnlichkeit der Aussprache der Bewohner, in diesem Falle, in meinem Falle Niedersachsen, das schon. Ich kannte im übrigen ja als Kind und für einige Zeit bis zum Studium, nichts anderes als diese Stadt richtig. Das andere waren Ausflüge, Ferienfahrten oder so. Das war also nicht zu vergleichen mit diesem Gefühl, wie ich es nannte Bandelstraße 23, zweiter Stock oder dritter Stock. Die beiden Wohnungen, in denen ich mit meinen Eltern lebte. Oder eben, das was wir auch heute noch die Südstadt Hannover nennen. Also ein ganz begrenzter Raum.

Profit: „Haben Sie schon Auswanderung erwogen?“

Krolow: Nein. Wozu?

Profit: „Gesetzt den Fall, Heimat kennzeichnet sich für Sie durch waldiges Gebirge mit Wasserfällen: rührt es Sie, wenn Sie in einem andern Erdteil dieselbe Art von waldigem Gebirge mit Wasserfällen treffen, oder enttäuscht es Sie?“

Krolow: Na ja, ich würde schon sagen: Sieh an, sieh an, das gibt es also, natürlich so wie du vermutest, vergleichbar. Es rührt mich schon, es erinnert mich schon. Es bringt auch zum Vergleichen. Das ist sicher. Zunächst mal ist es angenehm, weil ich etwas wiedersehe, was mir vertraut ist.

Profit: „Wenn Sie die Zollgrenze überschreiten und sich wieder in der Heimat wissen: kommt es vor, daß Sie sich einsamer fühlen gerade in diesem Augenblick, in dem das Heimweh sich verflüchtigt, oder bestärkt Sie beispielsweise der Anblick von vertrauten Uniformen (Eisenbahner, Polizei, Militär usw.) im Gefühl, eine Heimat zu haben?“

Krolow: Das ist sicher ganz angenehm. Das würde ich schon sagen. Aber, daß es nun eine besondere, erregte, freude ähnliche Reaktion erzeugt, will ich wiederum auch nicht sagen. Es ist angenehm, etwas wiederzuerkennen; es ist angenehm, etwas wiederzusehen; es ist angenehm, auf etwas zurückzukommen. Nicht nur auf Heimat, aber auch auf Heimat, auf vertrautes Gebiet, würde ich lieber sagen, auf das, was man vor Augen hatte, auch… in anderem… soll ich Fremde sagen, oder soll ich’s lassen? Aber jedenfalls ist das die Freude. Wiedersehen kann immer, kann, kann – ich will jetzt nicht von Menschen, sondern von Heimat, von dem, was Sie unter Heimat soeben genannt haben – kann sogar Selbstbestätigung auslösen, die mal so (geartet ist, daß) Menschen nicht verloren gingen, aber doch in Zweifel gezogen werden konnten. Ich würde sagen ein Wiedertreffen ganz bestimmter… nein, das ist nicht Witterung, ich will nicht Klima sagen, eine ganz bestimmte Temperatur, ein ganz bestimmtes Landschaftsbild, eine ganz bestimmte große Ebene, wie es noch Deutschland ist, mit ganz bestimmtem Wald, Waldungen, mit ganz bestimmtem Grün, mit ganz bestimmten Flüssen, wenn es auch nur die ganz kleinen Flüßlein sind, in jedem Fall, das ist… na gut, das ist ein Erlebnis schon.

Profit: „Haben Sie eine zweite Heimat? Und wenn ja:“ „Können Sie sich eine dritte oder vierte Heimat vorstellen oder bleibt es dann wieder bei der ersten?“

Krolow: Ach. Ja. Für mich kommen in meinem Leben zwei Städte in diesem Fall in Frage. Das ist Hannover, eine erste Heimat, und Darmstadt mein ganzes Leben. Ich würde das nicht nur als Heimat bezeichnen, sondern in dieser Stadt, in der ich hier mit Ihnen spreche, habe ich die Entwicklung genommen, die letzten Endes mein Leben ausmacht. Und das allein genügt, um den Ort als den entscheidenden Ort zu nennen. Das andere ist mit freundlicher Erinnerung und unfreundlicher Erinnerung, mit Elterngrab und anderem… auch ein bißchen sentimentalen, um nicht zu sagen sehr sentimentalen… Erinnerungen, aber auch ganz und gar anderem, nicht sentimentalen Erinnerungen befrachtet. Hier ist mein Leben gelaufen. Hier lebe ich weiter. Ich kann mir persönlich kaum vorstellen, daß ich noch eine… nein, ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, rein vom Alter angefangen bis zu anderen Verhältnissen… in eine dritte, vierte oder weitere Heimat zu geraten.

Profit: „Kann Ideologie zu einer Heimat werden?“

Krolow: Schon, schon, schon. Ich denke, dafür gibt es Beispiele. Dafür gab es ganz sicher Beispiele. Die Konfusion des Jahres, des Herbstes 1989. Oder Beispiele, die man gut oder nicht gut finden kann. Aber… das ist es schon.

Profit: Kann ein Beruf zu einer Heimat werden oder eine Berufung?

Krolow: Ja sicher. Sicher. Sicher.

Profit: „Empfinden Sie die Erde überhaupt als heimatlich?“

Krolow: Wieder also das Diesseits, von dem wir ja vorhin schon gesprochen haben, kann ich mir zunächst als unübersehbar und als Durcheinander vorstellen. Abgesehen von dem sehr begrenzten Bereich, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe. Das andere ist so beschaffen, daß es niemals heimatähnliche Gefühle auslösen würde. Darum ging’s doch immer noch, ja? Also das paßt überhaupt nicht in den Begriff hinein. Es wäre, es sei denn, daß das eintrete, was ich gerade vorher, also nicht mehr möglich und überhaupt nicht denkbar vorstelle: die dritte, die vierte, die fünfte Heimat. Heimat ist, wie gesagt, auch so stilisiert, so, so sehr… das kann man gar nicht durchhalten, es sei denn, man wäre dauernd auf der Flucht. Und da kommt es gar nicht erst zum Heimatgefühl. Der Flüchtige, der Flüchtende ist ein Durchgänger überall. Und überall ist Fremde. Natürlich.

Profit: Unterscheiden Sie zwischen Vaterland und Heimat?

Krolow: Beides sind ja in Deutschland Worte, die belastet sind. Durch Geschichte, durch Geographie. Heimat kann schreckliche Provinzialität heißen, und damit auch schreckliche Banalität und schreckliche Bedeutungslosigkeit. Und Vaterland? Mein Gott! Das kann man schwer bewältigen und ja sagen. Und die Amerikaner. Bei noch so, natürlich komplizierter Geschichte. Unkomplizierte Geschichte gibt es nicht. Dazu ist sie viel zu lang, viel zu jäh und viel zu unberechenbar. Aber Vaterland höre ich zunächst als eher, als französisches Wort. Aus bestimmten Gedichten patriotischer Lyriker, die es tatsächlich ja gegeben hat. Möglich, aber sonst werde ich mich mit bescheideneren Worten begnügen. Der Staat, in dem ich lebe, ist recht heikel. Legitimation… ja… Der Patriotismus ist zu sehr mit Fahnenschwingen belastet und mit noch viel Schlimmerem.

Profit: Welches französische Wort würden Sie aussuchen, um Heimat, Vaterland und so weiter wiederzugeben?

Krolow: Ja. Das ist etwas Schwieriges. Heimat kann ich überhaupt nicht sagen, das gibt’s nur im Deutschen. Dafür gibt’s kein Wort in keinem anderen Land, würde ich sagen, das (damit) vergleichbar ist. Aber la patrie ist natürlich möglich. Ich weiß nicht, ob es das richtige ist. Also das Patriotische klingt ja da bis ins Verbale völlig hinein. Das ist fast identisch damit. Aber eben, genau das, was ich hier (beabsichtige) als Patriot, der ich nicht bin, als Vaterlandsfreund oder -feind, der ich beides nicht bin, und mich mit dem bescheidenen, demokratischen Wort „Staat“ begnüge, ist mit der gloire von la patrie natürlich überhaupt nicht zu vergleichen. Am liebsten hätte ich noch gloire gesagt, aber ich weiß, daß das nachher nicht Vaterland heißt. Aber dieses Element von Illumination, das in dem Worte steckt, und das so gerne gehört wird in Frankreich, und nicht nur in Frankreich allein. Wissen Sie, in Frankreich ist ja um die Ecke schon die nächste Revolution oder Revolte denkbar. So denken die Franzosen selbst, ein wenig spöttisch über ihre vielen Barrikadenkämpfe und immerhin über die große Revolution. Aber wie komme ich dazu? Ich höre die Franzosen ein wenig spöttisch sagen: Na, unsere nächste Revolution kommt. Zum Beispiel als de Gaulle in Frankreich landete und die Autos ein ganz bestimmtes Hupensignal abgaben: Algérie française, Algérie française. Als Hupensignal, einmal, dreimal hintereinander, zweimal, nicht, Algérie française. Und so. Die nächste Revolution wurde es dann doch nicht. Es wurde wesentlich friedlicher, als de Gaulle an die Macht kam. Nicht? Also zurückkam aus Algerien, zurückkam. Es ist ja in Nordafrika patriotischer noch gewesen, als es im eigenen Land war, jedenfalls damals, zu dieser De-Gaulle-Phase, von der ich spreche und der Rückkehr de Gaulles eben an die Macht, an die oberste Staatsposition, die er mit Hilfe seiner Generäle, für sein Leben gehalten hat, bis zu seinem Tod, wenn ich das so sage. (Meine damaligen Gedichte) hatten ein Element doch auch gehabt, wie soll ich sagen, (des) Zeitgedichts oder – wie Sie bei der jetzt ja schon mehrfach genannten Buchbesprechung in dieser Fragebogenzeitung geschrieben haben – (es waren) brandaktuelle Gedichte, wo es wirklich um manches geht, von dem die Zeitungen voll sind. Nur eben auf die verkürzte, elliptoide, lyrische, oder wie soll ich sagen, Weise des Ansprechens, des Antippens, des raschen Berührens, des raschen Bedenkens, des raschen Distanzierens, des… Sie nennen es vor allem aktuell. Und tatsächlich kommt einiges vor, was uns die Sache sauer werden läßt. Ich meine so etwas wie die Stasi-Verstricktheit. Aber natürlich ist das insgesamt eine nicht nur heikle sondern (auch) scheußliche Belastung, mit der man sich herumschlagen muß. Für sehr viele ist das berufs- und lebensentscheidend (gewesen). Die, die sich eingelassen haben auf diese oder jene Weise oder einlassen mußten auf diese oder jene Weise. Denn, ich meine, es ist ja doch alles auf eine Weise durchorganisiert gewesen, wie es selbst zu Zeiten des Hitler-Regimes technisch nicht möglich war, sozusagen. Es sind ja auch da Fortschritte (gemacht worden). Die Fähigkeiten der Erfassung des Einzelnen sind ja auf eine schreckliche Weise fortgeschritten. Wie man sich der Mittel bedient, die zur Verfügung stehen, der technischen Mittel auch, dann ist das schon eine ganz schlimme Sache. Aber, wie komme ich auch darauf? Ich meine, ich komme darauf, weil ich auf meine Weise Stellung genommen habe zu ganz bestimmten Verhältnissen, Ereignissen zwischen Ost und West, zwischen den sogenannten „Neuen Ländern“, wie wir hier jetzt sagen, und der ehemaligen alten Bundesrepublik. Und das ist natürlich ein tägliches Thema und wichtiges Thema und fast einziges Thema der Zeitungen und der Publikationsorgane. Ich meine auch des Radios und des Fernsehens. So weit das visuell gemacht werden kann, so weit das druckbar ist, und es ist natürlich druckbar, und alle diese Schwierigkeiten sind in gewissen Gedichten drin. Also finanzwirtschaftliche, also auch humanitäre Dinge bis zu… ja ganz bestimmten Ausdrücken, die jetzt zum politischen Jargon der Auseinandersetzung zwischen dem, was doch passiert ist und dem, was heute oft vergebens versucht wird. Wie gesagt, das (ist das) tägliche Brot und notwendige Brot der Journalisten. (Unter den) kommerziellen, monetären gesamtdeutschen Vorgängen, die ja wie gesagt, Tücken und Schwierigkeiten und wie auch immer zu bewältigen, nämlich äußerst schwer zu bewältigen, gleich von wem, sind, dort habe ich mir einiges mir Interessante oder Wichtige herausgesucht, wenn ich von den Liebhabern an Immobilien mich gewandt habe im Gedicht, und so in dieser Art. Wissen Sie, das ist ziemlich weit weg vom Künstlerischen, aber hat mit der, mit Leistung, Erfolg, jedenfalls mit Zugreifen und Zupacken und in dem Zupacken und Zugreifen Erfahrung haben (zu tun). Und das haben die Westdeutschen natürlich. Und die Ostdeutschen wirklich nicht. Wie sollten sie auch? Wie sollten sie auch bei dem Regime und bei dem, was sie eben vierzig Jahre, wie soll ich sagen, erlitten haben oder was ihnen abhanden gekommen ist dadurch, bis zum Sinn für Zugriff, für Besitz. Darum geht’s ja auch. Welcher Besitz in welche Hände gehört. Und alles dies sind ja heute unter vielen anderen Problemen auch noch Probleme, daß Leute drüben in Häusern wohnen, die ihnen wohl seitens der DDR damals rechtmäßig zugereicht wurden oder angeboten wurden oder (von ihnen) übernommen wurden. Die (Besitze) aber im Grunde eben gar nicht ihre (waren), sondern geflüchteten Westdeutschen gehörten und ich weiß nicht, wie weit das juristisch heute zu klären (sein) wird. Es wird zu klären sein. Diese Leute haben mit Recht natürlich sich dessen nicht nur erinnert, sondern pochen auf ihren Besitz, den sie damals… ja, nicht freiwillig, pardon, nicht freiwillig verlassen haben. Das ist eines unserer unzähligen Probleme. Darauf habe ich auch angespielt, obwohl ich mehr die Geschäftstüchtigkeit, westdeutsche Geschäftstüchtigkeit (im Auge hatte) und in dieser Hinsicht Leistungsüberlegenheit gegenüber den „Neuen Ländern“, wie wir uns jetzt im Jargon angewöhnt haben von der früheren DDR zu reden, die „Neuen Länder“.

Profit: „Können Sie sich überhaupt ohne Heimat denken?“

Krolow: Nein. Das gibt es praktisch nicht. Es wird immer Bereiche geben, denen man sich zugehörig fühlt, würde ich sagen, um nicht das Wort Heimat allzusehr zu strapazieren. Aber insofern gibt es Heimatlosigkeit oder ohne Heimat ein Leben (führen), wie ich es jetzt beantworte und verstanden habe, wohl nicht. Und Heimat kann übrigens nicht nur Stadt, sondern auch ja… eine Wohnung und ein ganz kleiner Bereich sein. Aber das habe ich ja in anderem Zusammenhang auch schon vielleicht angedeutet. Der Mensch bekommt sie, er hat sie so oder so und wird sie so oder so brauchen und sich ihrer mehr oder minder erfreuen.

Profit: „Hätten Sie lieber einer andern Nation (Kultur) angehört und welcher?“

Krolow: Manchmal schon. Aber aus verschiedenen Gründen. Gewiß. Ich würde zunächst sagen… nein drei, drei Länder, drei Pässe. Und nicht nur Pässe. Ich meine, in dem Paß verbirgt sich eine Zugehörigkeit. Und dies wären die Reihenfolge ist nicht einem Wertmaßstab gleich −, aber Schweizer, Franzose und Luxemburger hätte ich schon sein mögen.

Profit: Wieso gerade diese drei?

Krolow: Das genügt mir. Ja. Aus ganz verschiedenen Gründen. Die Schweizer… eine lange demokratische Geschichte und Unabhängigkeit auch, eine Unabhängigkeit, die sich auf der Welt so nicht wiederholt, wie in der Schweiz. Frankreich… aus einer alten Liebe und alten Neigung zu dem, was es hervorgebracht hat an Menschen, an Kultur, an Sitte und schließlich damit auch an Literatur; weil ich auch so lang persönliche Beziehungen hatte und noch habe; weil ich vieles dort wiederfinde, was ich hier in Deutschland nie erreichen würde.

Profit: Zum Beispiel?

Krolow: Das ist eine Kette von Verhaltensweisen, die ich gar nicht im einzelnen aufzählen möchte und kann. Und Luxemburg ist fast ein Spiegel, verstehen Sie; Luxemburg ist wunderbar neutral und bedeutungslos und bedeutungsvoll zugleich. Es ist so neutralisiert, so… ein durchaus künstliches Gebilde, das aber dennoch ein wenig künstlich wirkt, wenn man durch seine Straßen von Luxemburg-Stadt geht, mit seinen Banken und seiner Politik, seinem europäischen Bewußtsein und seiner angenehm international wirkenden Provinzialität. Vor allem hat es ein bißchen, sogar noch vom Rheinisch-Deutschen, aber natürlich vom Französischen sehr viel mehr. Meine Zuneigung und Bevorzugung ist ein bißchen davon abhängig (nach) französischer Art zu leben, und… ja so. Es ist ein kleines Vor-Frankreich.

Profit: Wieso haben Sie eigentlich diese Zuneigung zu Frankreich?

Krolow: Auch das ist eine Frage von Zufällen, die im Grunde keine Zufälle wohl sind. Ich fand oft eine Empfänglichkeit für geistige, musische, literarische Anregungen in einer Tradition, in einer Folgerichtigkeit über die Jahrhunderte, wie es selbst so große und alte Kulturländer, wie Spanien, Portugal oder auch England nicht haben. Die Neue Welt, sehen Sie, kann ich nicht dabei gleich nennen. Sie ist eben doch Neue Welt im Vergleich zum alten, etwas reichlich alten und gealterten und schwierigen Europa. Aber eben diese Neigung ist gewachsen, wie manches unmerklich einem zukommt, durch Bücher, die man frühzeitig in die Hand bekommt als Schüler, wie schon gesagt, ganz früh, aus denen man lernt. Ich habe überhaupt eine Neigung zu – wie ich so sagen soll, ich habe es gestern, glaube ich, auch schon gesagt – zu westlicher Gesellschaft, westlicher Kultur… auch in ihren bedenklichen Zeiten. Französische Literatur ist für mich einfach spannender, sie ist menschlicher, freizügiger, sie ist offener, sie ist, bei Wahrung ihrer langen Geschichte – jetzt gilt das für viele Autoren – ihrer selbst auf eine Weise sicher. Das ist imponierend. Die französische, wie soll ich sagen, Arroganz ist ein bißchen wohl zu merken. Aber jedes Land hat sein Selbstbewußtsein. Warum nicht? Das haben die Deutschen natürlich auch, nur anders, nur lauter, nur gröber, nur… ja eben deutscher, würde ich sagen. Und das ist in Frankreich selbstverständlicher bei dieser Gesittung und dieser Humanität; ich will dieses gefährliche Wort mal verwenden. Das ist eben doch Gegenwart. Ich meine, es hat ja Erscheinungen gegeben von der Französischen Revolution bis zu… ja, Erscheinungen, die nicht unbedingt bloß französisch hier zu nehmen sind, aber zum französischen Bereich gehören, also das Voltairische, die Klarheit, die dort beginnt. Die schreiben ja auch in Spanien, aber auf andere Weise, so weit sie nicht christlich gestört sind, ich meine durch die christliche Kirche überlagert sind. Das ist jetzt keine negative Äußerung, sondern einfach eine Feststellung eines Phänomens. Die Gebundenheit durch den Katholizismus ist ganz anders als in dem sich so rasch, so früh unabhängig verstehenden Land, wie es Frankreich ist, spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Und es seither (ist), mit mancherlei Rückfällen, gewiß, die gehören dazu, wie der Widerruf von dem ich gestern sprach. Doch (kann man) von einer Kontinuität der Kultur und des Kulturbewußtseins (sprechen) und in diesem Falle auch literarischen Bewußtseins, auch von einem Stolz darauf, bei dem wir uns hier in Deutschland oft sehr schwer tun. Die deutsche Selbstkritik ist ja vielleicht manchmal angebracht und auch gut. Aber sie muß nicht beinah zur Methode werden, wie es gelegentlich bei unseren kritischen Geistern der Fall gewesen ist. Gut, ich meine, ein Nietzsche ist wohl eine deutsche Erscheinung, und Voltaire und die Folgen sind ganz anders als deutscher Radikalismus, bei dem man vor Ausrottung nicht zurückschreckt. Ich meine Nietzsche noch einmal. Dies ist mir ein bißchen, sogar oft, zu deutlich gewordene deutsche Philosophie oder Geistigkeit aus der begabten sächsischen Provinz. Sie verstehen das recht?

Profit: „Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein?“

Krolow: Oh. Ich habe ein schwieriges… wissen Sie, wenn Sie Verantwortung erwähnt hätten, aber Macht ist für mich ziemlich unerträglich. Verantwortung ist etwas anderes. Ich würde es vorziehen. Es ist auch… Das ist nicht leicht zu beantworten. Aber mit Macht habe ich eigentlich nichts zu tun sondern eher mit Ohnmacht, die gar nicht zu unterschätzen ist, die fruchtbringend sein kann, freilich auch fürchterlich.

Profit: Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint?

Krolow: Ich kann mir das so wenig vorstellen, daß ich darauf nicht antworten kann.

Profit: Das ist ja schon eine Antwort.

Krolow: Ja.

Profit: „Woraus schließen Sie, daß Tiere wie Gazellen, Nilpferde, Bären, Pinguine, Tiger… usw., die hinter Gittern oder in Gehegen aufwachsen, den Zoo nicht als Heimat empfinden?“

Krolow: Da ist zu wenig vom sonstigen Verhalten der Tiere in der Wildnis (vorhanden), um das beantworten zu können, muß ich sagen. Ich sehe gewisse Ähnlichkeiten, die durch alle hier genannten Tierarten gehen, sei es die gewisse Käfigunruhe, die ja wohl nicht natürlich ist und (ich) sehe sie damit in einem doch wohl eingeengten und zwanghaften Verhalten, das möchte ich meinen. Wir sehen, indem wir in den Zoo gehen und die Tiere besehen, sie mit Sicherheit nicht so, wie sie in der Freiheit sich bewegen oder bewegt werden oder sich benehmen oder wie Sie es nennen wollen. Ich weiß nicht, ob das eine Antwort auf die Frage ist, aber eine halbe ist es sicher.

Profit: „Mögen Sie Einzäunungen?“

Krolow: Nicht unbedingt. Ich sehe die Notwendigkeit ein, die manchmal gegeben ist. Ich selber lebe ja so, daß es keine Zäune gibt, sondern nur Umzäunungen; die Natur, die Pflanzen, die wir geschaffen haben. Schöne Barrieren, schöne Hindernisse, aber immer noch Zaun, Begrenzung, Einengung, wie es noch so notwendige Zäune ja schließlich sind und bleiben.

Vera B. Profit: Menschlich – Gespräche mit Karl Krolow, Peter Lang Publishing, 1996

 

 

Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980

Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995

Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015

Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015

Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015

Alexandru Bulucz: Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015

Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015

 

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Nachrufe auf Karl Krolow: Der Freitag ✝ Der Spiegel ✝ Die Welt ✝
Der Tagesspiegel ✝︎

Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999

Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

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