WIDERLICHE ERKENNTNIS
Ich hab noch nie ein Fenster zerbrochen
und noch nie an frischen Toten gerochen.
Ich hab noch nie Schildkröten gegessen
und hab noch nie im Kittchen gesessen.
Ich bin noch nie unter Bäumen aufgewacht
und hab noch nie Liebe im Meer gemacht.
Ich hab noch nie einem Neger die Hand gedrückt
und noch nie einen Menschen in den Tod geschickt.
Ich hab mich noch nie am 13. Mai verliebt
und noch nie vier blonde Kinder gekriegt.
Ich bin noch nie restlos lustig gewesen
und hab noch kein albanisches Buch gelesen.
Ich hab noch nie Absinth getrunken
und hab noch nie nach Traktorenfabrik gestunken.
Ich bin noch nie mit der Fünfer Terminus gefahren
und hab noch keine kleine Illusion begraben.
Ich hab noch nie LSD genommen
und hab noch nie einen Orden bekommen.
Ich hab noch nie Polonaise getanzt
und noch nie eine Dattelpalme gepflanzt.
Ich hab noch nie eine Katze erschossen
und hab noch nie Überfluß genossen.
Ich hab mich noch nie von innen gesehn
und werd – wahrscheinlich – nie Selbstmord begehn.
P.S.
(Irgendwann werd ich ganz sicher sterben.
Dieser Text kann gekürzt und verändert werden.)
Anemone Latzina
Im Herbst 1992 erschien in diesem Verlag eine Prosa-Anthologie mit dem Titel Das Buch der Ränder. Das Buch, das Fährten in nahe wie entlegene Literaturlandschaften legte, wurde ein unerwarteter Erfolg, und das Bild, das dem Buch den Titel gab, seither so oft gebraucht, daß der intendierte Sinn schon fast wieder verlorenging. Bereits damals war freilich geplant, der Prosasammlung auch ein Buch der Ränder zuzugesellen, das der Lyrik vorbehalten ist. Bis es endlich erscheinen konnte, galt es mancherlei zu erwartende Schwierigkeit zu überwinden und etliche unerwartete Hindernisse zu beseitigen. Immerhin 127 Autoren werden jetzt aufgeboten, um einen noch immer unentdeckten Kontinent zu seinem dichterischen Wort kommen zu lassen, das bei uns bisher weniger aus Unkenntnis von Sprachen und Ländern kaum vernommen, denn stets aus jener bewährten, mit uraltem Dünkel satt genährten Ignoranz abgewiesen wurde, die sich nicht nur in vielen Verlagshäusern gerne zur Arroganz spreizt.
Das Buch sammelt Gedichte, Poeme und lyrische Manifeste aus achtzehn europäischen Sprachen – vom Bulgarischen zum Slowakischen, vom Jiddischen zum Lachischen (um jene in der Region von Üstrau, im Gebiet der Beskiden, beheimatete Sprache zu erwähnen), vom Albanischen, wie es variantenreich in Albanien, in Kosova und auch von der jahrhundertelang eingesessenen albanischen Minderheit in Süditalien als Arbëresh gesprochen wird, bis zum Slowenischen, dessen Dichter nicht nur in der Republik Slowenien leben, sondern auch in Kärnten und Triest mit seinem slowenischen Hinterland. Ein Buch, das der mitteleuropäischen Dichtung gewidmet ist, kann sich nicht an den immer zufälligen Staatsgrenzen orientieren, muß den Muttersprachen, nicht den Vaterländern gerecht werden. So treffen in diesem Buch immer wieder Grenzgänger aufeinander, die die Grenzen schon deswegen überschreiten, weil sie durch sie selber schneiden, und solche, die sich keineswegs freiwillig über die Grenze begaben, sondern außer Landes gejagt wurden oder vor Krieg und Verfolgung auf der Flucht sind. Die Werke wie die Biographien der europäischen Dichter bezeugen, daß Europa nicht nur der gepriesene Kontinent ist, der sich die Erfindung der Menschenrechte gutschreiben kann, sondern auch ein Laboratorium, in dem Terror, Rassismus, Totalitarismus erprobt wurden und werden.
Die Herausgeber hatten aus einem Vielfachen von dem auszuwählen, das jetzt in die Sammlung Eingang gefunden hat. Der ungeheuren Stoffülle beizukommen, galt es Schwerpunkte zu setzen, die andere Editoren anders gesetzt hätten. Die Gedichte sind in neun Kapitel gegliedert, von denen ein jedes für sich ein besonderes Ganzes ergibt, um bei einer Sammlung mit Gedichten nicht zu sagen: eine Geschichte erzählt. Die einzelnen Texte sind dabei nicht immer gemäß der Chronologie ihres Entstehens aneinandergereiht, doch so, daß sich zwischen Dichtern aus Makedonien und Wien, zwischen Naturgedichten ganz verschiedener Regionen, zwischen einem Rebellen aus der Slowakei vom Beginn dieses Jahrhunderts zu einem Verfolgten im Rumänien Ceauşescus immer wieder Querverbindungen erschließen. Kapitelweise schreitet die Sammlung vom Ich zum Du zum Wir vor, vom einzelnen und seinem Selbstbild zur Ansprache des anderen und zur Gemeinschaft; von der Natur zu dem je besonderen Ort in Provinz oder Metropole, auf dem Land oder in der Großstadt, der zum Schauplatz existentieller wie geschichtlicher Erfahrung wird; von den begeisterten Aufbrüchen zu den Katastrophen des Jahrhunderts; von der ars poetica, der künstlerischen Reflexion, zu jenem „Europa“, das nah und fern ist, in statu nascendi und Zerfall zugleich sich befindet.
Fast zwei Drittel der Gedichte, die in diesen neun Kapiteln zu lesen sind, wurden für das Buch der Ränder zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt; andere Gedichte entnahmen wir alten Büchern oder neuen Zeitschriften, dem Gesamtwerk bekannter Autoren das Abgelegene und dem bisherigen Werk von hierzulande noch unbekannten Autoren das Bezeichnende. Eine Wanderung, zumal wenn sie der literarischen Erkundung gilt, ist kein Herumhüpfen von der einen zur nächsten Mode, aber auch kein Abklappern des Bekannten, sie führt durch eine bestimmte Landschaft, die sich eben im Wandern, in der Lektüre jedes einzelnen Gedichtes, auch als Ganzes erschließt.
Der Dank der Herausgeber gilt vor allem jenen acht kundigen Grenzgängern, die beauftragt wurden, Gedichte für das Buch der Ränder zu übersetzen, und die diesen Auftrag so verstanden haben, daß sie selbst nach Wegen suchten, eine Landschaft in ihrer Dichtung, der markanten wie verborgenen, zu durchwandern. Im einzelnen hat Christa Rothmeier uns ins Tschechische geleitet, Hans-Joachim Lanksch ins Albanische, Slowenische und Serbische, Klaus Detlef Olof ins Slowenische, Serbische, Kroatische und Bosnische, Bärbel Schulte ins Kroatische und Serbische, Alois Woldan ins Polnische, Hans Raimund ins Italienische, Milo Dor ins Kroatische und Serbische und Ivan Ivanji ins Serbische und Kroatische. Unser Dank gilt aber auch den vielen anderen Frauen und Männern, deren Übersetzungen wir den verschiedensten Büchern, Zeitschriften, Sammelbänden entnahmen.
Karl-Markus Gauß und Ludwig Hartinger, Nachwort
sammelt Gedichte, Poeme, Manifeste… von über 100 Autorinnen und Autoren der hereinbrechenden Ränder Süd- und Osteuropas aus den letzten fünf Jahrzehnten – von Triest bis Galizien, von Prag bis Tirana, vom Banat in die Lausitz, von Böhmen bis zur Bukowina. Das einzigartige poetische Intinéraire, dieses Logbuch einer literarischen Entdeckungsreise enthält – zumeist in Erstübersetzungen – nicht das Bekannteste von bekannten, nicht das erste Beste von unbekannten Dichterinnen und Dichtern.
Wieser Verlag, Klappentext, 1995
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