Karl Mickel: Geisterstunde

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Mickel: Geisterstunde

Mickel-Geisterstunde

DAS COLLOQUIUM ÜBER DIE EUROPÄISCHE AUFKLÄRUNG;
WIEPERSDORF 1984.
WOLFGANG HEISE ZUM EHRENGEDÄCHTNIS

 

An diesem Tag also endete
Nächtens
Das Ende vom Ende der Eu −
Au −

Neumond; November.
In Arnims Waldschloß.
Ob der Remise im Dachgebälk.
Gelehrtes Wispern.
Knuspern, die nagende
Kritik der Mäuse, das Huschen und Haschen −

Eu! Auff −
Regensturm; Stöße
Von Westsüdwest.
Die Ziegel rappeln zu Häupten.
Im Schornstein seufzt es und saust.
Klirr −!
Aufff − −!!

Blitz & Donner:
Ein Schlag ( :
Herr! Herr! Gott! – oinomatop. b. Klopst.)
Ewig
Das Negativ das Nachbild auf der Netzhaut.

Durch die Schuhe
Lachreiz auf die Sohlen
Zittert das Fundament.

Elektrisch Licht weg.
Euleileu.

Nicht ohne Anmut (: bömm!)
Die Artillerie auf dem Schießplatz bei Jüterbog
Spielt in das Grollen.
& Fledermäuse; taumelnde Schatten der x-ten
& (x + n)-ten Dimension −
& wie das Gediel und Gestühle
Der knirrenden Waldung die Antwort knackt!

Eu/knack.
Auf/knirr.

& Poltern. Rumoren. Gequiek.
Die wilden Schweine am Hausputz schabbern
Schwarz in Schwarz.
Sumpf schmatzt; Grunzen: Rop! Rop!
Käuzchens Ruf.

Die Turmuhr; rostig
Rasselt die Mitternacht
Der Hofhund
Das Kirchengeläute
Jault aufff − − −
Schlägt annn − − −
& Wispern & Knuspern & Rappeln & Seufzen & Sausen &
aaaaaBlitz & Donner & Zittern & Spielen & Grollen & Taumeln
aaaaa& Knirren & Knacken & Poltern & Quieken & Rumor &
aaaaaMoren & Schabbern & Schmatzen & Grunzen & Käuz-
aaaaachens Ruf −
Der Hausmeier, ach, ist gestorben −
aaaaa& Rasseln & Jaulen & Heulen & Dröhnen −

& da der Morgen nicht kam
& als mein Freund dann
Der Philosoph
Schnarchete, daß die Scheiben bebten −
aaaaa& Schnarchen & Beben −

Sah ich im Dunkel
Schlaflos leibhaft vor Augen
Das Ende
Vom Anfang
Der Eulopädischen Ausklirrung
aaaaaEumologischen Abschwirrung
aaaaaEromodischen Aufknickung
aaaaaEromanischen Auskackung
aaaaaAeroplanischen Abknackung
aaaaaZerophanischen Aufpackung
& Auf & Ab & Aus & An & sofort
In Saus & Braus & Graus

*

Die Evolution der Termini, einmal in Gang gesetzt, ist unaufhaltsam. Zehn Jahre arbeiten nun die vernetzten Computer am Thesaurus, und kein Ende ist abzusehen. Prägungen wie Eudämanische Abstarrung, Autistatische Ausschlierung, Eidezifische Aufbahrung, Eristätisches Anstoering u.a.m. sind bereits durch Indiskretionen an die Öffentlichkeit gelangt; Buchautoren und Feuilletonisten sind mit Erforschung und Auslegung der jeweiligen Sinngehalte weltweit befaßt. Daß obiges Gedicht sein Entstehen dem Umfeld Mystographischen Inseidings dankt, ist an und für sich klar und muß nicht bewiesen werden.

 

 

 

Der letzte Gedichtband von Karl Mickel

erscheint nach dem Privatdruck von 1999 erstmals in öffentlicher Ausgabe.
Karl Mickel gehörte mit Volker Braun, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Sarah Kirsch und Richard Leising zum Freundeskreis der später sogenannten Sächsischen Dichterschule. Auch Elke Erb und Adolf Endler, mit dem Mickel die legendäre Anthologie In diesem besseren Land (1966) herausgab, standen dem Kreis nahe.
Mickels Lyrik beeindruckt durch die Kombination von expressiven Fügungen und hohem Ton, Umgangssprache und ästhetischem Ausdruck.
Der Gedichtband Geisterstunde wurde von Karl Mickel zusammengestellt und erschien kurz vor seinem Tode als Privatdruck. Der Band liegt hier erstmals in einer öffentlichen Ausgabe vor.
In den Zyklen „Irrlicht“, „Schiller Chöre“, „Das Jahrhundert“ und „Zeitsprung“ finden sich Gedichte, die in der Zeitspanne von der Entstehung von „vita nova mea“ (1963) bis zu Mickels letztem Lebensjahr entstanden.

Wallstein Verlag, Ankündigung

 

Epitaph auf sich selbst

− Karl Mickels letzter Gedichtband Geisterstunde. −

Karl Mickel, aus Dresden gebürtig, war gut zehn Jahre alt, als die DDR entstand, und als sie verschwand, verlor er ein Land, von dem er geglaubt hatte, es sei das richtige. Mindestens war er der Überzeugung gewesen, es werde einst das richtige werden. Trotzdem sah er sich von seinem Staat misstrauisch beobachtet. Die Formkünste des grossen Lyrikers hielt man für gewagt, artistisch, freiheitssüchtig. Der glänzende Exponent der Sächsischen Dichterschule war aber auch werktätiger Bürger, Wirtschaftshistoriker, Literaturdozent und Theatermann, Mitarbeiter der Regisseurin Ruth Berghaus beim Berliner Ensemble. Zuletzt übernahm er eine Professur für Versmass und Diktion an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Das andere Deutschland hatte er zu lange für feindliches Gebiet gehalten, als dass er sich nach 1989 noch hätte daran gewöhnen können. Vor den Augen des geschichtsversessenen Dichters war die DDR zur Episode zusammengeschrumpft. Diesen Untergang hat er, liest man Geisterstunde, seinen letzten Gedichtband, genau, nicht verwunden.
Darin finden sich Verse von 1963 bis 1999, die früheren sind teilweise überarbeitet. Man freut sich über kräftige Bilder der neuen Zeit, in „Radwechsel“ von 1992 etwa:

Gewechselt sind Schaltung und Laufräder
Der Rahmen stammt her aus dem vorigen Leben
Der eingerittene Sattel, das Licht.
So fahre ich fort.
Kastanien poltern und Eicheln prasseln
Bucheckern knistern im Sprung.
Das Hundchen am Weltrand schlägt an.

Bitterkeiten, wie sie Mickel in den neunziger Jahren auch zu Papier brachte, kann man nicht immer goutieren. Man nimmt nur ungern Aussagen zur Kenntnis wie die, dass Hitlers Projekte vom europäischen Westen weitergeführt würden, dass die EU es sei, die seine Autobahnen vollende, und dergleichen.
Vor vier Jahren ist Karl Mickel gestorben. Der Formversessene, der Mann mit den eigenwillig gedrechselten Versen, den lustigfrechen Klängen ist vielleicht weniger an der politischen Verschiebung an sich irre geworden als vielmehr an einer grundstürzend neuen Epoche. An einer Zeit, in der Sture und Gläubige zusehen mussten, wie sich alles mit allem verband: das Werk der „vernetzten Computer“. Diese treiben „die Evolution der Termini“ ins Unermessliche. Die Thesauri schwellen an und verlieren ihre Ordnung. So sieht es Karl Mickel im 1994 überarbeiteten Gedicht „Colloquium über die Europäische Aufklärung; Wiepersdorf 1984“. In einem Anhang reiht er fiktive Begriffe aneinander – Fremd-Wörter im eigentlichen Sinn: eudämanisch, autistatisch, eidefizisch, eristätisch… Das Wortgewucher bedeutet Chaos, Auslöschung von Sprache, von Dichtung und damit Selbstauslöschung. „Epitaph. Altenglisch“, Mickels letztes Gedicht, spricht Klartext: „Setz kein Wort hinzu.“

Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung, 4.1.2005

Schmerzende Klarheit

− Karl Mickel – Gedichte eines Wirtschaftshistorikers. −

Im Wallstein Verlag sei der letzte Gedichtband von Karl Mickel erschienen. In Geisterstunde finde der Leser eine Nachlese mit Gedichten aus älterer und jüngerer Zeit Mickels, berichtet die Süddeutsche Zeitung.
Schon 1999 sei der Band als Privatdruck in limitierter Auflage vorveröffentlicht worden. Nach dem Tod des Wirtschaftshistorikers habe es vier Jahre an Zeit gebraucht, bis Geisterstunde als eine Art Nachlese einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde. Für Mickel solle die Kunst in einem „emphatischen Sinne“ historisch gewesen sein. Kunstwerke seien für ihn „Leitfossilien ihrer Zeitalter“, und das bringe das Politische ins Spiel. Die Gedichte würden an Chile, an die Balkan-Kriege und an die Schenkersche „Goldberg-Passion“, welche „1999 zum 10. Jahrestag des Mauerfalls uraufgeführt wurde“ erinnern. Aber auch „ein Selbstzitat, ein Gedicht“, das Mickel 1966 verfasst habe und „Indianerfilm“ als Überschrift trage, enthalte das Werk.
„Es scheint hier zu fehlen, was Mickels Gedichten, trotz häufig knirschender, eigenwilliger Schnoddrigkeit, ja trotz Humor ihre abgründige Tiefe gibt: eine Klarheit, die schmerzt“, urteilt der Rezensent. An den Gedichten sehe man, dass der Autor nie „seine innere Teilnahme, seine Wut oder seinen schmerzlichen Zynismus verleugnet“ habe, so der Rezensent. Und so hofft er, dass die Gedichte ihre Anlässe „weit überdauern“.

eck/dre, Die Berliner Literaturkritik, 2.12.2004

Ein Narr, der fragt

− Karl Mickels letzte Gedichte, oder: Es gibt ein Leben jenseits der Philosophie. −

Das Brüllen hörten durch die Wände wir
Und steinerne

Die alte Frau stirbt schwer, wie ihr Leben war: Krieg, Trennung, Gestapo. Dann das Alter:

Ihre Augen, als ich auf den Topf sie setzte
will ich nicht beschreiben

Aber es ist ein kraftvolles Leben: „Und wie sie den Gestapomenschen anschrie!“, mit einem unverkürzten Glücksanspruch:

Ich
Schnitt ihr die Fußnägel, das gefiel ihr.

Bei einem Ausflug, mit dem Rollstuhl schon, will man sich im Tierpark mit dem Vorhandenen nicht abspeisen lassen: „Drei Elefanten warn zu wenig“. Der letzte Vers dann:

Auf der Urne
Ein Schild, Aluminium, gestanzt der Name

Das Material ist billig, die Arbeit ist billig, aber es bleibt ein Individuum, und es entsteht ein Gedicht, vielleicht nicht dauernder als Erz, aber sicher nicht in Aluminium gestanzt, das das Karl Mickel 1968 schrieb.
Knapp dreißig Jahre später kehrt der Autor noch einmal zum Genre der Grabinschrift zurück. Epitaph. Altenglisch ist das letzte der Gedichte der Geisterstunde, und gestorben ist nicht nur ein Mensch, der dem Leben mehr noch hätte abgewinnen können:

Ein Narr, der fragt. Ein Narr, der Antwort gibt.
Was Wahrheit sei? Nach Wunsch und Wille je

Alles ist zweifelhaft geworden, Wahrheit, Schönheit, Recht.

Was Wirklichkeit? Du schaust die Grube ja jetzt.
Dies sage weiter. Setz kein Wort hinzu.

Wie beweglich war noch das Epitaph von 1968, es gab die Erinnerung an Gelächter, an den Widerstand und den Kartoffelklau, es gab das Ausrufezeichen, Parenthesen und den Zeilenbruch. Und wie starr ist das Epitaph von 1997! Jede Zeile in zwei Hälften gleichgebaut, jede Zeile in sich abgeschlossen. Was noch zu sagen ist, ist Wiederholung einer Wahrheit aus sehr alter Zeit.
Karl Mickel war zur Seelenverdüsterung nicht vorbestimmt. In Dresden 1935 als Sohn eines Mühlenbautischlers geboren, bekennt er sich zur DDR, von ersten, recht parteilichen Gedichten (Lobverse & Beschimpfungen, 1963) aber rückt er bald ab. „Er ist gebürtiger Sachse und lebt als Marxist in Preußen“, heißt ein gern zitierter Satz seines Freundes Rainer Kirsch, und zum Mickelschen Marxismus gehört die Förderung ausgeprägter Genussfähigkeit. Doch so frei sein Verhältnis zur DDR ist und sowenig er die Auseinandersetzung mit ihrer Kulturpolitik scheut – als Mitarbeiter von Ruth Berghaus ergeben sich manche Gelegenheiten –, der Untergang des Sozialismus trifft ihn.
Wie entschlossen Mickel auf das Neue einmal gehofft hatte, zeigt rückblickend Grundschule 2. Nach Tragelehn (1997), ein Prosastück über das zerstörte Dresden:

Da die Welt in Trümmern lag, bedrohte sie mich nicht; an den zerstreuten und durcheinandergeworfenen Bruchstücken ersah ich die Schönheit, welche aus ihrer gefügten Ordnung mich ausgeschlossen gehalten gehabt hätte. Gerechtigkeit hatte gewaltet, das ist: die Vergangenheit war begehbar geworden.

Im Februar 1990 inszenierte Ruth Berghaus Schillers Braut von Messina an der Freien Volksbühne Berlin, Mickel als ihr Dramaturg war für die Einrichtung des Textes verantwortlich. Einige Chorverse in seiner Anverwandlung nahm er 1999 in die Geisterstunde auf, einen Privatdruck in 50 Exemplaren, den Wallstein noch einmal für eine größere Öffentlichkeit herausgebracht hat. Die Präsentation dieser Verse ist mehr vornehm als handlich, besser ist dran, wer die komplette Bearbeitung besitzt, die die Deutsche Schillergesellschaft vor Jahren als ersten Band ihrer Marbacher Bibliothek publizierte. „Die Welt ist vollkommen überall / Wo der Mensch nicht hinkommt in seiner Qual“, dichtete Schiller, die Idee einer glücklichen Natur festhaltend, die dem Menschen nach Überwindung des Sündenfalls sich wieder öffnen möge. Und Mickel: „Im Menschenleeren / Da ist gut sein. / Macht euch fort: / Alle!“ Letzter Aufruf, die Geschichte zu räumen.
Manche der Distichen aus der Wende, Der Oktober, sehen heute weniger eindrucksvoll aus. „Großdeutschlands Grundstein, man weiß es, ward in die Mauer vermauert“, das ist wohl doch nicht so sicheres Wissen; die Herbstdemonstrationen 1989 als Dämonstrationen zu betiteln ist ein zu fixer Gebrauch der Ambivalenzen. Weiter führt der Radwechsel von 1992, natürlich den Brechtschen aufgreifend: Das Fahrrad ist mit Schaltung und Laufrädern auf den neuesten, den westlichen Stand gebracht, das Licht stammt noch aus dem vorigen Leben: „So fahre ich fort.“
Im Sommer 2000 ist Mickel gestorben, mit 65 Jahren. Der Tod hat ihn immer beschäftigt, die Kunst war auch ein Zeichen dagegen, ein Mittel der Freiheit gegen die Notwendigkeit, der Form gegen den Zerfall, der Geschichte gegen die Erinnerungslosigkeit. Das Alter (1994/96/97) spricht von der Selbstbehauptung: „So beginne ich das sechzigste Jahr meines Alters / Das dreißigste Jahr der vernichteten Hoffnungen / Das fünfte Jahr der Aera Lenae“. Es gibt ein Leben jenseits geschichtsphilosophischer Hoffnungen. Das Ich raucht weniger, trinkt weniger, liebt mehr und hat „(Tennis:) den Aufschlag verbessert“. Und die Geschichte? „Mein Trost sind die Naturgesetze / Schrieb Brecht; ich ergänzte: / Auch die Kanaille muß sterben“.
Wie vielleicht nur noch Peter Rühmkorf hat Mickel die (vor allem deutsche) Literaturgeschichte gesichtet und genutzt, und in der Fortführung ihrer Formen und Motive historisch gefühlt. Ein Mann schmelzender Sinnlichkeit war er nicht, gelegentlich ist er auch der Gefahr einer alexandrinischen Gelehrsamkeit erlegen, Literatur als Spiel der Eingeweihten zu spielen. Schwerfällig wurde er darüber nie. So hat er auch den berühmtesten Vogel der Lyrik, den Raben Poes mit seinem düsteren Quoth the Raven Nevermore 1998 noch einmal herbeihüpfen lassen. Der kommt zu „Besuch“ nur, in einer Minderform, mit der aktuellen mediterranen Leichtigkeit, aber er erinnert daran, dass solche Leichtigkeiten nicht das letzte Wort sein werden:

Ich bin die Krähe
Mein Name ist Arrividerci
Ich soll sie grüßen von meinem
Großen Bruder dem Raben
Nevermore.

Stephan Speicher, Die Zeit, 19.5.2004

Der Dichter als Geist zur Geisterstunde

– Nachgelassene Gedichte von Karl Mickel. –

Unter seinen etwa gleichaltrigen Dichterkollegen (Braun, Czechowski, R.  Kirsch, Tragelehn) war Karl Mickel (1935–2000) eine Ausnahme. Vielleicht weniger Tabak- und Alkoholgenuss betreffend, vielmehr in seinen biographischen Eckpunkten. Er studierte Wirtschaftsgeschichte, war Mitarbeiter im Verlag Die Wirtschaft und Assistent an der Hochschule für Ökonomie, bis er nach Mitarbeit am Berliner Ensemble 1978 als Dozent an die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ kam, der er, 1992 zum Professor berufen, bis zu seinem Ende treu blieb. Der studierte Ökonom Karl Mickel, im Zweitberuf Dichter, Romancier, Essayist und Dramatiker, wirtschaftete ökonomisch mit Wörtern. Er kippte sie nicht bis zur Beliebigkeit über seiner Leserschaft aus, auf seine Gedichtbände musste gewartet werden. Nach seinem Debüt 1963 Lobverse und Beschimpfungen, erschienen Vita nova mea 1968, Eisenzeit 1975 und Palimpsest 1990. Jetzt, postum, wie von Geisterhand, erscheint in Leder verpackt, mit goldener Prägeschrift verziert die Quintessenz, eine Gedichtsammlung, an der Karl Mickel in den 90er Jahren gearbeitet hat und von der er 1999 vor seinem Tod 50 Stück als Privatdruck erscheinen ließ.
Mickels Gedichte sind selten privat, und wenn, kommt er vom Privaten schnell zum Allgemeinen. In dialogische Verse baut er Widersprüche ein, zeigt, wie vollendet er die Kunst der Dialektik beherrscht. Er hantiert mit Denkstrukturen, Mythen, philosophischen Ansätzen quer durch die Jahrhunderte, bis die Verse einen Kurzschluss verursachen und in einer Pointe münden. Ob der Oktober 1989, die fragil gewordenen Imperien, Aids, Krieg im Kosovo – was uns zum Ende des 20.  Jahrhunderts umtrieb, Mickel hat’s in die Gedichte gepackt. Mal sind seine Verse nüchtern, gern derb, auch sarkastisch, aber nie weinerlich. Im letzten Gedicht „Epitaph“ antwortet er auf die Frage:

Was Wirklichkeit? Du schaust die Gruft ja jetzt.

Für Karl Mickel ist dieser Vers viel zu früh Wirklichkeit geworden. Bewundert werden darf, dass uns ein Göttinger Verlag dieses Buch präsentiert, bedauert werden kann, dass darin jegliche Angaben zum Autor fehlen. So wird der Dichter Mickel den Erstlesern unter Nachgeborenen leider Geist zur Geisterstunde bleiben. Und nur seinen Freunden, Jüngern sächsischer Dichterschule sowie Viellesern aus dem Leseland wird er in seinen letzten Gedichten als hoch gewachsener Wiedergänger erscheinen, mit auffallend dunkler Gesichtsepidermis, die Denkerstirn von Zigarrenrauch umwölkt.

Michael Wüstefeld, Sächsische Zeitung, 11.6.2004

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Manfred Jendryschik: Mickels Welt- und Geisterstunde
Mitteldeutsche Zeitung, 20.3.2004

Braun, Michael Braun: Der blinde Engel
Der Tagesspiegel, 11.7.2004

Hans-Herbert Räkel: Das Gaudi der Nachwelt
Süddeutsche Zeitung, 2.12.2004

Dieter Schlenstedt: „Schutzgott good bye“
Neues Deutschland, 13./14.8.2005

 

Über Karl Mickel

Unter den Autoren der mittleren Generation in der DDR gibt es heute elf oder zwölf, die gute Gedichte schreiben; das erstaunliche Phänomen ist bisher auch im Inland kaum zur Kenntnis genonmmen, viel weniger gewürdigt oder auf seine Gründe untersucht. (Auf letzteres ist sicher leicht zu verzichten, wichtig ist ja, daß die Texte gedruckt werden; Würdigung dagegen könnte die Kluft zwischen durchschnittlichen Leseerwartungen und neuerer Poesie, die, sieht man in Schullesebücher, achtzig Jahre betragen dürfte, schmaler machen.) Unter jenem Dutzend sind drei oder vier, deren beste Arbeiten höchstem Anspruch standhalten, Karl Mickel gehört zu ihnen ohne Zweifel. Ihrer Methode gemeinsam ist Genauigkeit in der Behandlung des Gegenstands – das Charakteristische regiert das Ästhetische −, scharfes, am Marxismus geschultes Reflektieren der Epoche und das bewußte Weiterarbeiten klassischer poetischer Techniken. Wenn deren Hauptkategorien Strenge und Einfachheit sind, und wir einräumen, daß Einfachheit nicht an umlaufenden Vorstellungen von Verständlichkeit, sondern an der Durchleuchtung des Gegenstandes zu messen sei, ist Mickel ein klassischer Dichter. (Man verzeihe die Formulierung. Ich möchte aber erinnern, daß Georg Heym mit 25 ertrank, und Brecht im Alter von 40 in einem Gedicht sich „der Klassiker“ genannt hat. Der Gedanke, daß unter uns bedeutende Dichter lebendig herumlaufen und Bier trinken, ist für Mecklenburger, Sachsen und Berliner gewiß schwer zu ertragen, aber wir lernen ja alle dazu.) Die wichtigen Neuerungen, die die deutsche Poesie insbesonders für die Technik des Blankverses, das reimlose Sonett und die freie Ode Mickel verdankt, wird eine künftige Literaturwissenschaft herausfinden, die statt Raisonnement Analysen versucht.

Die Unterschrift einer vom NEUEN DEUTSCHLAND zur Zeit der 1960er Lyrikwelle veröffentlichten Fotografie Mickels lautet: „Die Fotografen haben Karl Mickel schräg von unten genommen. Haben seine Gedichte sie zu dieser Perspektive inspiriert?“ Der Text ist so tolerant wie absichernd: er läßt durchblicken, da dichte ein Kauz (ein bißchen verrückt, aber man kennt ja Künstler), und läßt ein Loch für andere Folgerungen; „die richtige Perspektive finden“ war eine, gewöhnlich zu Zwecken der Erziehung benutzte, Lieblingsfloskel jener Jahre. Auf jeden Fall artikuliert er Befremden. Dies zu Recht, aus zwei allgemeinen und einem speziellen Grunde.
Denn einmal gehört es durchaus zum Wesen von Poesie, Befremden zu erzeugen. Poesie läßt, vermittels der höchst subtil angeordneten Wörter und Sätze, mit denen sie ihre Gegenstände vor uns bringt, uns diese plötzlich neu sehen, anstatt daß wir sie wie Üblich wiedererkennen und wegregistrieren. Erstaunlicherweise liefern die so ins Gedicht geholten Dinge, Ereignisse und Träume – etwa Ankommen zu Hause („Odysseus in Ithaka“), Biertrinken („Bier. Für Leising“) oder der Wunsch, einen großen Tisch zu besitzen („Der Tisch“) – dann die Information, daß nicht nur von ihnen die Rede ist, sondern von uns und der Welt. Schklowskij hat diesen Vorgang 1916 Verfremdung (ostrannenije) genannt, Brecht, der den Terminus Anfang der dreißiger Jahre von Tretjakow mitgeteilt bekam, ihn auf eine besondere Art des Theaterspielens bezogen, er findet aber in vieler Kunst statt, immer in authentischer Dichtung. Da nun alle Verfremdung bewirkenden poetischen Techniken sich mit der Zeit einbürgern und folglich abnutzen, das heißt keine poetische Information mehr transportieren, sind die Dichter, wollen sie Neues mitteilen, von Zeit zu Zeit gezwungen, vorhandene Ensembles sprachlicher Verfahren für ihre Zwecke umzuorganisieren. Die neuen Töne, die so entstehen, werden aber, so laut man öffentlich nach ihnen gerufen haben mag, oft mit Befremden, nicht selten mit Empörung quittiert, ich spreche von den milden Fällen. Sehr junge Gesellschaften nämlich, die sich festigen müssen und darum rundum Affirmation zu brauchen glauben, empfinden schon geringe Abweichungen von einem Kanon, der augenscheinlich nützlich, zumindest harmlos war, als beunruhigend, ja negativ oder zersetzend. (Tatsächlich zersetzt ja Poesie eingefahrene Sehweisen, freilich im Interesse der Menschheit.) In Umkehrung der Sachverhalte schilt dann oft eine Gesellschaft ihre besten Künstler undankbar oder versponnen, statt sie zu lesen. Der dritte, spezielle Grund ist, daß Mickel schon Anfang der sechziger Jahre zwei Illusionen nicht mehr hatte, denen wir noch anhingen. Man kann aber die Regel aufstellen, daß das Abwerfen von Illusionen den inneren Freiheitsraum vergrößert, also, nicht nur in der Kunst, Realismus wahrscheinlicher macht. Illusion 1 war, Gedichte könnten Maßgebliche dazu bringen, darin als ärgerlich beschriebene Zustände abzustellen; im Vokabular der Weimarer Klassik hieß das Fürstenerziehung. Illusion 2 meinte, die gleichen oder andere Gedichte könnten Massen blitzartig veranlassen, alte Denk- oder Verhaltensgewohnheiten gegen bessere zu wechseln, der Effekt heißt in der Religionsgeschichte Bekehrung. Die Wirkweise von Kunst ist nun aber nach aller Erfahrung homöopathisch und allmählich, gleicht also eher dem Mahlen der Mühlen Gottes. Poesie kann auf die Dauer im Leser Sensibilisierung hervorrufen, deren jede auf Humanismus ausgehende Gesellschaft dringend bedarf; sie benutzt und benötigt diese Sensibilisierung, um Einsichten über das Befinden des Ich in der gegenwärtigen Welt, die anders nicht mitzuteilen gehen, an höchst seltsamen und alltäglichen Gegenständen in einem ernsten Spiel aufleuchten zu lassen. Etwas durch Poesie evident erleben, muß aber nicht heißen, daß man es schnell praktisch verwerten kann; feinere Stufen des Urteilens, Liebens und Lebens sind schon viel, die Entwürfe oder Ahnungen schöneren gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Poesie ausdrücklich oder im Verschweigen enthält, wären keine, wenn sie sich gleich einlösen ließen. Mickels Gedichte, so beschreibend sie sich geben, enthalten einen immensen Überschuß an Zukunft: man wird sie noch lange brauchen.

Wenn Mandelstams Satz gilt, eine Gesellschaft könne sich ihre Dichter ebensowenig aussuchen wie jemand seine Eltern, bedeutet das für die Gesellschaft Anstrengung (sie kann ihre Dichter freilich auch wegwerfen, hat aber dann den Schaden), für den Dichter eine Last, die er, gern oder zähneknirschend, auf sich zu nehmen hat. Denn je mehr er von seinem Geschäft versteht, desto mehr muß er verantworten. Er wird so zum Schwerarbeiter: er muß weise werden, und dabei naiv bleiben; er soll unterhalten, aber auf erschütternde Weise; er muß die Wahrheit sagen, aber druckbar machen; er muß sein Handwerk verfeinern, aber so, daß die Anstrengung Spiel scheint usf. Er balanciert so dauernd am Rande des Möglichen, d.i. in einem n-dimensionalen Raum auf n scharfgeschliffenen Rasiermessern. Das erfordert eine zähe Natur, wir wollen die Kosten der Siege nicht nachrechnen, sie sind, wie wir wissen, oft schauerlich.
Abstrahierend können wir bei Mickel zwei Grundarten poetischen Redens finden: eine agitatorische, die mit grob, zuweilen höhnisch schlagenden Formulierungen arbeitet, und eine durch sprachliche Engführung oder extremen Redundanzmangel äußerst komprimierte, die hermetisch zu werden droht. Erstaunlicherweise enthalten auch die Texte des zweiten Typs fast immer einprägsame Verse; nach Hermlin (und dem späten Brecht, der aber noch heute wenig gelesen wird, was wahrscheinlich an den Editionspraktiken liegt) gab es erstmals bei Mickel wieder Zeilen, die einem nicht aus dem Gedächtnis gehen, z.B. Und besser, als es Uniformen können / Wärmt sie das Feuer, drin die Uniformen brennen („Die Friedensfeier“, 1962) oder die seltsame Schlußformel O Regen November Mai aus „Der November“ (1965); 1972 endet „Inferno XXXIV“: Selbst im Arsch des Teufels / Will Dante, was er wahrnimmt, wissen. Zitierbarkeit, die ja, anders als Eingängigkeit, voraussetzt, daß im Zitat Welt gefaßt ist, kommt so als ein Kriterium dauerhafter Dichtung wieder in den gemäßen Rang. Wichtiger ist, daß in den besten Stücken beide Redearten einander durchdringen, so daß sie sich in der mehrfachen Bedeutung des Wortes aufheben. In „Demselben“ führt ein hermetischer Anfang (hermetisch, weil zwar einfach die Geschichte von Tantalos’ Täuschungsversuch an den Göttern resümiert ist, bloß wer kennt die noch) Über einen agitarorischen Mittelteil mit dem Untertext „erstaunlich, daß ich lebe“ zu dem ungeheuren Schluß Normal wie üblich ist mein EKG / Wenn ich ein Messer, scharf und schneidend, seh, in dem die Antithesen verschmelzen.
Mickel ist gebürtiger Sachse und lebt als Marxist in Preußen; der Grundton seiner Poesie – beherrschter Ingrimm, der sich zu weilen Traurigkeit gestartet – kommt aus gespannter Sensibilität, die die Epoche erfährt und in handwerkliche Zucht genommen ist; das Maß, auf das hier Inneres durch Äußeres gebracht ist, vibriert noch: Mickels Vorliebe fürs Frappierende ist Dienst am Leser. – Ich muß mich kurz fassen und zähle Vorzüge von Mickels Gedichten auf. Erstens. Die Texte sind, auch wo Schreckliches mitgeteilt wird, souverän und machen das Mitgeteilte verfügbar. Der zugrundeliegende kategorische Imperativ ist, daß der Dichter, dichtet er, in Lust oder Schmerz nicht zu schreien, sondern zu artikulieren hat. Zweitens. Die Verfahren sind, da präzis auf die Sache – Durchleuchtung von Realität – berechnet, in ihrem oft abrupten Gegeneinander von Zartem und Grobem, hoher und Umgangssprache, regulärem und aufgerauhtem Vers, Utopie und Reportage geeignet, auch Lust am ineinandergreifenden Spiel der Strukturen zu wecken; dies ist Lebenshilfe. Die Schönheit von Schachspielen – die nur die Ebene von Entscheidungsfindungen aus einer unübersehbaren Menge von Möglichkeiten spiegeln – ist dagegen kläglich. Schach modelliert Strategien, Poesie dagegen Leben, das zwar Strategien enthält, darauf aber nicht zu reduzieren ist. Drittens. Die Gedichte geben ein Panorama der DDR aus Landschaften, interpretierter Geschichte, Wissenschaft, Baukunst, Politik bis zu Hinterhöfen, Kneipen, Krankheiten, Hausfrauenalltag und Interhotels; sie sind weder beschränkt auf Parabeln, noch verschlüsseln sie in einer Geheimsprache Weisungen der Sorte, man solle sich nicht immer geradeaus, sondern gelegentlich auch hopsend im Zickzack bewegen. Viertens. Gleichwohl sind die Gedichte von philosophischer Tiefe, d.h. stürzen sich mit denkerischem Mut in Abgründe, über die andere elegant weggleiten; ihre Mehrsinnigkeit ist erholsam. Fünftens. Die Großformen sind ebenso prägnant gebaut wie die kurzen Texte, manche der letzteren sind Großformen im Kleinen. Sechstens. Es gibt Gedichte (das bewundernswürdigste ist für mich „Dresdner Häuser“), die man immer wieder lesen kann, zumal in Augenblicken der Niedergeschlagenheit. Siebentens. Die Belehrung ist, wo sie vorkommt (sie kommt fast immer vor) strikt, ohne missionarische Geste und, ich entschuldige mich nochmals, anwendbar. So hätte man, was man über die einst erklärte Schöne Menschengemeinschaft heute weiß, aus einem Text von 1965 („Epistel“) schon beziehen können.

Rainer Kirsch, in Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 6, Dezember 1976

(…)

Mickel ist 1,75 groß, er wird 41 und wiegt 62 Kilo. Er ist Zigarrenraucher, als Getränk bevorzugt er Rotwein, ist aber darauf nicht festgelegt. Verabredungen hält er mit sicherer Intuition entweder ein oder nicht ein. Er gehört zu den wenigen Menschen, mit denen man eine Nacht verreden kann, ohne sich je zu langweilen. Er fährt ein Diamant-Rennrad und spielt mit Vehemenz Tischtennis, erfolgreiche Schläge des Gegners bedenkt er mit Beifall, erfolgreiche eigene erklärt er. Sein Lesekonsum ist enorm; er teilt daraus mündlich, gelegentlich in Essays mit, die ebenso stringent wie voll verdeckter Überrumpelungen sind. Die Vorstellung, nur gelesen zu haben, was er an Büchern besitzt, entsetzt ihn. Er weiß viele eigene Gedichte auswendig und bietet sie im geselligen Kreis ohne Zögern; eine Professur über deutschen Versvortrag könnte er konkurrenzlos ausfüllen, doziert aber in diesem Jahr nur gastweise an der Friedrich-Schiller-Universität Jena über Probleme des Erbes. Eins der besten Gedichte von Volker Braun bezieht sich auf den Zyklus „Mottek sagt“, es geht: 1
Die Befürchtung, keiner werde Mickel verstehen, würde ich freilich weniger aus den Texten als aus Brauns aktionistischem Romantismus erklären; im übrigen scheint mir das Sonett wahr.

Rainer Kirsch, Januar 1976, Nachtrag zu dem Akzentebeitrag erschienen in Rainer Kirsch: Amt des Dichters, Hinstorff Verlag, 1979

„Dichten heißt: Die permanente Gefahrenstelle produzieren“2

– Karl Mickels lyrisches Schreiben

Und dein Gelächter. Karl, jongliere
Volker Braun, 21.6.2000
3

In den Gedichten habe ich (: soweit
mir das möglich war, versteht sich) die
Gegenstände zu optimaler Klarheit gebracht.

Karl Mickel4

Karl Mickels Texte sprechen in virtuosen Gegensätzen und eignen sich eine Umgangssprache an, die das Derbe nicht scheut; sie bedienen sich einer Kunstsprache, deren Lehrmeister Dante, Klopstock oder Goethe und auch Marx heißen. Mickels Schreiben – Lyrik, Prosa, Dramatik – ist zugleich gediegen und grobianisch, seine lyrische Stimme unüberhörbar. Die geschichtsphilosophische Komplexität von Mickels Texten sperrt sich gegen politische Glättungen. Sie beeindrucken durch formale Präzision, die sich an der Rigorosität eines exponierten proletarischen Tons reibt. Das engagement darin ist unhintergehbar.
Mickels Pose des Zigarren tauchenden Diamantrad-Fahrers und Rotweintrinkers sollte auffallen5 und brachte ihm allzu leicht den Vorwurf der Prahlerei ein, wiewohl dieser eher den Verdacht gegen einen hedonistischen Unterton bezeichnet. Der aber wird in den Texten immer schon durch ironische Brechung zerstreut. Eine expressive Poetik der Leiblichkeit ist zentraler Bestandteil von Mickels Texten, die prüden Vorbehalten gegenüber dem Somatisch-Lustvollen mit einer Verve begegnen, die sich aus dem Interesse am Menschlichen speist und sich in körperlichen und geistigen Begegnungen so recht entfalten kann. Die Ungeschminktheit der Sexualisierung in seinen Texten überzeugt. Ulf Heise nennt ihn im Nachruf jedoch den „unbekannteste[n] unter den bekannten ostdeutschen Dichtern“.6
Den Wesenszügen dieser kurz skizzierten Poetik wird im Folgenden anhand exemplarischer Texte Mickels nachgegangen. Erkennbar wird die bleibende Originalität im Schreiben dieses sächsischen Autors in Preußen,7 geboren 1935, exakt zwischen den als generationelle Pflöcke eingeschlagenen Jahren 1929 und 1939. Jene Skizze bezeichnet knapp die Einheit der inneren und künstlerischen Widersprüche, sie erklärt sie nicht. Wie also verlief sein Weg?
In den späten 1950er-Jahren war Mickel Redakteur bei der Zeitschrift Junge Kunst und Mitglied des Studentenkabaretts Die Brechbohnen. Die Rhetorik und die Inhalte seiner Gedichte aus dieser Zeit passen sich in die politische Systemkonfrontation jener Jahre ein – beispielhaft „Brandt & Co“. (1958)8 oder „Ansprache des Arbeiters D. an einen neuen alten Kollegen“ (1961):

Vor einigen Tagen fiel uns die Arbeit
Einiger andrer Kollegen
Zeitweilig zu.
Wir atmeten auf: Sie
standen an der Grenze
.
9

Mickel studierte Wirtschaftsgeschichte. Zwischen 1965 und 1971 war er als diplomierter Wirtschaftshistoriker Mitarbeiter von Hans Mottek an der Hochschule für Ökonomie Berlin. 1971 bis 1978 gehörte er zur Leitung des Berliner Ensembles um Ruth Berghaus. 1966 gab Mickel gemeinsam mit Adolf Endler die Anthologie In diesem besseren Land heraus und war Mitautor der Vorbemerkung.10 Der Band privilegierte explizit ästhetische Kriterien:

Endler und ich einigten uns sehr schnell, politische Ansprüche nicht gelten zu lassen, sondern strikt den Maßgaben der Kunst zu folgen.11

In der Weigerung gegenüber dem Politischen steckt hier das Politikum. In der Auswahl zeigte sich eine ostentative Diskrepanz zu präskribierter eindimensionaler Semantik lyrischer Weltaneignung. Mickel beteiligte sich engagiert an der Lyrikdebatte in der FDJ-Zeitschrift Forum, mit der in der DDR „ästhetische Standards“12 für Lyrik und ihre Rezeption entwickelt wurden. Sein geschichtsphilosophisches Gedicht „Der See“ stand zeitweilig im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen, in der die apodiktische Rhetorik literaturpolitischer Vorgaben13 auf die literarisch-ästhetischen Positionen von Autoren und Literaturwissenschaftlern prallte. Mickels Aussage, nicht einfacher schreiben zu wollen,14 ist mehr als eine Geste schlichter Verweigerung, sondern prononcierte Ernsthaftigkeit gegenüber der Literatur. In der Literaturgeschichtsschreibung wird meist nur Mickels Rolle in der Forum-Lyrikdebatte hervorgehoben, an die sich ein bloßer Hinweis auf seine poetische Originalität knüpft.15
Mehrere Gedichtbände – Lobverse & Beschimpfungen (1963), Vita nova mea. Mein neues Leben (1966), Eisenzeit (1975) und Geisterstunde (2004), 16 sowie als Bände eins und zwei der Werkausgabe, Gedichte 1957–1974 (1990) und Palimpsest. Gedichte und Kommentare 1975–1989 (1990) – bezeugen Mickels beachtliche literarische Aktivität. Hinzu kommen der umfängliche Essayband Gelehrtenrepublik und acht Theaterstücke und Opernlibretti. Nach Palimpsest vereint sein letzter Band Geisterstunde noch einmal Lyrik aus der Zeit vor und nach 1989/1990.17udwig/Meuser), S. 137–153 Zum Werk des am 20. Juni 2000 noch nicht 65-jährig Gestorbenen gehört der unvollendete Roman Lachmunds Freunde, die Geschichte der Freunde Bär, Hammer und Lachmund. Mickel hat mehrfach auf die Bedeutung dieses Textes (begonnen 1968) hingewiesen.18 Lachmunds Freunde – noch in seiner Fragmentarizität – verhandelt profund geschichtsphilosophische Fragestellungen, deren wichtigen Bezugspunkt u.a. das Zitat von Benjamins neunter These in Über den Begriff der Geschichte bildet.19 Weil er „gelernter Historiker“ sei, so Mickel, könne er nicht „historischen Stoff paradigmatisch für Gegenwart setzen […]. Aber: in jedem Stück Geschichte den Geschichtsgang, das bedingte Wechselspiel variabler und invariabler Trieb- und Retardationskräfte.“20 Die Aussage hat über den Roman hinaus unbedingt Gültigkeit für sein Werk. In Lachmunds Freunde wird dies exemplarisch an mehrfachem sportlichen Kräftemessen als Widerstreit der Kräfte im historischen Prozess vorgeführt. In einem Essay setzt Mickel hinzu:

Gegenwart ist Spezial- und Grenzfall des Geschichtsprozesses, die ganze Geschichte ist anwesend.21

In seinem letzten Lebensjahrzehnt war er Professor für Verssprache an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin (ab 1992) und arbeitete intensiv am Zweiten Buch von Lachmunds Freunde, konnte es jedoch nicht mehr fertigstellen.22 Dem Roman, wie Mickels Werk insgesamt, blieb eine seiner literarischen Qualität angemessene Aufmerksamkeit leider weitgehend versagt.23 Diese Literatur kennzeichnen indes ausgeprägte Emphase und bedachtsame Lehre, Ironie und Direktheit und die dialektische Thematisierung eines weiten historischen Horizonts.
Diese Untersuchung nimmt Gedichte aus Palimpsest und Geisterstunde in den Blick, die vor und nach 1989 entstanden sind, und fragt nach den durchgehaltenen ästhetischen und inhaltlichen Strategien von Mickels Schreiben. Leitend ist die Frage, inwiefern die Texte ihre gesellschaftliche Bedeutung vermitteln, „de servir la collectivité“.
24
1975 geschrieben, thematisiert „So sehen die aus:“ die brutale Militärdiktatur des Generals Pinochet in Chile. Eine Infinitivreihung eröffnet das Gedicht, das nur im letzten Satz eine finite Verbform aufweist. Diese reduzierte Grammatik erinnert an die Sprache von Militärs, und mit ihr werden die Taten der Militärjunta dokumentiert, die durchaus marodierenden SA-Truppen ähnelt. Die Bezüge werden zum Ende hin klarer, Chile taucht am Schluss explizit auf:

SO SEHEN DIE AUS:

Durchsuchen umstellen erschießen
Knüppeln plattwalzen
Drauftrampeln mit ihren Stiefeln
Die Bücher verbrennen
Den Kindern die Milch wegnehmen
Zwei linke Pfoten, aber dem Sänger die Hände am Hand-
aaaaagelenk abhacken
Impotent und die Frauen mit Strom stoßen
Mit diesem Nixon unter einer Decke
Der Aufbau der Steinzeit
In Chile. Die Welt ist klein
.25

Der Text benennt die Taten der Pinochet’schen Milizen nach dem Putsch gegen den 1970 frei gewählten Präsidenten Salvador Allende. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er dafür gesorgt, dass jedes Kind jeden Tag ein Glas Milch bekam. Die Militärjunta trieb ihn am 11. September 1973 in den Selbstmord. Auch das Schicksal des Sängers Victor Jara wird erwähnt. Der Zeilenbruch mitten im Wort zeigt die Folter an dem am 16. September 1973 Ermordeten auch medial an. Die Unterstützung der Pinochet-Diktatur durch die damalige US-Regierung bleibt nicht ausgespart. Die – zumindest grammatisch – simplifizierte sprachliche Form inszeniert die Drastik des dargestellten Geschehens, zu dem sich das sprechende Subjekt in klarer Ablehnung positioniert. Dies geschieht im Titel und wird durch die Wortwahl weiter verdeutlicht. Wer mit ,die‘ bezeichnet ist, wird nicht explizit gesagt, die Täter werden anhand ihrer Unmenschlichkeit und ihrer Greueltaten identifiziert. Der Text gibt sich als scheinbar unpersönliche Dokumentation der Ereignisse und als engagierte Stellungnahme, in der die Bluttaten der Militärjunta in Chile eindeutig als Verbrechen erscheinen. Die sprachliche Form vermittelt darüber hinaus die Unausweichlichkeit der täglichen Realität der Pinochet-Diktatur. Gerade der Schlusssatz fasst dies denkbar einfach. Anstatt politische Emotionen lehrhaft vorzugeben („Ansprache des Arbeiters D. …“), zielt das Dokumentarisch-Parolenhafte der Darstellung vielmehr auf die strikte Ablehnung der Pinochet-Diktatur, die sich durch eine Auffüllung mit zeithistorischen Bezügen verstärkt. Diese unmittelbare Thematisierung der historisch-politischen Lage lässt sich als einer der Wesenszüge des Mickel’schen Schreibens sehen. Die Konkretheit der zugrundeliegenden Ereignisse, die dieser Text zeigt, bleibt allerdings in den Vor- und Nach-1989/90er-Arbeiten eher selten.
Mit der 1980 entstandenen „Dritten Ode“, in der Fußballfans, die Atmosphäre im Stadion, Fußball als maskulin codierter Sport sowie die Einstellung des sprechenden männlichen Subjekts zu den Vereinen vorgeführt werden, entsteht ein Zusammenhang zwischen Fußball und römischen Gladiatorenspielen. Durch ein Mindestmaß an leiblicher und geistig-emotionaler Zufriedenheit erzeugen panis et circenses politische Ruhe. Auch die Motivik von „Römchen“ (1996)26 greift dies sarkastisch und mit Bezug zur narkotischen Funktion des Fernsehens erneut auf.
In das populäre und den ,Proleten aus Sachsen‘ alludierende Thema Fußball27 wird in „Dritte Ode“ geschichtsphilosophische Reflexion eingespielt:

Des Meisterwerks Mängel
Sind, sagt Herder
Seiner Verdienste Narben
Das kennen die 30000
28

Diese Applikation der Herder-Sentenz29 auf die knappe Verhinderung eines Dresdener Eigentors erinnert an den Essayisten Mickel, bei dem es um die „konkrete soziale […] Frage“30 geht. Die Schlachtenbummler als gesellschaftliche Institution stehen dementsprechend im Zentrum der Ode:

Und die Chöre (: der Chor
Wissend was war und was sein wird
Erörtert des Spiels Belange
Mit Freimut)

Schallen aus nackter
Aufrecht wie Schwänze
Wippender Arme Wald:
Hinein. Hinein. Hinein. Hinein. Hinein
.
31

Die Armbewegungen markieren den sexuellen Subtext, in dem der fußballerische als koitaler Höhepunkt vorbereitet wird. Der optativ antizipierte Torschuss zeigt sich als Siegeserfüllung im Spiel und als sexuelle Befriedigung maskulinen Begehrens gleichermaßen (Strophen 19–22). Mickels Ode spielt auf diese emotionale Verausgabung der Fußballanhänger an, die immer auch jouissance enthält. Das weibliche Geschlecht erscheint nur als Anhängsel. Der sexualisierte Sprachgebrauch im Text simuliert eine in dieser Rollenvorstellung exponierte Männlichkeit und stellt die Phallolatrie maskuliner Wunschvorstellungen ostentativ aus. Der machtpolitische Sinn der circensium erscheint erneut in der Parallelisierung dieser (doppelten) Zufriedenheit.
Später dominiert die Verschränkung von sozialer Position und struktureller bzw. systemischer Gewalt und einem (sozial-)historischen Kontext in der Öffentlichkeit des Fußballs am Schauplatz Berlin:

Polster schlitzen die Sprößlinge
Jack the Rippers
Narrenhände
Kratzen Klartext

Nichtraucher
aaich rauche
Nicht hinauslehnen
aaich      au le

Müggelbergallee
aaaaagelbe galle
Der Raum
Der

Vor der Führerstandtür
aaaaaaaaFührer
Ist freizuhalten
Ist      zu alt
32

Diese Umdeutungen von Warn- und Verbotsinschriften werden im Gedichttext als Palimpseste reproduziert. Sie suggerieren eine materielle Gleichzeitigkeit dieser objets trouvés, die außerhalb des Textes nicht gegeben ist. Vielmehr tritt ein vermeintlicher Subtext der Inschriften durch das Auskratzen an deren Stelle. Die Ode lässt den Dualismus von – der Zeilenanordnung folgend – Supra- und Subtext sichtbar werden. Dies sind Varianten jener ,sozialen Frage‘, zu denen Schmutz und Unwirtlichkeit des aufgerufenen proletarischen Milieus gehören:

Eisern
Union
Elf von Schweine-Öde
Wo Tag nicht Tag und Nacht nicht Nacht ist

Fahle Blitze
Zücken aus Schwefel-Brodem
Chlor-Dünste beleuchtend
Über Öl-Flüsse

Und die Verdammten
Dieser Erde, grau wie Zement-Säcke
Die Schultern krümmen in Warte-Hallen
Und Werk-Höhlen
33

Der verfassungsmäßige Grundsatz „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“34 scheint dort nicht zu gelten und der Ort wird als Hölle konnotiert, anwesend im alliterativen Konnex zwischen ,Warte-Hallen‘ und ,Werk-Höhlen‘. Durch den Schwefeldampf ist Nibelheim aufgerufen, wo in Wagners Ring Alberich die Nibelungen zur Arbeit zwingt.35 Auch dessen Antipode wird genannt:

Eisern

Gegen die West-End-Clubs
Licht-Albe
Tennis- Preußen
36

Die Fußballclubs (Union Berlin, Tennis Borussia) sind als Vertreter sozialer Schichten konnotiert, die im Antagonismus von Unten und Oben bzw. Arbeiter/Volk und Obrigkeit/Bourgeoisie erscheinen. Mit dem Lichtalben (Wotan) wird die hierarchische Weltordnung sichtbar, die sich in der Polarität der Vereine und in Wagners Ring darstellt – auch im DDR-Fußball:

Das Spiel

Im Ernst, dumpf, geht
Das alte (: die Bourgeoisie
Ist aufgehoben, da Prolet Prolet
Bleibt) in ernsten Gesängen um
37

Der Text decouvriert die ,Aufhebung der Bourgeoisie‘ als Assertion und erweist anhand der Fußballclubs noch die bestehenden politisch-sozialen Klassenverhältnisse innerhalb der DDR. War der BFC ein MfS-Eliteclub, so blieb Union der Arbeiterverein, den die Ode zeigt (,Prolet bleibt Prolet‘). Der fußballerische Klassenkampf aber besteht fort. Die „Truppe BFC“,38 kampfgruppenähnlich, ist die Macht, der die Unioner in der stellvertretenden Auseinandersetzung auf dem Rasen Paroli bieten. Eine Ahnung von der Sprengkraft hinter dem politisierten Gegensatz liefert auch der intertextuelle Verweis auf Brechts „Böser Morgen“39 aus den Buckower Elegien. Dies bricht den ludistisch-panegyrischen Ton. Die Anspielung zeigt die blutig-tödliche Gewalt im Klassengegensatz, deren Unterlegene weiterhin sozial unterliegen. Das schwärende Verhältnis von Regierenden und Regierten existiert fort. Mit Mickel wäre zu schließen:

Vernunft muß gelehrt werden, auch ästhetisch. Kunst ist Unvernunft und gehorcht drakonischen Gesetzen: denen, die sie sich selbst gibt. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt; die Gesetze dieser Welt codifizieren die Anarchie.40

Die Ode endet im Zwiespalt. Sie ist nicht nur Gewand für schlichte Fußballeuphorie. Indem sie ein „Stück Geschichte“41 fasst, erlangen deren polyphone Schichtungen Plastizität. Sie zeigt Verläufe, die das Geschehen bedingen und sich widersprechen und die das Aufbrechen einer Kluft in der lyrischen Subjektivität des Textes und der politisierten Wirklichkeit anzeigen. Der Zuschauer im Stadion hat nur geringsten Einfluss auf das Geschehen, das ihn hingegen umso mehr beeinflusst. Die „Dritte Ode“ bringt den unausgesetzten Widerstreit zwischen politisch und sozial Unterlegenen und Obrigkeit zur Sprache. Feierliches Sprechen feiert mithin nicht die Errungenschaften etwa der DDR-Gesellschaft, sondern entlarvt gerade das Chimärische dieser Panegyrik. Die Disziplin der poetischen Form aber bricht sich in der (fast anarchischen) Gewalt, und die sportlich-festliche Exzeption gegenüber dem Alltag gemahnt eigentlich an den politischen Ausnahmezustand.42 Im Jahr 1990 veröffentlicht, reicht dieser Mickel-Text eine 1980 verfasste Diagnose nach, die, im Rückblick gelesen, das Aufbrechen von Kontradiktionen anzuzeigen scheint, das neun Jahre später sich ereignen sollte. Die dialektische Rolle des Chors aus „Dritte Ode“ – „Wissend was war und was sein wird“ – griff Mickel später erneut auf:

Jeder Schritt, den die Staatsmacht zu ihrer Erhaltung unternahm, brachte sie der Grube näher. Die berliner, dresdner und leipziger Straßen nahmen eigentümliche ästhetische Gestalt an. Herbst und Winter 89/90 zeitigten einen ,Chor in natura‘, der energisch, als sein einziges Geschäft, sein raschestmögliches Verschwinden betrieb. Der Fortgang der Geschichte quittierte den Ausgang des Stücks.43

,89/90‘ ist in den Texten des letzten Gedichtbandes Geisterstunde ein zentraler thematischer Bezugspunkt. Die doppelte Erfahrung von DDR und BRD ist darin virulent, zu der vor allem eine distanzierte poetische Haltung hinzukommt, die pointiert die Paradoxien freilegt, in denen Gesellschaften und Geschichte funktionieren, ja die die „Codes der Welt […] knacken“.44 Die parallele Anordnung der unterschiedlichen Stimmen in Der Oktober zeigt partes pro toto das gesellschaftliche Verhalten und politische Agieren exemplarischer ,Sprecher‘. Die Distichon-Form (mit kleinen Regelverstößen zumal) lässt an Schillers und Goethes Xenien und deren Nähe zu ihren tagespolitisch-gesellschaftlichen Gegenständen denken. Mickels Distichen könnten durchaus allein stehen, werden jedoch durch die Überschrift und den paratextuellen Hinweis auf 1989 zusammengebunden:

DER OKTOBER

ZEITUNG
Was denn! Wir mußten ja lügen. Nur sind wir im Kern die moralisch
aaaHöchste Instanz der Nation: girrt die Journaille. Ja. Doch.

DIE LÖSUNG
Milchende Volkseigene Kuh: schlägst du dem melkenden obern
aaaPöbel den Schwanz an das Ohr, wirst du im Ganzen verkauft.

ANNONCE
Ich bin doch einer von euch! Sieht so der Prolet aus? Ich tausche
aaaNomenklaturposition gegen das Aktienpaket.

BACULUS
Tanzen und Springen, Prolet, wird jetzt ökonomisch der Hebel
aaaÖkonomisch der Stock auf deinem Buckel, Prolet.

DÄMONSTRATION
Wir sind das Volk! ruft das Volk. Demnächst, daß es Ein Volk sei:
aaaWird es grölen. – Vergib, sollte ich irren, o Volk.

DER STEIN
Großdeutschlands Grundstein, man weiß, ward in die Mauer vermauert.
aaaSuchet also ihr den? – Schätzchen, da hast du den Schatz.

(„Oktober 1989“)45

Rückblickend haben sich die inhaltlichen Aussagen zumeist bewahrheitet.46 In ,Dämonstration‘ z.B. ergibt sich durch die orthographische Verfremdung eine Verbindung zum Titel des Bandes, sodass die angesprochene Veränderung des klassischen Sprechchors der 1989er-Montagsdemonstrationen geradezu geisterhaft erscheint. Der Wechsel vom ,Rufen‘ zum prognostizierten ,Grölen‘, lässt sich als Zusatz lesen, dessen pejorative Semantik die Interpunktion und der Zeilenbruch noch verstärken. Zudem unterliefe ein regelmäßiges hexametrisches Versmaß die durch die Versalie in „Ein“ grafisch vorgegebene Lesart. Statt auf dem ausgetauschten und auf die nationale Einigung verweisenden ,ein‘ läge die Betonung – weiterhin – auf ,Volk‘. Eine solche Paradoxie zeigt das Potential dieses Zweizeilers an, in dem die Tilgung des bestimmten Artikels als Politikum gezeigt und deren politisches Ziel obendrein desavouiert wird. Wortwahl und Bildlichkeit des sechsten Teils vergrößern nochmals die kritische Distanz zum nationalen Diskurs, ironisieren diesen und decken noch dessen nationalistische Schattierungen – ,Großdeutschland‘ – auf. Der Betrachtung der historisch-politischen Veränderungen, auf die sich die Verse beziehen, fehlt die Euphorie, die die Kolportage individuell-historischer Erfahrungen von 1989/90 oft kennzeichnet. Ihnen ist eine ästhetische Erfahrung beigegeben, wenn nicht entgegengesetzt, die poetisch auf die ,Gefahrenstelle‘ in dem Taumel deutet. „Der Oktober“ ist in diesem Sinne littérature engagée und lässt sich unbedingt mit Sartres oft zitiertem Satz beschreiben:

Je rappelle […] que dans la ,littérature engagée‘, l’engagement ne doit, en aucun cas, faire oublier la littérature et que notre préoccupation doit être de servir la littérature en lui infusant un sang nouveau, tout autant que de servir la collectivité en essayant de lui donner la littérature qui lui convient.47

Hatte „Der Oktober“ die in den 1989er-Herbsttagen gewonnene ,Mehrstimmigkeit einer Gesellschaft‘ durch die emblematische Auszeichnung von Stimmen zum Thema, führt der Text zugleich deren poetische Infragestellung vor. Beschwichtigung und banale Rechtfertigung erzeugen so Misstöne im Jubel, und in den Umwandlungen wird die neue Banalität (Ausverkauf, Aktienmarkt und ökonomische Knute) sichtbar, an die sich ,Prolet‘ und ,Volk‘ zu gewöhnen haben (werden).
„Radwechsel“ (1992) setzt einen offenen Brecht-Bezug und ruft als Intertext wiederum eine der Buckower Elegien auf. Das aus alten und neuen – oder zumindest ausgetauschten – Komponenten zusammengebaute Fahrrad verweist metaphorisch auf den Moment eines indistinkten Zugleich von Veränderung und Stillstand, das in ähnlicher Weise zur Thematik des Brecht’schen „Radwechsel“ gehört:

RADWECHSEL

Gewechselt sind Schaltung und Laufräder
Der Rahmen stammt her aus dem vorigen Leben
Der eingerittene Sattel, das Licht.

So fahre ich fort.

Kastanien poltern und Eicheln prasseln
Bucheckern knistern im Sprung.
Das Hundchen am Weltrand schlägt an
48

War Brechts Subjekt aber mit dem Unbehagen an der eigenen Ungeduld beschäftigt, so kümmert sich Mickels nicht um dergleichen, sondern hebt die Fortbewegung im doppelten Sinne hervor. Das divergent-störende Dazwischen, das Brechts Text mit den zwei Mittelversen – „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.“49 – umschließt, wird in Mickels „Radwechsel“ mit einem in Bezug und Bedeutung ambiguen Einzelvers im Zentrum des Textes geradezu ,beschrieben‘. Er lässt sich semantisch an die ersten drei Verse anschließen und kann zugleich eine mögliche poetologische Einleitung zu den drei folgenden darstellen. Zudem lassen sich unterschiedliche Metaebenen denken, auf die der Vers sich gleichzeitig bezieht. ,Fortfahren‘ ließe sich dann, gedeutet etwa als Aussage mit Referenz auf ein poetisch handelndes Subjekt, als ,Weitermachen‘, möglicherweise nach einer einschneidenden Veränderung, verstehen; gelesen als Aussage mit Referenz auf die Sprechhandlung im Text, ließe sich der Vers als deiktischer Hinweis auf eine grundlegende Änderung der Thematik verstehen. Der inhaltlich unmittelbare Bezug zum Titel (und zur Brechtschen Motivik) im ersten Teil, fehlt dem zweiten. Während das Brecht’sche Subjekt grübelnder Zuschauer bleibt, handelt der Mickel’sche Radfahrer, und zwar exakt an der – intertextuell markierten – Stelle, an der das Moment der Unentschiedenheit bei Brecht am stärksten ausgedrückt sein dürfte. Der Mickel’sche Einzelvers besetzt jenes Dazwischen.
Die Fahrradmetapher enthält nur den Austausch des Antriebs, sodass grundsätzliche Veränderungen an dem Rad ausgeblieben sind. Das Bild ließe sich politisch-historisch ausdeuten und auf den Anschluss der DDR an die BRD 1990 beziehen. Die naturbezogenen und geräuschdominierten Inhalte des zweiten Teils aber lassen sich daran nicht anschließen, stehen für sich und bleiben inkommensurabel. Die Einzelkomponenten des Fahrrades ließen sich problemlos kombinieren, die Einzelteile des Textes weniger. Es bleibt die Divergenz zwischen den Textteilen, die an das Brecht’sche Subjekt erinnert und die eigentliche Aussage darstellt. Mickels „Radwechsel“ indiziert den Wechsel von Themen und Tropen. Während die metaphorische Deutbarkeit des ersten Teils auch durch die intertextuell-motivische Beziehung zum Brecht-Text ,funktioniert‘, sind die deskriptiven Momente des zweiten nicht in dieser Weise kontextualisierbar. Der vermeintliche ,Wechsel‘ lässt sich demnach als poetologische Explikation auffassen, in der eine ähnliche ,Unverständlichkeit‘ angedeutet ist, wie sie Brauns „Das Eigentum“ (1990) anspricht. Nachdem der Bezug gesetzt ist, führt Mickels „Radwechsel“ im zweiten Teil die eigene Dekontextualisierung vor, jedoch ohne als solcher nicht mehr verständlich zu sein. Der Schlussvers deutet eine Marginalisierung an, in der sich zum einen die Position des Brecht’schen Subjekts „am Straßenhang“50 auffinden lässt, in der zum anderen aber ein Resultat des ,Wechsels‘ erkennbar zu werden scheint. „Radwechsel“ indiziert Veränderungen des Diskurses und der Inhalte, die der Text exempelhaft nachvollzieht. Dies geschieht nicht ohne aktives Sich-Einschalten in diesen Diskurs.
Die Absurdität eines Traum- und Trugbildes vom Westen legt „Im Westen“ (1993) frei. Dessen Substanzlosigkeit wird gerade durch die sprachlich etwas anspruchslose Gestaltung des Textes nachempfunden:

IM WESTEN

Gibt es mehr Räder als Füße
Mehr Schuhe als Räder
Mehr Kartons und Container
Als Schuhe und Räder und Füße zusammen.

Autos gibt es im Westen, mit denen
Die Autos Auto fahren
Plakatwände
Werben für Plakatwandwerbung.

Im westlichsten Westen
Vor der Plakatwand am Highway
Im Staate Nevada (: schreibt Brinkmann)
Sah er ein totes stinkendes Stinktier.

Das Stinktier ist aber unsterblich, weil es
Um zu stinken nicht sterben muß
.51

Die Überschrift bestimmt leitmotivisch die ersten drei Strophen und ruft iterativ das legendenhafte Bild vom ,goldenen Westen‘ auf. Dieses ,Image‘ wird durch die im Text dargestellten banalen Abläufe nüchtern zerlegt und deren Leerlauf und Nichtigkeit aufgedeckt. In jedem der ersten drei Verse ist von einem ,Mehr‘ an Objekten die Rede, das selbsttätig zu wachsen scheint. Mehrwert und Wachstum als zentrale Messgrößen für den wirtschaftlichen Fortschritt ,im Westen‘ sind aufgerufen. Allerdings scheint dies zu einem Übermaß an verpackenden Hüllen zu führen, Metonymie für den Überfluss und die quantitative Dominanz inhaltsloser Äußerlichkeiten.
Die fetischhafte Selbstreferenz von Waren spitzt Strophe zwei als Hauptgedanken zu. Der erste Vers lässt sich mit einer Art ,Sehnsuchtsmantra‘ der vermeintlich automobil unter- bzw. missversorgten DDR-Gesellschaft kontextualisieren, nach dem es Autos (nur) im Westen gebe. Im Ton der Feststellungen, wie jener Westen vom Lustobjekt Auto und von Werbeflächen geradezu überquillt, verbleibt eine Spur von Staunen, das Überfluss und Sinnentleerung durch (gespielte) Naivität aufdeckt. Dies wird sprachlich etwa in der syntaktisch produzierten Reduplikation „Autos Auto“52 umgesetzt. Reihungen und Wiederholungen empfinden die Eintönigkeit des permanenten massenhaften Selbstverweises der Waren nach. Menschen tauchen nicht auf.
Dies ändern auch die Strophen drei und vier nicht, die den „westlichsten Westen“53 quasi als Superlativ des Westens vorführen. Im intertextuellen Widerspruch zu Brinkmanns „Ein Skunk“54 wird der Kreislauf des stereotypen Selbstbezugs ironisch durchbrochen. Brinkmanns Gedicht hatte den Kadavergeruch eines toten Stinktiers angedeutet:

den Atem angehalten

und das Autofenster hochgekurbelt55

In „Im Westen“ wird die (unmögliche) Unsterblichkeit des Tiers behauptet und so die Logik der Selbstbezüglichkeit ad absurdum geführt. Gerade das Stinktier, das bereits ,von selbst‘ tut, was als Nutzlosigkeit im Warenüberfluss gezeigt wurde, steht metonymisch für die funktionslos funktionierenden Dinge und muss folglich nicht erst sterben. Während die Waren in der Selbstreferenz verschwinden und ohne Zweck nur noch nutzlos sind, trifft dies auf das Stinktier nicht zu. An der Behauptung, es sei unsterblich, zeigt sich umso pointierter die absurde Selbstbezüglichkeit der wachstumsgetriebenen Warenwelt. Im Westen verweist auf die Auswüchse kapitalistischer Überproduktion und die geistige Ödnis von Konsum, Werbung und Wachstum. Es scheint, als laufe der Text selbst semantisch leer und stelle so die Leere der Warenströme dar. Erscheint die Aufzählung, die das Gedicht liefert, als positivistisch, so verfehlt es nicht sein Ziel, sondern ermöglicht eine ästhetische Erfahrung der Banalität der (grotesk wirkenden) Konsumgesellschaft.
Dargelegt werden konnte, dass und mit welcher Diversität und Intensität Mickels Texte politische und gesellschaftliche Fragen thematisieren, und zwar vor 1989/90 wie auch danach. Mickels poetisches engagement zeigt sich an den ästhetischen Anforderungen, die er offensiv stellte und vertrat – für eigene Texte wie auch für die Anthologie In diesem besseren Land. Dieser Anspruch wird in Geisterstunde durchgehalten. Die Wahl massenkultureller, gesellschaftlicher oder auch politischer Gegenstände dient deren kritischer Erforschung, aus der poetische Gebilde entstehen, die die tägliche Erfahrung und Beobachtbarkeit dialektischer Zusammenhänge bezeugen:

[I]ch habe die Peristaltik einer gescheiterten Weltrevolution am Leibe gespürt; das sind Erfahrungen, die meinen West-Kollegen […] versperrt sind. Ich aber erlebe jetzt den Westen: diese soziologische Stereoskopie geht unweigerlich in die Texte ein.56

Auf dieser Basis reichen Mickels Texte vereinzelt bis hin zu schroff anmutender Provokation:

Ich selber lebte im Interregnum
Der Führer konnte sein Werk nicht vollenden
Und nun erst wird das Netz der Autobahnen
Lückenlos über Europa geworfen
.57

Ihre Attraktivität und ihre fortwirkende Aussagefähigkeit beziehen sie jedoch nicht aus thematischen, inhaltlichen oder sprachlichen Zugeständnissen an das ,Zeitgemäße‘ oder an Nostalgie, sondern aus einem engagement, das als amüsiertes und als scharf ironisiertes Kommentieren erscheint und in dem das Maß der Erfahrung die historische Dimension bleibt, die immer auch die Relativität der eigenen Geschichte thematisiert. Mickels Texte bleiben ,Gefahrenstellen‘. Stellen also, an denen das Lesetempo zu verlangsamen ist – um der Gefahr möglicherweise zu entgehen, doch auch, um sie wahrzunehmen.

Stephan Krause, aus Mirjam Meuser, Janine Ludwig (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland Band II, fwpf, 2014

 

AN MICKEL

Schütz salutiert, es salutiert Berlin. Doch hier
In deinen Sesseln sitzen Biographen, die
Sich anerkennen, die sich was erzählen. Lebhaft
Gestaltet sich im Bereich der Ringbahn der
Kulturaustausch. Fixiert aufs Grundrecht Kunst
Trinken wir auf Zukunft und auf
Die metrischen Anstößigkeiten gegen
Den laufenden Geschmack. Jeder entscheidet für sich,
In welche Richtung der Trinkspruch abgehn soll:
,Fuck off!‘, so hallts noch lange durch die
Beste aller Lüfte.

Friedrich Christian Delius

 

NACHGEZEICHNETES PORTRAIT K.M.

Er wollte nie
Übers Maß der Dürrwanst aus Dresden (Trümmer Tuberkulose)
Fettlebe für all das Einfachste
In maximaler Klarheit furchtsam der
Den die Welt/Zeit heimsuchte mit Geistern
Irrlichternd im Sumpf-
Gebiet der Utopien die dummen
Fürsten! Der Nischel gehört ihnen
Gewaschen! sagte er Platon gegen Plattton – er liebte
Kalauer Zigarren die Pole
Der Tödlichkeit (jedwedes Zuviel) In seiner Klause
Am Mickelsee schwamm die Oper in Rotwein
Er wollte nie
Unters Maß der oft Kränkende kränkelnd
Wenn kein Kenner ihn heimsuchte mit Geistern
Verbündete gegen Mistwetter Leibweh Liebschaften das ihn
Um(b)ringende der äußerste Weltrand war es
Wo er es aushielt
Kippend
Die Stirn
Hoch

Kerstin Hensel

 

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts fand 1992 in der literaturwerkstatt berlin ein poetologisches Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel statt.

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

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Nachrufe auf Karl Mickel: Berliner Zeitung ✝ FR ✝  der Freitag ✝
Der Tagesspiegel ✝ Die Zeit ✝ FAZ ✝ ndl ✝ NZZ ✝ Ostragehege ✝︎

Konrad Franke: Der souveräne Weltanschauer
Süddeutsche Zeitung, 23.6.2000

Ijoma Mangold: Forderung nach Leichtigkeit und Höhe
Badische Zeitung, 24.6.2000

Zum 10. Todestag des Autors:

Thomas J. Richter & Heike Friauf: Eine Frage – Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Die Linke, Juni 2010

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Stefan Amzoll: Was ist das, ein Mensch?
neues deutschland, 12.8.2015

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Mickel“.

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