Karl Mickel: Palimpsest

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Mickel: Palimpsest

Mickel-Palimpsest

KREUZWEG

Alt ja bin ich und böse
Ich schnarche, schniefe und schmatze
Und kleckere mit weichgekochtem Ei.
Vokabel-Lernen war nie meine Stärke
Ich trage lieber die Dinge
Und lediglich einfachste Sätze behalte ich
Otto liegt im Gras-Sarg mit geil Anna
Vor dem Weltuntergang
Ist immer so naßkaltes Wetter.
Menschen nur im Zusammen-
Wo sie ent- den Reichtu- der Bezieh-
Die Klasse in der produktiven Sphäre
Nicht aber den Minister in der S-Bahn
Jenseits der Bettkante rede
Ich die Geliebte mit Sie an:
Sumsiismus; was soll
Teufel noch eins, aus mir werden? hä!
Am Kreuzweg rief ichs, die Ampeln
Blakten, es seufzte der Luftkreis.
Was anders denn der Vortznde des Gro
Szen Volks-Hurals entweder, scholl es, o-
Der Dritte Bruder Grimm
Rings aus den Gullies.

 

 

 

Beitrag zu diesem Buch:

Jürgen Engler: Leben in Fahrt
Neue Deutsche Literatur, Heft 10, 1991

 

Gespräch mit Karl Mickel 1994

Cécile Millot: Ich habe den Eindruck, Sie haben in den ’80er Jahren viel weniger Lyrik geschrieben als in den ’60er, ’70er Jahren. Stimmt das? Ist es nach der Wende immer noch der Fall?

Karl Mickel: Haben Sie das letzte Buch Palimpsest1 gelesen, den Band Zwei der Schriften? Das geht dicht bis 1989 heran. Es ist 1991 erschienen oder gar erst 1992. Von 1989 ist garantiert mindestens ein Gedicht dabei. Da ist die Beschreibung meines Ansatzes deutlich ablesbar. Gedichte habe ich nie sehr viele geschrieben. Die meisten sind in zarter Jugend entstanden… Aber seit 1965, seit Vita Nova2 werden Sie kaum mehr als sieben Gedichte pro Jahr zählen. Ich bin ja ein Feierabenddichter. Ich hatte immer meinen Beruf. Mehr ist es nicht, mehr muß es auch nicht sein. Ich habe kein schlechtes Gewissen dabei. Denn das ist nur das eine, ich habe anderes geschrieben. Die andere Hälfte der Frage ist, was habe ich denn seither gemacht? Ich habe am Roman3 weiter geschrieben, also am zweiten Band. Dieses Konzept stammt von 1968 und wohin der Roman treibt, können Sie spätestens im Schlußkapitel vom ersten Band und im ersten Kapitel vom zweiten Band lesen. Das stand mal ziemlich vor. Ich habe auch ein Opernlibretto geschrieben Les liaisons dangereuses4. Die Uraufführung findet nächstes Jahr im März in der Oper in Leipzig statt. Ich habe ein Totengespräch verfaßt – Dialog zwischen Marquis de Sade und Immanuel Kant5. Das werden Sie kaum zu lesen kriegen, weil das ein teurer Band für tausend Mark mit Auflage fünfzig Exemplare ist. Und das letzte war voriges Jahr ein Stück, das Beil von Wandsbek6 nach Arnold Zweigs Roman, eine Historie. Dramatisierung sage ich bewußt nicht, weil, wenn man so einen Stoff aus einer Gattung in die andere verpflanzt, dann muß man etwas ganz anderes machen. Mein Vergleich ist immer: wenn man so was macht, nimmt man eine Nähmaschine auseinander und setzt sie als Staubsauger wieder zusammen. Es dürfen Teile übrigbleiben. Aber der Staubsauger muß funktionieren. Das Opernlibretto war vor 1989 geplant. Das Gespräch mit dem Kant de Sade war vorher geplant, das Beil von Wandsbek aber nicht. Das war eine Idee der Verlegerin 7, die die Rechte gekauft hat und eben die Zweitrechte für Zweig. Und sie hat es mir einreden müssen. Gemacht habe ich es nicht nur, weil es so klang, als sei es das absolut Gegenwärtige, also wegen der vermutlichen politischen Brisanz. Das war nicht der wichtigste Grund für mich. Gemacht habe ich es, als ich entdeckte, das Arnold Zweig zumindest in diesem Buch viel mit Emanuel Swedenborg zu tun hat. Jeder redet über Zweig und Freud, aber Zweig und Swedenborg hat bisher noch keiner gesehen. Das muß ich in einem Begleitessay zum Stück publizieren. Denn es ist eine literarhistorische Entdeckung. Insofern ist es ein Kontinuum.

Millot: In Ihrer Literaturproduktion läuft es also so, als wäre nichts passiert? Aus dem Grund, daß die Wende eingetroffen ist, haben Sie nichts aufgegeben, nichts neu angefangen, nichts verändert an dem, was Sie geschrieben haben?

Mickel: Ich habe mir die Jahre vorher angesehen und mir dann gesagt: Die ganze Menschheitsgeschichte besteht aus Katastrophen, manche davon treffen zu meinen Lebzeiten ein, manche vor mir und viele nach mir. Daß sie zufällig zu meinen Lebzeiten stattfinden, darf mich beim Schreiben nicht so berühren. Ich versuche den Studenten zu erklären, was Deutsche Klassik ist. Vom Sturm und Drang zur Klassik – ich sage das jetzt in einer sehr vereinfachten These – ist es ein sehr vielfältiger Prozeß. Das Bezugssystem der Sturm-und-Drang-Jungs war – auf irgendeine vertrackte Weise durch die politische Einmischung – das Ästhetische als Politikum, während das Bezugssystem der Klassik nicht mehr die Politik ist, sondern die Geschichte. Politik als einer der Geschichtsfaktoren wird statt Movens selber zum Objekt, aber ein Objekt unter anderem.

Millot: Können Sie sagen, wann Sie Lyrik und wann Sie etwas anderes schreiben, wann Sie welche Gattung verwenden? Entspricht die Lyrik einem bestimmten Thema oder einem bestimmten Publikum, meinetwegen einer bestimmten Ausdrucksgeste? Sie verfassen ja auch Essays, obwohl man in Essays sicher nicht dasselbe schreibt wie in Literatur.

Mickel: Doch, der Essay über das Kunstwerk ist die Fortsetzung des Kunstwerkes mit anderen Mitteln. Analog der Clausewitzschen Definition des Krieges. Das halte ich schon für eine Kunstform. Längere Arbeiten werden auf Jahre voraus geplant und Gedichte, wenn es sich fügt. Ich brauche meistens eine Gelegenheit dazu. Zum Beispiel man verliebt sich.

Millot: Es entspricht also keiner besonderen Regung oder keinem besonderen Anlaß? Es gibt keinen Anlaß für Lyrik, sondern nur für einzelne Gedichte?

Mickel: Ja, so ist es. Es gibt viele beklagenswerte Existenzen. Gott, soll ich das jetzt so roh sagen? Die Existenz eines reinen Lyrikers, der allen Weltstoff in Gedichte zu gießen sich bemüht, kommt mir ein bißchen absurd vor.

Millot: Bleiben wir noch bei der Sprache. Die Beschäftigung mit Lyrik oder mit den Klassikern, die bei Ihnen so wichtig ist, ist von vielen Germanisten, vielleicht hauptsächlich von westlichen Germanisten, so interpretiert worden, als sei das eine Möglichkeit für Sie gewesen, scheinbar von der DDR Abstand zu nehmen und trotzdem das zu sagen, was sie in dieser gesellschaftlichen Situation zu sagen hatten.

Mickel: Wenn man das, was ich etwa seit fünfunddreißig Jahren dazu zu sagen hatte, überprüfen will, kann man das gut mit dieser Ausgabe8 machen, die nach Gattungen geteilt ist. Sie müssen es aber zusammensetzen, es geht eigentlich über alle Gattungen, und nur insgesamt gibt es ein Bild. Das Filmszenario vom Volks Entscheid9 ist natürlich der o. Band vom Lachmund-Roman. Das heißt, wenn man das auf die Umgebung und auf die Darstellung bezieht, dann ist mal so ein Häusel da, da eine Marmorsäule und da irgendein Flügel aus Brettern. Irgendwo ist ein Ziegeldach drauf, woanders einfache Dachpappe. Man darf sich da, glaube ich, nicht so in den Gattungen bewegen, obwohl die Wahl für die eine oder die andere Gattung sicher einen richtigen praktischen Grund hatte. 1965 kamen mit den Gedichten von Vita Nova immer mehr Schwierigkeiten. Dann gab mir Hans Mottek eine Assistentenstelle10 und ich wollte eine Dissertation schreiben: „Hochliteratur als Geschichtsquelle“ war das Vorhaben. Ich hatte zweiundzwanzig Wochenstunden zu unterrichten, und das für achthundert Mark. Das hat mich am Leben erhalten und es war auch nicht verkehrt, weil ich durch den Beruf einmal Praxis hatte, aber um beides zu verknüpfen, hätte ich eine Aspirantur gebraucht. Sie hatte Mottek auch eingereicht. Sie ist mit Hohn abgelehnt worden und ich kriegte keine einzige Stunde frei. Und dann war die Frage, was mache ich nun in der Zeit, in der mich der Unterricht nicht frißt: schreibe ich meine Texte weiter oder schreibe ich eine Dissertation? Ich habe mich dann doch für die Texte entschieden, aber für die Kompromissvariante. Daher kommen die Essays. Es sind die Studien, die ich ursprünglich so als Bausteine verwenden wollte… Wobei ich übrigens den ersten Teil fertig hatte, nämlich den historischen Teil. Wie ist Hochliteratur als Geschichtsquelle genutzt worden? Die Althistoriker stellen sich systematisch diese Frage. Keiner, der über Griechenland oder Mesopotamien schreibt, kommt ohne Homer aus. Und jetzt kommt der merkwürdige Punkt: Je reichlicher die gewissermaßen seriösen Quellen, Akten und derlei fließen, desto mehr wird Hochliteratur in den Hintergrund gedrängt. Warum eigentlich? Das war der Ansatzpunkt dieser Überlegung und die Essays konnten in Grenzen publiziert werden. Während ein Gedicht irgendwo abzuliefern, überhaupt keinen Sinn hatte.

Millot: Könnte zum Bespiel ein Historiker aus den Texten herauslesen, was nach der Wende passiert ist?

Mickel: Die Frage ist prima, wenn man sie nicht auf diese drei, vier oder fünf Jahre beschränkt. Denn, wenn man sie so beschränkt, ist das wie die Anforderungen der DDR-Führung, die immer auf den jeweiligen Fünf-Jahr-Plan zugeschnittene Literatur haben wollte. Die Frage generell habe ich ja gestellt, durch diese Lesungsreihe, die ich im vergangenen Winter moderiert hatte, draußen in Pankow. Den Übertitel habe ich jetzt vergessen, aber es hieß „Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“11. Und ich habe immer zwei Dichter zusammen gebracht, möglichst einen aus dem Westen und einen aus dem Osten und versucht, die Frage zu stellen: Was könnte der Historiker des Jahres 2010 aus den Gedichten schließen, wenn er aus jedem Jahrzehnt von zwei Autoren nur je zwei Gedichte hätte? Es gäbe acht Gedichte. Und in diesem Zusammenhang habe ich sie noch gebeten jeweils ein Gedicht eines anderen zu lesen, das in den bestimmten Jahrzehnten für sie besonders wichtig war. Manchmal ist es gut gegangen, manchmal ist es weniger gut gegangen. Aber es waren schon die merkwürdigsten Begegnungen. Elke Erb und Jürgen Becker zum Beispiel. Ich habe Stephan Hermlin und Adolf Endler an einen Tisch gekriegt, und Peter Rühmkorf und Peter Gosse. Davon gibt es Mitschnitte. Diese Frage haben wir also auf ein Halbjahrhundert gestellt.

Millot: Sie meinen, jetzt ist es zu früh, um aus dieser beliebigen kleinen geschichtlichen Einzelheit etwas zu schließen – und womöglich kann man nie daraus etwas schließen?

Mickel: Was wir jetzt erleben, ist natürlich tatsächlich ein Weltereignis. Aber hier werden das Ende der DDR und die Wiedervereinigung der 1945 getrennten siamesischen Zwillinge viel zu eng gesehen. Wenn man auf das Ende der DDR blickt, dann kann das nur unter den Aspekt sein, daß die DDR der Schlußstein im sowjetischen Imperium war. Man kann die Dinge nicht aus dem kleinen Blickwinkel dieses kleinen Landes sehen, womit ich sogar die Bundesrepublik meine, das heißt nicht bloß die kleine DDR, sondern auch die kleine Bundesrepublik. Es ist ein Weltereignis. Es ist ungeheuerlich. Den Blick für die Folgen verstellt man sich, wenn man das so als nationales Ereignis mit diesen nationalen Querelen sieht. Ich sehe nur zwei Soziologen im deutschen Sprachraum, die das ernsthaft betrachten, der eine heißt Enzensberger und der andere heißt Friedrich Dieckmann.

Millot: Enzensberger hat über die Wende (noch?) nichts geschrieben.

Mickel: Er hat aber über die Völkerwanderung und den Bürgerkrieg12 geschrieben. Dazu könnte man eine Menge anmerken. Das ist der richtige Blickwinkel… Von Dieckmann gibt es, glaube ich, bisher zwei Sammelbände seiner Äußerungen13. Es ist der scharfsinnigste, den es überhaupt gibt. In der letzten NDL-Nummer 3 ist ein Stück-Fragment von Tragelehn drin, von 1960 bis 1962, Dickmann macht davon eine Analyse und stellt die DDR-Geschichte als korrektes fünfaktiges Drama nach Gustav Freytagschem Modell dar. Wenn man die DDR-Geschichte schon begrenzt betrachtet, dann lieber unter dem ästhetischen Gesichtspunkt. „Staatstheater“ heißt der Abschnitt in seinem Essay, natürlich.

Millot: Um auf das Gebiet der Sprache zurückzukommen, wenn auch nicht unbedingt der Literatur: Meinen Sie, daß die öffentliche Sprache sich in der DDR geändert hat?

Mickel: Natürlich, an die Stelle des Parteichinesisch ist das Bankchinesisch getreten. Ich hatte die paar Jahrzehnte Gelegenheit, so nach und nach mitzukriegen, was die Bezirksleitung der SED meint, wenn sie was sagt. Und ich habe jetzt ein paar Jahre Zeit gehabt, um zu kapieren, was das Finanzamt meint, wenn es mir was sagt. Es ist eine Uneigentlichkeit an die Stelle der anderen Uneigentlichkeit getreten, wobei ich für dieses Wort um Vergebung bitte, weil das auch ein uneigentliches Wort ist. Sagen wir es mal so: was mich am meisten wundert, ist, daß Eduscho kein Schaumbad ist. Was ich übrigens vorher schon wußte.

Millot: Und in diesem Kontext ändert sich die Stellung des Dichters oder des Schriftstellers auch nicht?

Mickel: Nein, ich werde einfach immer konservativer. Ästhetisch, natürlich. Es behütet mich davor, von diesen kurzen Wellenschlägen der Mode so geschüttelt zu werden. Ich habe nun die Erfahrung gemacht, daß Gedichte, die ich vor dreißig, fünfunddreißig Jahren geschrieben habe, jetzt noch da sind und gelesen werden können. Und ich habe natürlich den Wunsch, daß das, was ich jetzt schreibe, es in dreißig, fünfunddreißig Jahren auch noch wird. Wenn man auf die sechzig zugeht, analysiert man ein bißchen, wodurch das passiert ist: einfach durch meinen ästhetischen Konservatismus.

Millot: Meinen Sie nicht, daß Ihr sogenannter ästhetischer Konservatismus jetzt von Bekannten oder vom oben genannten Publikum anders verstanden werden kann?

Mickel: Entweder kapieren sie es später oder sie kapieren es nie oder ich bin völlig auf dem Holzweg. Das muß man immer ausrechnen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich 1965 für einen Band Gedichte brotlos wurde. 1984 kriegte ich für dieselben Gedichte den Nationalpreis, denn ich habe darauf bestanden, daß er nur für diese Gedichte verliehen wird. Diese Erfahrung habe ich gerne gemacht. Ich glaube, daß die Bundesrepublik genauso lange braucht wie die DDR, um zu kapieren, was ich mache. Wenn ich also achtzig werde, werde ich das noch grinsend zur Kenntnis nehmen können, vorher sicher nicht.

Millot: Sie sagen oft, Sie haben in der DDR das geschrieben, was Sie wollten. Eventuell ist es dann nicht veröffentlicht worden. Gab es keine Selbstzensur?

Mickel: Ich habe geschrieben, was ich wollte und wie ich es wollte. Manchmal gab es kulturpolitisch Zeiten, wo ein Buch rauskommen konnte, wir nannten das „Einflugschneisen“. In anderen Zeiten war es völlig zu und in solchen Zeiten habe ich nicht versucht, etwas zu erzwingen. Arbeitsbedingungen waren mir wichtiger als Publikationen und gelebt habe ich sowieso von was anderem. Und jetzt, nach 1989, stellt sich die Frage für mich überhaupt nicht, weil ich meinen Beruf erstens ausgesprochen gerne habe und zweitens in meinem Alter mich jederzeit vorzeitig emeritieren lassen kann.14 Das ist daher gar keine Frage mehr. Ich schreibe einfach meins.

Millot: Die Frage ist trotzdem, ob die jetzigen intellektuellen Bedingungen zu neuen Möglichkeiten der Auseinandersetzung oder im Gegenteil zu einer Verflachung der intellektuellen Auseinandersetzung führen. Haben Sie den Eindruck, bessere oder schlechtere intellektuelle Arbeitsbedingungen zu haben?

Mickel: Die Arbeitsbedingungen bestehen darin, daß ich morgen noch meinen Rotwein bezahlen kann und daß ich ein gewisses Quantum frei habe, um mich an meinen Schreibtisch zu setzen. Wenn ein DDR-Buch rauskam, wenn ich also eine Einflugschneise erwischte, hatte das, wie in dem Fall der Reclam-Ausgaben der Gedichte oder der Stücke, eine Auflage von 10.000 bis 12.000 Exemplaren. Jetzt kann das zwar jederzeit gedruckt werden, aber nur, wenn der Verlag entsprechend, die roten Zahlen, die ich ihm einfahre, auf eine andere Weise wieder ausgleichen kann. Vom Lachmund-Roman sind, glaube ich, vierhundert Exemplare verkauft worden. Soll ich nun einen Unterschied machen? Ich denke, mehr als vierhundert Leute verstehen mich sowieso nicht.

Millot: Daß es jetzt eher Fragen des Geldes sind, die das Ganze leiten, während das früher ideologische Fragen waren – das ist kein grundlegender Unterschied für Sie?

Mickel: Es gibt in der Geschichte, wenn ich es grob auf zwei Haufen sortieren darf, zwei Modelle, wie jemand in das oberste Drittel der Pyramide kommt oder in das oberste Fünftel. Das eine Modell ist eine Stellung in der Hierarchie und dann kommt das Geld, das Einkommen. So sind zwar das feudalistische und das DDR-staatsmonopolistische System gewesen. Das andere Modell ist: erst kommt das Geld und dann kommt die Stellung in der Hierarchie, das ist das kapitalistische. Ich habe Ihnen vorhin dieses Sonett mit den Schlußversen vorgelesen:

Wie spät ist es? – Halb viere etwa. – Keine Einzelheiten bitte; das Jahrhundert?15 Es handelt sich um einen böhmischen Witz, der auf die Zeit umgedacht ist. Ein Besoffener ist am Wenzelsplatz in Prag, torkelt auf einen Milizionär zu und sagt: „Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir sagen, wo ich bin?“ Der Milizionär sagt: „Sie sind auf dem Wenzelsplatz.“ Darauf antwortet der Besoffene: „Keine Einzelheiten bitte, Kontinent, Kontinent.“ Das ist also ein historisches Gedicht, das ich am Anfang der ’80er Jahre geschrieben habe. Es ging mir damals um die DDR-Deutschen, die beim Fußball sitzen, Bier trinken und ihre Väter darum beneiden, daß sie in der Ukraine junge Mädchen an den Galgen hängen konnten.

Millot: Ihr Schreiben betrachten Sie nicht als politische Betätigung?

Mickel: Nein, gar nicht. Wenn ich jetzt noch mal fünfzig wäre, ginge ich gerne in den Grenzbereich meines erlernten Berufes, also in diesen soziologisch-wirtschaftshistorischen Grenzbereich. Ich bin aber nur ein Schuster und bleibe bei meinen Leisten. Es geht darum, etwas ästhetisch Befriedigendes zu machen. Können Sie so eine Art ästhetisches Wahrheitskriterium akzeptieren? „Was sich nicht gut dichten läßt, ist außer der Wahrheit, selbst wenn es im Leben vorkommt“, es müßte entfernt mit Shaftesbury16 zu tun haben. Auf was anderes kann ich mich überhaupt nicht einlassen. Das Beil von Wandsbek war acht Monate Arbeit. So ein Stoff drückt furchtbar aufs Gemüt, aber, ich schwöre es Ihnen, das löst sich in ein ästhetisches Problem auf. Nämlich – und jetzt hole ich mal ein bißchen aus: Im 18. Jahrhundert waren die Theaterstücke fünfaktig, mit drei großen Pausen drin. Die Leute spielten ohne Gage mit. Die Foyers waren Flirtorte, Geschäfte wurden gemacht, es dauerte ewig. Die Menschen, die ins Theater gingen, mußten nicht früh aufstehen. Die Städte waren klein. Sie konnten zu Fuß, mit der Kutsche oder mit der Sänfte nach Hause fahren. Es gab keinen Grund, zeitig aufzuhören, die Theaterstücke konnten lang sein. In meiner Jugend hatten Stücke nur noch zwei Pausen. Das war ein ungeheures Problem für den Dramaturgen, einen überlieferten Fünfakter in einen Dreiakter zu zersägen, bis man eine große Pause und eine kleine Pause reinkriegte. Heute wird nur noch eine Pause gemacht. Stücke müssen nach dieser Vorgabe geschrieben werden. Man muß auf die Pause zentrieren und Zweiteiler machen. Das erzeugt eine eigentümliche Dramaturgie. Wobei es ein merkwürdiges Vorbild aus dem 18. Jahrhundert gibt: Mozarts Don Giovanni ist ein wundervoller Zweiteiler, übrigens auch mit dem parodistischen Anschluß. Die Tonfolge, die der Giovanni heroisch im ersten Aktschluß singt, singt zum Anschluß des zweiten Aktes Leporello parodistisch. Es sind genau dieselben Töne. Für eine solche Struktur kann man kein Riesenfinale am Ende machen, man muß ein stilles Finale haben. Das heißt, das erste Finale muß ein großes Finale sein und das zweite muß als stilles Finale das übertreffen. In solche Probleme löst sich letztendlich die Arbeit auf, so hält man das acht Monate durch.

Millot: Sind Sie der Meinung, daß das, was Sie schreiben, für das Publikum heute eine andere Rolle spielt als früher? Daß der Stellenwert der Literatur oder der Kultur in der DDR ein anderer war, als er in der Bundesrepublik ist?

Mickel: Publikum war in der DDR zweiteilig. Die erste Gruppe waren die Beamten, die ihre Wünsche erfüllt haben wollten, ästhetische Schützenhilfe für ein ökomomisches Programm, was idiotisch konzipiert war. Den Wunsch konnte man nicht erfüllen. Die andere Gruppe waren die Leute, die in das Theater weggingen oder die Bücher kauften, weil sie sich was anderes erhofften. Es gab einen Grundsatz der Staatsräson, den der Ulbricht aus der Sozialdemokratie hatte:

Kunst muß sein.

Damals galt er für das große Publikum, nicht nur für das Bildungsbürgertum, sondern für das gedachte Bildungsproletariat. Das ist ein rührendes Konzept, weil es sehr wünschenswert ist. Wenn ich daran denke, könnte ich in Tränen ausbrechen. Mein Vater, der Tischler und in der Arbeitslosigkeit war, hatte eine Bibliothek von 120 Bänden zusammenbekommen, was eine Leistung ist. Früher habe ich noch neben alten Metteuren gestanden, die einem über einen Satzbau wirklich einen Rat geben konnten und die die Bücher, die sie setzten, lasen. Das ist nun alles hin, das hat sich erledigt. Es herrschen wieder die kleinsten Kreise der Kenner. Der alte sozialdemokratische Metteur gehört nicht mehr dazu.

Millot: In der DDR haben Sie ein Theaterpublikum gehabt, Leute haben sich Ihre Stücke angesehen. Und jetzt?

Mickel: Wenn es früher in der DDR Aufführungen gab, waren sie immer voll, das stimmt. Heute weiß ich es noch nicht, der Test ist ja jetzt. Was das Theater in Cottbus angeht, dort macht Schroth17 ein wirklich gutes Ensemble-Spiel. Ich glaube aber, daß das Umfeld nicht mehr so günstig ist. Mehr als zehn Aufführungen wird es nicht geben und die letzten vier oder fünf werden ein halbleeres Haus haben. Na, und? Sie werden mir das vielleicht als Understatement anrechnen, aber ich weiß, was ein richtiger jubelnder Premierenerfolg ist. Ich habe das genossen, bei der Einstein-Prämiere 1974 an der Rampe mit meinem alten Lehrerfreund18 (das kann man bei dem Altersunterschied schon sagen) zu stehen und zu sagen „Ätsch!“, denn jahrelang hatten sie auf mir rumgetrampelt. Das habe ich schon genossen, aber ich brauche es nicht nochmal.

Millot: Gebrauchen Sie überhaupt selber den Ausdruck „Wende“?

Mickel: Nein, das ist ein unpräziser Ausdruck. Einen richtigen Slogan habe ich noch nicht dafür. Wenn ich für drei Wörter Zeit habe, dann „Ende des Ostblocks“. Damit kann ich das Wort „Sozialismus“ vermeiden, was auch wieder einer Definition bedarf „Das Ende des Ostblocks“, „Die deutsche Einheit“, damit haben wir nicht mehr drei Welten, sondern bloß noch zwei.

Millot: Wenn ich Sie richtig verstehe, gab es keinen Wendepunkt in Ihrem Schreiben zu diesem Zeitpunkt. Haben Sie anderswo Wendepunkte in Ihrem Schreiben erfahren, sprich: politisch bedingte Wendepunkte? Oder haben Sie den Eindruck, daß es sich relativ harmonisch entwickelt hat?

Mickel: Mein erster professioneller Text war „Das Requiem für Lumumba“. Es war 1961. Die Frühgeschichte der DDR habe ich natürlich ganz anders empfunden, aber damals habe ich nicht gedichtet. Ich kam aus einem ganz armen Hause und unter den Umständen war die DDR eine absolute Bedingung dafür, daß ich studieren konnte. Das bewahre ich gut im Gedächtnis. Danach war 1965 schon ein Einschnitt. Also, wenn Sie jetzt wieder Nova mea lesen, müssen Sie schon sehr genau hinschauen, um die brutale Reaktion der Behörden damals zu verstehen, obwohl das gar nicht die brutalste war. Ich durfte zwar nicht publizieren, es war schon eine Art Berufsverbot, aber ich konnte in meinem gelernten Beruf arbeiten. In der Hochschule, in die ich kam, hatten sich dann einige Kollegen, nicht diejenigen aus der Wirtschaftsgeschichte, sondern aus den benachbarten Fachgebieten als eifrige Leserbriefschreiber gegen mich betätigt. Beim Unterricht hat mir aber niemand auf die Zehen getreten. Es war sehr merkwürdig, auch mit den Studenten. Der letzte DDR-Oberbürgermeisur von Berlin, Erhard Krack, hat zum Beispiel bei mir Wirtschaftsgeschichte gehabt. Als OB kam er einmal in den Schriftstellerverband, wo ich saß. Er entsann sich seines alten Lehrers und kommentierte:

Wenn er von den Klassikern redete, wußte man nie, ob Marx und Engels oder Goethe und Schiller gemeint waren.

So einen Unterricht konnte ich wohl machen.

Millot: Diese Beschreibung von Ihrem Unterricht nehmen Sie an? Sie können sich darin wiederfinden?

Mickel: Das steht in Gelehrtenrepublik19. Die große klassische deutsche Philosophie kann ich als eigentümliche manieristische Dichtung und die Dichtung zur Zeit als Beitrag zur philosophischen Entwicklung nehmen. Diese ästhetisch-philosophische Kunstperiode ist ein widerspruchsvolles Kontinuum. Kommen wir auf Swedenborg wieder – der nebenbei gesagt ein enormer Ethiker ist: Himmel und Hölle, seine Ethik, wird für gesponnen gehalten, weil er gesagt hat:

Das haben mir die Geister nachts erzählt.

Kants Kritik der praktischen Vernunft wird für Philosophie, also Wissenschaft gehalten, weil er sagt, daß hätte er sich in seinem eigenen Kopfe, a priori konstruiert. Es steht aber ganz nah beieinander. Es sind große ethische Modelle. De Sade ist das Dritte. Es hat auch seine innerästhetische Konsequenz, wenn ich zuerst ein Stück zwischen de Sade und Kant mache und dann Das Beil von Wandsbek auf Swedenborg beziehe. Damit habe ich das Dreieck eigentlich zusammen. Immerhin war 1965 ein fürchterlicher Schock, weil es an die Grenzen der physischen und psychischen Existenz ging. Jürgen Kuczynski, bei dem ich als Wirtschaftshistoriker Diplom gemacht habe, schickte mich mal in ein Archiv zu irgendeinem Thema, was ich vergessen habe. Ich saß dort vier Wochen und fand nichts und kam ganz niedergeschmettert zum Meister zurück und sagte:

Ich habe nichts gefunden.

Da antwortete er:

Dann wissen wir jetzt, daß in diesem Archiv dazu nichts ist.

Wenn ich das jetzt aus dieser Distanz betrachte: 1965 habe ich gelernt, daß in diesem Archiv dazu nichts ist.

Millot: Heißt es, daß Sie dann anders geschrieben haben?

Mickel: Nein, der Wendepunkt liegt zwischen Lobverse und Beschimpfung20 und Vita Nova. Der Auslöser war eine nahezu katastrophale Liebesgeschichte. Das schärft den Sinn für die Welt. Ich habe den Abschied von Theaterreformversuchen im Berliner Ensemble eher mit Gelassenheit ertragen.

Millot: Verstehen Sie Ihr Schreiben als Arbeit an der Sprache oder ist das keine gute Definition?

Mickel: Es gibt heute eine Mode. Die Sprache wird zum Fetisch als sei sie Selbstzweck. Natürlich muß hinter der Sprache immer noch etwas Mitteilenswürdiges stehen. Sprache deckt sich natürlich nie mit der Sache, weil sich ein Zeichensystem mit einem Bezeichneten nie deckt, aber man muß versuchen, die Differenz zu verringern. Ich denke gerne über die Sprache bei Eduard Mörike nach. Aber warum soll ich über meine nachdenken? Sie haben die Texte, können sie analysieren und selber auf das kommen. Ich kann persönlich nichts dazu beitragen, denn meine Meinung wäre wie die Ansicht jedes anderen.

Millot: Schreiben Sie nicht über die eigene Poetik?

Mickel: Natürlich, analysiere ich, z.B. in meinem letzten poetologischen Text. Ich hatte auch die ganze Vorlesung für das erste Studienjahr, was jetzt zu Ende ist, auf Mörikes Abreise aufgebaut. Natürlich, wenn ich mir ein solches Thema aussuche, frage ich mich, ob ich dabei etwas lernen kann, ob das für mich ein Problem ist. Ich kann es beschreiben, obwohl ich es noch im Unreinen beschreiben muß. Es liegen seit vierzehn Tagen oder drei Wochen vier Zeilen auf dem Tisch, in denen beobachtet wird, wie in einem seltsamen Waldwinkel in der Umgebung hier, an einem heißen Mittag mit zerstäubter Luft, zwei Libellen im Flug kopulierten. Es war zwar ein Mittagslicht, trotzdem aber ein ganz schattenloses Licht. Das Schattenbild des einen ist das andere. Das habe ich. Ich muß aber irgendwie diese Struktur des Lichts geben und habe dafür nur anderthalb Verse. Das kann ein viertel Jahr dauern, bis ich das habe, es kann genauso morgen früh beim Zähneputzen sein. Ja, das ist das Verhältnis zur Sprache… Das will ich dann präzise haben, wobei zwei Libellen: libelli sind natürlich auch Bücher. Ich wollte meiner Freundin ein Gedicht machen und dachte, zwei Libellen, die kopulieren, das könnte ihr gefallen. Jetzt muß ich aber dieses scheinbare Randproblem lösen. Sowas ist es, was einen wirklich beschäftigt. In seinen Tagebüchern vermerkt Celan eine halbe Seite äußerst wichtige Änderungen, nachdem er eine Silbe in einem seiner Texte geändert hat. Natürlich hat er vollkommen Recht, es ist aber gleichzeitig vollkommen unerträglich, wenn man noch eine halbe Seite Tagebuch für den Nachlaß darüber schreibt.

Millot: Das Interpretieren oder das Herausfinden des Systems, wenn es eins gibt, ist das nicht die Arbeit der Germanisten?

Mickel: Nein. Jetzt sind Sie in der Arbeitsteilung befangen. Das ist keine Koketterie, wenn ich sage, daß ich nicht weiß, ob ich Schreiben gelernt habe. Vielleicht habe ich ein bißchen Schreiben gelernt, aber Lesen gelernt, das habe ich garantiert. Das ist nicht die Arbeit des Germanisten, sondern das Vergnügen des Lesers. Aus diesem Grund mache ich so gerne Texte zur Musik. Denn ich habe einen idealen Leser, nämlich den Komponisten, der erstens genau rauskriegen muß, was den Text ausmacht und zweitens gleich damit arbeitet. Und wenn ich einen guten Komponisten habe, brauche ich kein Publikum. Mit Schenker21 habe ich ein solches Glück gehabt. Nach Dessau hatte ich Schenker. Wobei ich auf die anderen nicht schimpfe.

Millot: Haben Sie im Laufe Ihrer Gedichtproduktion eine Entwicklung festgestellt?

Mickel: Von Vita nova ist die Hälfte technisch perfekt und seitdem ist alles technisch perfekt. Das kann ich beurteilen. Das andere muß man in fünfzig oder hundert Jahren sehen. Das Jahrhundert dichtet ja immer mit, ob ich das will oder nicht. Exempel: Ich habe in meiner Stadtwohnung jetzt die Handwerker. Die wollten bloß eine Heizung auswechseln. Das war auf eine Woche geplant mit dem Ablaufplan. Es klappte allerdings nicht. Es zieht sich schon fünf Wochen hin jetzt. Alle Bücher in Aspik und ich sitze in dem Chaos. Was macht man in dem Chaos, in dem man zwei Stunden auf den nächsten Handwerker wartet, der erst nach drei Stunden kommt. Man liest. Und was las ich? Schopenhauer, den ich wenig mag. Das war glänzend. Unwillkürlich fing ich an, darüber nachzudenken, welche Philosophen Chaos und Kuddelmuddel gehaßt haben und welche es gemocht haben. Selbst die Banalität, dieser Handwerkerärger, bestimmt also, was und worüber man nachdenkt. In diesem Falle konnte ich es lokalisieren. Bei anderen Sachen kann man es nicht so orten. So dichtet das Jahrhundert immer mit und ich kann es nicht beeinflussen. Nur eins kann ich beeinflussen: daß es technisch ordentlich ist. Das andere steht dann in Gottes Hand.

Millot: Dieses Bild des Chaos finde ich interessant. Denken Sie, wie viele andere, daß mit der Wende oder mit dem Fall der Mauer Chaos in Ihr Leben eingebrochen ist oder daß eine Welt zusammengestürzt ist?

Mickel: Selbstverständlich ist eine Welt zusammengebrochen. Dieser sozialistische Versuch war der Versuch einer Weltrevolution, nicht? Dieses Jahrhundert dauerte von 1917 bis 1992, genau 75 Jahre. Von 1945 bis 1992 habe ich es miterlebt. Das ist zwar der größere Teil, aber auch der des Niedergangs. Ich habe 1945 erlebt und ich habe 1989 bis 1992 erlebt, was für diesen Beruf unschätzbar ist. Gott gäbe mir noch zehn bis fünfzehn Jahre, daß ich einiges davon notiere. Für Gott. 18 bis 22 Meter in der Höhe gingen die Spitzbogen der Gotik zusammen. Oben war der Schlußstein drin. Dort machte ein Meister ein Relief rein. Der Operngucker war noch nicht erfunden. Er machte es für Gott. Mein Vater war Tischler, Mühlenbautischler speziell. Er hatte auch Familienmöbel gemacht. Ein Teil hat überlebt, der in Voraussicht merkwürdigerweise von meiner Mutter vor dem Dresdener Angriff rausgelagert worden war. Wenn man ein Schubfach aufzieht, muß es ein bißchen fauchen, so genau muß das gearbeitet sein. Dieses technische Können habe ich mir zum Teil von meinen Vater angenommen. Deutsche Panzer waren auch deutsche Wertarbeit. 1945 kam gerade die neue Serie Königstiger. Deutsche Panzer fuhren mit Benzin, brannten also leichter als T34, standen aus Benzinmangel an der Ausfallstraße in Dresden rum. Bis zuletzt waren die Sitze der Panzerfahrer mit rotem Saffianleder bezogen. Damals war ich zehn. Wir haben das Leder ausgeschlachtet, haben das an die Dresdener Nutten verkauft für die Handtäschchen. Das war so ein kleines Nebeneinkommen dabei. Erstaunlich, nicht! Die sind in den Panzern verbrannt, aber wenigsten auf rotem Saffianleder. Genauso geht das Jahrhundert rein, über das Handwerkerchaos geht diese Erfahrung rein.

Millot: Meinen Sie, daß jeder Mensch sich mit seinem begrenzten technischen Können darum bemüht, das Chaos bewohnbar zu machen?

Mickel: Die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts beruht auf Arbeitsteilung. Wenn man nur Kunst macht, ist es auch arbeitsteilig. Das habe ich mir nicht ausgesucht, das ist das Jahrhundert oder das Halbjahrtausend… Und das hat keinen Sinn, wenn ich versuche, gegen diese Wand zu rennen. Durch sie komme ich nicht durch. Ich weiß schon, was in den Texten steht, doch ändert es sich schließlich immer. Es ändert sich ja auch posthum. Heines Atlas:

Und jetzo bist Du elend.

Das „jetzo“ war zu Heines Zeiten nur die etwas elegantere Form von „itzo“, keine ungewöhnliche Form. Es muß, als es Heine gedruckt hatte, nicht anders aufgenommen worden sein, sprachlich, als wenn man heute „Und jetzt bist Du elend“ aufnähme. Das „jetzt“ ist nun ein Archaismus geworden, und zwar ein verschnörkelter mit Locken und jetzt wird dieser lakonische Schluß des Gedichts als höhnische Grimasse gelesen, was es zu seinen Lebzeiten aber gar nicht war. Durch die Änderung einer Wortform. Die höhnische Grimasse gefällt mir aber ganz gut, außerdem lebt der Text auch ohne das. Das heißt: der Text entwickelt sich weiter in der Zeit. Wie wenn beim toten Heine der Todeskampf dann noch ein höhnisches Grinsen erzeugt.

Millot: In manchen Texten setzen Sie sich mit der DDR auseinander. Meinen Sie, die Texte brauchen die DDR nicht, um gelesen oder verstanden zu werden?

Mickel: Einiges sollte eine Bevölkerung über Ihre Vergangenheit wissen. Die neueste Beobachtung, die ich jetzt bei den Proben vom Beil von Wandsbek mit dem Ensemble oder bei Publikumsgesprächen machte, war, daß Mitteilungen über die Nazizeit als Bildungstheater empfunden wurden. Ich habe also noch einen kleinen Prolog geschrieben, einfach eine Stelle eingebaut, in der erklärt wird, daß es dunkel ist:

Von einem Krieg ist sonderbar die Rede, gegen das eigene oder fremde Volk, ob der gewonnen worden, ob verloren, man weiß nicht recht, zwar gab es wohl Ruinen…

Gegen derartiges Unverständnis kann ich nichts machen. Vielleicht interessiert man sich später mal dafür, wie man sich jetzt für den dreißigjährigen Krieg interessiert… Das ist im ersten Absatz vom Lachmund I. So habe ich das empfunden: die DDR als das Auge des Taifuns. Und dann habe ich mir immer Mühe gegeben, das in der Prosa komisch zu behandeln. Insofern war die DDR durchaus nicht Provinz, sondern eben ein guter Ort für Diagnosen. Ein böser „Guter Ort“, die Verbindung stimmt auch: das Auge des Taifuns ist ein „guter Ort“ und „Guter Ort“22 ist wieder ein kleines Gedicht aus den frühen ’70er Jahren. Nun bin ich eher schreibfaul und mache dann lieber so eine Kurzfassung. Diese drei Seiten über Eduard Mörike, wenn ich das den Studenten erkläre, dauert das ein Jahr. Denn ich muß über jeden Satz eine Extra-Vorlesung von zweieinhalb Stunden machen. Aber die Twens haben es verdient. Wem soll man es sagen, wenn nicht den Jungen?

Die Druckfassung wurde von Carla Lehmann und Kerstin Hensel im Sommer 2015 geprüft und leicht überarbeitet.

Aus: Sibylle Goepper und Cécile Millot (Hrsg.): Lyrik nach 1989 – Gewendete Lyrik? Gespräche mit deutschen Dichtern aus der DDR, Mitteldeutscher Verlag, 2016

„Hoffnungsfroh im Trüben hausend“

Karl Mickel ist am 12. August 1935 in Dresden geboren. Auf dieses persönliche factum brutum nimmt der Dichter, ansonsten nicht gerade selbstverliebter Bekenntnisse verdächtig, im zweiten Gedicht seines neuen Bandes Mein Sternbild Bezug. Der Löwe, so hat unser Autor gehört, „schläft pro Tag sechzehn Stunden / Ist sieben schläfrig und lediglich eine / Stunde wach; in dieser einen Stunde / Erlegt er ein schönes Stück Fleisch“. So auch Mickel, der Löwe. Wie oft hat man in den letzten zehn Jahren auf einen neuen, vierten Gedichtband von ihm gewartet. Aber Mickel schien zu schlafen, krank zu sein (davon spricht das Gedicht auch), ja: er schien kaum noch auf die poetische Jagd zu gehen. Nun können wir erleichtert aufatmen. Mickel hat doch gejagt – und er hat einige vorzügliche Stücke Fleisch erlegt, fettarm und gut durchblutet; Beutestücke, die so leicht kein anderer deutscher Lyriker unserer Zeit zur Strecke zu bringen vermöchte. Immerhin 70 Seiten Gedichte sind es geworden, dazu 30 Seiten nicht minder luzide „Kommentare“; zu ihnen später.

Palimpsest präsentiert keinen ganz anderen, neuen Mickel, freilich: vielleicht einen noch besseren. Jedenfalls ist kein Substanzverlust zu bemerken, weder gedanklich noch ästhetisch. Mickel ist vollkommen auf der Höhe, auf der seiner eigenen Möglichkeiten und auf der Höhe der Zeit. Das 1991, im dritten Wendejahr, festzustellen, will schon etwas heißen. Den Anfang markierten Anfang der 60er Jahre Mickels „Lobverse und Beschimpfungen“, in der Mehrzahl grob satirische, agitatorische Texte. Doch Mickel lobt und schimpft (Ausnahmen bestätigen die Regel) schon lange nicht mehr. Statt dessen beobachtet er genau und immer genauer. Sein Blick seziert, fixiert und analysiert, was uns normalerweise immer wieder vor den Augen verschwimmt. Von der sogenannten Unmittelbarkeit als vermeintlich unerläßlicher lyrischer Tugend hielt und hält Mickel gar nichts. Seine Gedichte sind gemachte Produkte, Kunst-Stücke, und sie verbergen auch nicht, daß sie es sind. Mickels große und seltene Kunst liegt darin, noch als Lyriker Rationalist und Aufklärer (geblieben) zu sein, bis in die letzte Gedichtzeile hinein, und trotzdem bewegende, ja hinreißende Gedichte verfaßt zu haben. Daß die Vernunft nicht das Paradies, sondern nur ein Notbehelf des angreifbaren Menschenwesens ist, das weiß unser Autor (vernünftig, wie er ist) freilich auch:

Ich muß ja immer vernünftig sein
nämlich weil ich keinen Panzer
Nicht einen einzigen, habe.

Was bisher zitiert wurde, könnte den Eindruck erwecken, Mickel spräche in seinen neuen Gedichten nur, oder doch überwiegend, von sich selbst. Doch so ist es nicht. Der schmale Band offenbart einen bemerkenswerten Reichtum der Stoffe, Interessen und Blickrichtungen wie auch eine Fülle der Formen und Gefäße, in denen des Dichters Wahrnehmungen, Empfindungen und Erkenntnisse aufbewahrt werden. Von sich selbst und seiner persönlichen Misere redet Mickel tatsächlich oft (am meisten, nicht zufällig, im zweiten Teil der „Oden und Elegien“), aber mehr doch noch von der Welt (wie denn auch der erste, längste Hauptteil „Frau Welt“ überschrieben ist). Mickels Interesse gilt ungebrochen der Frage, wie die Welt funktioniert – oder auch, leider, nicht funktioniert. Die Welt: das meint zuerst die Gesellschaft und ihre Geschichte, aber auch die Natur (und ihre Historie) und das Individuum. Soziologie, Naturkunde, Anthropologie, Psychologie – Mickels wissenschaftlich-poetische Neugier ist unersättlich. Immer noch ist Karl Mickel „Marxist in Preußen“, wie ihn einmal Rainer Kirsch tituliert hat: kein Marxist der pathetischen Konfessionen, der politische Zweckgedichte schreibt, aber doch unbeirrter Materialist, der komplizierten Mechanik (?) geschichtlicher Bewegungen auf der Spur. Schon längst leitet ihn kein revolutionärer Optimismus mehr, kein Glaube an den unausweichlichen Sieg des (sozialistischen) Guten. Das Pathos der Geschichte ist Mickels Sache nicht, vielmehr deren Ironie. Gewiß glaubt Mickel an „den Fortschritt“, aber doch anders als sonst in marxistischen Kreisen. Fortschritte werden aus der Not, aus den Katastrophen geboren – zum Beispiel die Fortschritte der Zahnmedizin aus dem heillosen Verfall der Zähne von Menschen, die nichts anderes mehr als Weißbrot essen (Heukenkamps haben schon vor Jahren auf das frühe Gedicht „Vortrag des Zahnarztes S. aus D.“ hingewiesen, das die häßliche Dialektik des Fortschritts offenlegt). Und da bei Mickel der nüchterne, ernüchternde Blick auf die Geschichte von früh an angelegt war und er sich beizeiten von doktrinären Zukunftserwartungen frei machen konnte, läßt sich bei ihm – im Blick auf den neuen Band – auch nicht von einem geschichtsphilosophischen Paradigmawechsel (vom Prinzip Hoffnung zur Angst vor der Apokalypse) sprechen wie bei den meisten seiner Kollegen. Gerade weil ihm die „Schrecken des Humanismus“ schon seit Jahrzehnten vor Augen stehen und keine spätere Enttäuschung einzutreten brauchte, bewahrt sich sein Materialismus, von gelegentlichen Einbrüchen der Schwermut abgesehen, eine gewisse Heiterkeit, ja, Fröhlichkeit. Mickel haust „im Trüben“, wie es in dem Schlüsselgedicht „Havenna“ heißt, aber: „hoffnungsfroh“. Das unterscheidet ihn vom Angelus-Novus-Blick auf die Menschheitsgeschichte eines Heiner Müller oder einer Christa Wolf, von Günter Kunert ganz zu schweigen. Gewiß: Alles ist eitel, vanitas und Langeweile regieren, der Verfall der körperlichen Hülle schreitet unaufhaltsam voran – anrührend leise und genau in dem Gedicht „S-Bahn“ festgehalten, aber unser Autor hält all dem gelassen und ein wenig trotzig stand. Als ihn die schwarze Krähe im gleichen Gedicht aus dem Leben abberufen will, entgegnet er: „Ja doch, ja, ich komme gleich“, wie ein Kind, das man ruft und das dann bekanntlich noch lange nicht „gleich“ kommt.
Freilich mag man sich manchmal fragen, wie weit denn Mickels gelassen sezierender, souverän entspannter Blick auf den Lauf der Welt noch von der Haltung des Zynikers entfernt sei. Ein Gedicht wie „Theodicee“, zum Beispiel, überschreibt natürlich, palimpsestartig die Weltanschauung des großen Gottfried Wilhelm Leibniz. Andererseits verkehrt es sie glatt in ihr Gegenteil. Es wird zur Parodie, zum Gegengesang. Von Leiden und Tod einer Frau (offenbar Caroline von Günderode) ist die Rede, die einer anderen, Bettina von Arnim, Gelegenheit „zum Gesang vom Leide“ geben und damit höchste Genugtuung, am Ende Unsterblichkeit:

Die eine bringt sich um mit spitzem Messer
Am Ufer unten im Gezweig der Weide
Der Andern Tränen strömen ins Gewässer:
Bettine ists; sie singt mit bleicher Lippe
der Freundin Tod, und davon wird ihr besser.

Hatte Leibniz solches im Sinn mit seiner besten unter allen möglichen Welten, die „ein Maximum des Guten und ein Minimum des Übels“ in sich trage? Spiegelt Mickels Gedicht dieses durchheiterte Weltverhältnis oder Zynismus – oder am Ende beides?
„Theodicee“ ist übrigens ein durchaus charakteristischer Gedichttitel. Andere Gedichte heißen „Das Idyll“, „Anakreons Art“, „Romanzero“, „Rezitativ und Arie; Madrigal“, „Die Okeaniden“, „Nänie“ oder „Gelimer“ (gemeint ist der letzte König der Vandalen). Man sieht: es handelt sich um Texte, die voraussetzungslos gar nicht zu verstehen sind. Mickel benutzt Formen, die aus einer jahrtausendealten Tradition auf uns gekommen sind – Epigramm und Idyll, Ode und Elegie, Scholion und Kommentar, das Sonett natürlich und nicht zuletzt den trochäischen Vierzeiler, den der alte Goethe so liebte (dazu später noch einmal). Und Mickel erwartet wie selbstverständlich, daß wir grundgebildet sind und weitgespannte Kenntnisse haben, z.B. in Philosophie, Mythologie, Literturgeschichte, allgemeiner Geschichte, von Mozarts Opern wie vom Fußballclub Dynamo Dresden gleicherweise, Mickels Lyrik offenbart keine bodenlosen Mutmaßungen oder Emotionen, sie wälzt Kenntnisse und Erkenntnisse aus der Geschichte um und um und fragt, polemisch, vergnüglich, elegant und nie abstrakt, was sie uns heute noch zu sagen haben. Palimpsest heißt der Band. Das meint ja zweierlei, und zwar Gegensätzliches: eine Handschrift, auf der die ursprüngliche Schrift beseitigt und durch eine jüngere ersetzt ist (codex rescriptus). Und es meint auch den Versuch, den alten, verlöschten oder überschriebenen Text durch bestimmte chemische Reagenzien wieder lesbar zu machen (ein heikles Unterfangen, das auch zur endgültigen Zerstörung des unlesbaren Textes führen kann). Ebendas versuchen Mickels Texte, die Gedichte wie die Kommentare. Ihr Autor stößt zunächst auf „Texte“, die kaum noch lesbar sind – griechische Mythen, die Geschichte der germanischen Großreiche der Völkerwanderungszeit, Mozarts/da Pontes „Don Giovanni“, Goethes „Natürliche Tochter“ und Leibniz’ Theodizee. Mickel ersetzt nun tatsächlich die alten, fremden Texte durch neue Versionen (z.B. stellt er in „Fünfte Ode und Scholion“ den Orpheus-Mythos völlig auf den Kopf und ergänzt ihn in einem zweiten Schritt durch die Beschreibung eines selbsterlebten Verkehrsunfalls, in dem Züge der Sage traumatisch „verkehrt“ anklingen). Die Über-Schreibung ist paradoxerweise gleichzeitig das chemische Mittel, das die Fremdheit des alten Textes relativiert, sein Aktuelles, Unabgegoltenes aufblitzen läßt und ihn, wenn auch vielleicht nur für einen Augenblick, lesbar macht. Viel ist heute von Intertextualität die Rede. Mickel praktiziert sie in höchstem Ernst, vom bohrenden Interesse am Weltlauf inspiriert, und virtuos dazu. O wäre nur immer schon so kenntnisreich, skrupulös und produktiv „geerbt“ worden in der DDR!
Noch einmal: Hier wird gerade nicht behauptet (auch Mickel tut es nicht), die alten „Texte“ (was nicht nur Bücher meint) seien mit Mickels Methode problemlos aufzuschließen und zu beerben. Das Motto des Bandes drückt die bleibende Skepsis des Autors aus:

Eine Inschrift, über die ich trete!
Nicht zu lesen!
Weggewandelt seid ihr
Tiefgegrabne Worte.

Doch „tiefgegraben“ meint ja nicht nur: verborgen, kaum lesbar, sondern auch: tief eingegraben in eine Geschichte, die uns gemacht hat und bis auf den heutigen Tag prägt. Man kann dann auch an den Delinquenten in Kafkas „In der Strafkolonie“ denken, dem sein Text von der Foltermaschine als bleibender eingraviert wird. – Ein Beispiel für viele (und Mickels Gedichte sind alle „Beispiele“, Exempla von Bedeutung): das schon 1980 veröffentlichte Gedicht „Ravenna“. Der Titel und die Anspielung auf Boethius in der letzten Strophe verweisen eindeutig auf das Ostgotenreich des großen Theoderich/Dietrich von Bern, der den Philosophen einkerkern und im Jahre 524 hinrichten ließ. Bald darauf ging das Großreich, ein letztlich mißlungener Mischstaat aus zivilen Römern und waffentragenden Germanen, zugrunde. Boethius war 44 Jahre, als er starb, so wie Mickel im Jahr der Niederschrift seines Gedichts. Der Dichter spiegelt sich im Intellektuellen von einst, der wie er unter einem autoritären Regime lebte und als Besser-Wisser verfolgt wurde:

Hoffnungsfroh im Trüben hausend
Höre ich aus nächster Nähe
Plötzlich meine Stimme grausend

In Boethii Figuren
Auf Latein gebrochen sächseln.

Durch die Ineinssetzung mit Boethius ist zunächst einmal in subtiler Weise der gegenwärtigen Tyrannis, der DDR und dem Block, dem sie zugehört, ein vernichtendes Urteil gesprochen. Aber nicht nur ihr, sondern auch einer Bevölkerung, die im „unzufriedenen Quengeln“ verharrt. Das „Absurde“ der irrationalen Diktatur, die sich sozialistisch gebärdet, bleibt der Masse unverständlich: „Könntet ihr es nur entschlüssen!“ ruft der Autor aus, und fährt fort:

Doch nun fehlt euch die Geschichte
Und um leer- und volle Schüsseln
Hockt die Blindheit dicht bei dichte.

Mickel, wie vereinsamt, bitter und melancholisch auch immer, zumal in den Jahren nach der Biermann-Ausbürgerung, ist sich treu geblieben. Der erkennende und also souveräne Blick aufs Absurde, auf den „Limbo“ (die Vorhölle, in der zu leben er gezwungen ist), schafft Distanz zum „Trüben“ und macht am Ende sogar heiter und hoffnungsfroh. Hier hat natürlich, und das gilt weiterhin für den Band Palimpsest, der alte Goethe Pate gestanden. Nicht nur Versmaß und Strophenform von „Ravenna“ zitieren „Selige Sehnsucht“ aus dem West-Östlichen Divan (und mit diesem Gedicht mehrere andere dieser Sammlung). Mickel zitiert auch direkt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde.

Mickel „hat“ es, dieses „Stirb und werde!“, und deshalb kann er, zumindest zuzeiten, „hoffnungsfroh“ sein, wenn er auch weiterhin in ziemlich „trüben“ Verhältnissen leben muß. So gelingt in „Ravenna“ vieles in einem: eine Geschichtsdeutung in aktueller Perspektive, eine Poetologie – das Beharren auf der Geschichte als Schlüssel der Selbsterkenntnis und unerläßlicher Basis des eigenen Schreibens – und eine imitatio Goethes, die allen Eklektizismus vermeidet. Gerrit-Jan Berendse hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, daß Mickels sympathetisches Verhältnis zur Don-Juan-Figur nicht nur in seiner eigenen erotischen Theorie und Praxis begründet ist (freilich: in der zuallererst, wie einige schöne Exempel unseres Bandes lehren; „Paragraph Aids“ zum Beispiel ist eine virtuose Polemik gegen den hygienisch bemäntelten Zwang zur Monogamie). Eine Reihe von „Kommentaren“ des neuen Bandes zum Don Giovanni bezeugt Mickels ungebrochene Faszination durch den „Trennungskünstler“. Auch Mickel ist ein solcher, und das meint auch seine Fähigkeit, sich rechtzeitig von politischen Vorstellungen und Bindungen zu trennen, die er als unhaltbar erkannt hat. Volker Braun hatte das schon vor Jahren vermerkt, als er – neidvoll? vorwurfsvoll? – an Mickel schrieb:

Du auch hast deine Art, bei Sinnen zu bleiben
ohne wie sonst wer daß du alles fliehst.

Als Mickel Schritt um Schritt einsehen mußte, daß im Ostblock kein menschenfreundlicher Sozialismus geschaffen wurde, hat er sich nicht in eine von der Wirklichkeit künstlich abgetrennte, eingeschreinte Utopie des „wahren“ Sozialismus geflüchtet. Auch wenn er die Bundesrepublik nie gemocht hat: in puncto DDR keine Illusionen, keine sehnsüchtigen Projektionen, keine fatalen Bekenntnisse. Mickel blieb „bei Sinnen“, trat rechtzeitig aus der Interpretenklasse der DDR aus, die jetzt endgültig ihre Privilegien verloren hat. Auch Mickels Gedichte zeugen, Gott sei Dank, vom Leiden an der DDR. „Langeweile / und Lüge und Furcht / Drei graue Weiber / regieren“, heißt es in „An Czechowski“. Andere Verse, so die „Notzucht“-Epigramme oder die „Chinesisch-deutschen Tischreden und Trinksprüche“, dazu einige der Oden und Elegien enthalten unverkennbar kritische Anspielungen auf die Schrecken der DDR-Tagespolitik. Doch fehlt ihnen das Komplement einer Sehnsucht nach dem ganz Anderen eines „echten“ Sozialismus, ohne das eine Christa Wolf oder ein Volker Braun nicht leben und schreiben konnten. Mickel, der die DDR längst nicht mehr als „sein Eigentum“ (so Braun) betrachtet, muß heute nicht klagend schreiben:

Und unverständlich wird mein ganzer Text.

Der Abstand zu Braun und Wolf ist, bei aller Sympathie, übrigens auch in Palimpsest artikuliert, wie z.B. in dem Epigramm „Orpheus“:

Einst stieg Einer hinab. Er sang: Dort nennet sich Christa
Jede; erlösen die Welt will sie, und zwar mit dem Kreuz.

Mickel will die Welt nicht erlösen, er will in ihr leben und sie „aussaufen“, sprich: ihre Freuden erkennend genießen (so schon in dem umstrittenen Gedicht „Der See“, mit dem alles anfing). Seine aus Gedankenschärfe und Sinnenfreude, aus erotischer Versenkung und Trennungskunst und nicht zuletzt aus Sprachkunst gewonnenen Gedichte gehören aller Voraussicht nach zu dem, was bleibt.

Wolfgang Emmerich, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1992

Mickels Weiber

In den goldenen Jahren der DDR-Literatur, den Sechzigern, hatte Karl Mickel behauptet, die Nachwelt werde auf seine Gedichte angewiesen sein, wenn sie einst die Hälfte der Menschheit rekonstruiere. Er sagte nicht, warum es nur die Hälfte sein würde, und nicht, welche er meine. Nun liegen die ersten drei Bände der Schriften vor, Gedichte 1957–1989 sowie die „Raubstücke“ nach Aristophanes und Büchner, und es stellt sich heraus, daß er damals gerade nicht an die männliche Hälfte gedacht hat.
Bevor er auf solche Weise seinen Gedichten dokumentarischen Wert zusprach, war der erste Band Gedichte (Lobverse und Beschimpfungen, 1963) erschienen. Das sind noch „vermischte“ Gedichte, auch politische Gebrauchslyrik, die unter „Hälfte“ eher die fortschrittliche Menschheit verstehen. In einigen Gedichten aber, wo männliche Eitelkeit mit weiblicher Schwäche streitet („Maischnee“) oder unbeabsichtigt im Lob der schwerarbeitenden Frau männliche Überheblichkeit laut wird („Das Alltägliche“), rumort das kultur-evolutionäre Thema Liebe und Emanzipation. Als „Frühe Verse“ eröffnen sie jetzt mit elf weiteren den 1. Band der Schriften, der die Lyrik aus den Jahren 1957 bis 1974 enthält; sie haben Mickels Kursänderung zwischen dem ersten und dem zweiten Band überstanden, bei welcher die politische Gelegenheit als Poesiegrund über Bord geworfen wurde.
Drei Jahre später empfahlen Mickel und Adolf Endler in der Vorbemerkung zur Anthologie In diesem besseren Land (1966) das Liebesgedicht für die neuen Konflikte und Widersprüche des Zeitalters der Frauenemanzipation – ein Maßstab, dem für die Anthologie gerade drei, die Liebesgedichte von Tragelehn, Wiens und Mickel, genügten. Reicher fiel im selben Jahr die Ernte in Vita nova mea. Mein neues Leben aus Mickels zweitem Band, der jetzt, mit Ausnahme von „Reisen“, in die Schriften I aufgenommen wurde. An den politischen Aspekten des Themas nur mäßig interessiert, behandelte Mickel es als lebenspraktisches, stellte sich als Subjekt und dennoch in den Prozeß verwickelt dar, ein Ich, das mit der Repräsentanz Bechers nichts mehr zu tun hat. Hans Koch brachte das Wort vom Sexualpragmatismus auf, als er zu begreifen versuchte, daß in jenen Gedichten Mickels, den Sonetten zum Beispiel, alles andere geschah, als die Zweierbeziehung als Vollendung der Emanzipation zu feiern. Hier vervielfältigte Liebe die Begierde nach anderen und die Neugier auf Welt; hier band, mehr noch aber löste sie die Beziehungen, war „göttliche Unvernunft“ und erkannte sich im dantischen Schicksal des Odysseus, der, kriegsmüde, lieber eine fremd gewordene Heimat und Gattin verließ, als dreihundert Menschen zu töten, um Altbekanntes wiederzubekommen. Die Kritiker, denen das damals suspekt, unverständlich und obszön erschien, hatten offenbar keine Probleme mit dem sittlichen Widerspruch zwischen Treueforderung und Bereitschaft zum Krieg.
In den Sonetten verlangte alles nach Emanzipation zur Liebe. Hier sprach das lyrische Ich als Liebender zu den stilleren Freundinnen. Der Historiker hingegen trat auf den Plan, wenn es um die soziale Emanzipation der Frau, die Tatbestände des Frauenlebens in Familien, um Glücksverweigerung in der Generation der Eltern, um eine androgyne Perspektive der Frau in der technischen Weh ging. Hier gab er den Gestalten arbeitender Frauen ausführlicher das Wort.
In die Jahre zwischen Vita nova mea und Eisenzeit (1975), dem dritten Band, fällt das Projekt „Weiberherrschaft“, der Versuch, für das Berliner Ensemble aus der „Weibervolksversammlung“ des Aristophanes und einer Reihe zeitgenössischer Liebes-, Ehe- und Emanzipationsszenen ein „Pandämonium femininum“ zu machen. Der kurze Bericht, den Mickel von Absicht und Ausgang dieser Arbeit gegeben hat, fehlt leider im 4. Band der Schriften. Dabei zeigt er zusammen mit den Teilstücken die Richtung des Versuchs: die Aristophanes-Übersetzung mit dem bewunderungswürdigen Monolog der Praxagora und eine Reihe Gedichte („Großer Bunkerberg“, „Der Brocken“, „Frauentag“, „Neubauviertel“, „Kindermund“) setzen die Tendenz von Vita nova mea fort, daß die Konflikte der Emanzipation über das Liebesgedicht hinaus in die große, Öffentlichkeit verlangende Form drängen. Das nicht etwa, weil sich das Thema Liebe und Emanzipation inzwischen zum Thema Ehe/Familie und Emanzipation entwickelte, wo dann vor allem über die Doppelbelastung geredet werden mußte. Nein, mit Mickel zu sprechen, „das exponierte Material reichte weiter“. Der Autor eröffnete ein Feld gesellschaftsphilosophischer Polemik, trefflich geeignet, Gewißheiten zu destabilisieren, etwa indem er die historisch bzw. politisch handelnde Frau („Nausikaa“) zur Wegbereiterin der Klassengesellschaft machte. Oder indem er „Weibervolksversammlung“ (Aristophanes) mit „Weiberherrschaft“ übersetzte. Er spielte durch, wie die von Frauen geleitete Klassengesellschaft auf der Basis des Gemeineigentums an Sachen und des Privateigentums an Personen (Sklaverei) verlaufen würde. Das Resultat erscheint zunächst trivial, wenn es besagt, daß die Emanzipation der Frauen nur dann die Freiheit in der Gesellschaft erweitern würde, wenn sie Teil der allgemeinen Emanzipation sei, dagegen jede isolierte Gruppenemanzipation Herrschaft bleiben würde. Diese These formuliert Mickel jedoch pars pro toto. Mit dem realen Zustand der weiblichen Emanzipation hatte sie weniger zu tun als mit Selbstzufriedenheit der sozialistischen Gesellschaft. Auf sie zielte die Feststellung, daß sich die Schere zwischen Theorie und Praxis der allgemeinen Emanzipation immer weiter öffnete.
Von jetzt an gab Mickel seinen Frauenfiguren keinen moralischen Sonderkredit mehr. „Warum sollte ich die Personen der Szene anders behandeln, als sich die Menschen in der Wirklichkeit behandeln?“ hat er später einmal in bezug auf sein Stück Celestina gesagt. Das heißt, der sich emanzipierende Mensch war für ihn nicht gleichzeitig schon der sich befreiende Mensch.
In Eisenzeit spricht Mickel dann kaum noch von Liebe. Entweder schweigen die Gedichte demonstrativ, wo von ihr geredet werden müßte („Das Paar von Lemke“). Oder der Autor läßt sie ohnmächtig erscheinen („Die Träume“), zeigt sie nivelliert („Die Eibe“), in Zwängen. Nach siebenjähriger Bearbeitung des Themas, nämlich in dem Gedicht „Bier. Für Leising“ ist die Fließbandarbeiterin die Figur des Abschieds vom utopischen Bestandteil des Themas. Der Aufbruch aus der Rolle der unterdrückten Hausfrau und Maschinenarbeiterin hatte bestenfalls die verantwortliche Maschinenarbeiterin erzeugt. Der in der Frau tobende Streit zwischen dem erschöpften Leib und der gehorsamen Seele ließ weder Mann noch Frau eine Chance. „Mannesalter“, ein von Mickel ergänztes Fragment aus Johann Caspar Thürriegels Hinterlassenschaft, bedeutet, wenn man genau vermessen nach „altem Brauch“ mit „festem Leder“ im „Staub“ wandelt.
Die Richtigkeit der Analyse ist der Sieg des Analytikers. Doch Pyrrhus fällt mir ein, wenn ich die Ruinen und die Wracks sehe. Eine Fortsetzung der Emanzipationsthematik nach Eisenzeit, so scheint mir, war wohl nur möglich, wenn sich die Polemik eine neue Richtung in dem Gesamtkomplex suchte. Nach soviel Illusionslosigkeit mußte aber auch Hanswurst Gelegenheit gegeben werden, sein „Ich lebe gern“ zu sagen.
Das Ich in Palimpsest, dem nunmehr vierten Gedichtband, hat einen erweiterten Spielraum bekommen. Es wird freier bewegt, spricht auch freier von sich selbst. Lebensstrukturen werden erkannt („Mein Sternbild“), Hilfskonstruktionen des Aushaltens werden erläutert („Die Jahre“), Memento-mori-Verse ohne Eitelkeit notiert („Die S-Bahn“, „Der Tod“) – als sei damals, als sich die Zukunft zurückzog, weil die eigene Zeit stagnierte, diese wiederum übersichtlicher und kontrollierbarer geworden. Der eigentliche Spielraum kommt über die Spiegelebene „18. Jahrhundert“. Das ist ein willkürlich eingesetzter, aber wahlverwandter Filter, der nur das an Wirklichkeit ins Gedicht läßt, was mit Literatur und Musik dieser Epoche zurechtkommt, gesteigert werden kann. Anakreontisch geartet: Liebe als Schmäh auf eine Welt voll Bier, Fernsehsport und Kriegserinnerungen („Das Idyll“); Hohn auf die Sittenrichter einschließlich der neuen feministischen Moralistinnen („Anakreons Art“, „Maxime“, „Weltseele“, „Romanzero“); das ABC einer Gesundheitsvorsorge, die wie nebenbei den Weg zu Ehebruch und Doppelmoral erleichtert („Paragraph Aids“). Das alles ist das Reich von „Frau Welt“, die für die Welt nach ihren Gesetzen steht, in welcher das Ich nach den seinen lebt, welche heißen Liebe, Krankheit, Alter, Tod; davon ist nichts zu rekonstruieren, weil es sowieso von Dauer ist.
Was Palimpsest aber eigentlich heißt, das zeigen die freirhythmischen Oden. Die fünf Oden, zwei sind an Czechowski gerichtet, stehen in überzeugenderer Korrespondenz mit dem 18. Jahrhundert. Palimpsest meint auch das Durchbrechen eines Textes, um an einen darunterliegenden, verborgenen zu gelangen, und schließlich wird ein Text gelöscht, um Platz für einen neuen zu machen. Hier entbindet sich Mickel vom Reden in Bildern, Gleichnissen oder Materialien, enthält sich entlegener Gegenstände, geistesgeschichtlicher Spezialitäten, der Staffagen, Episoden und Denkrätsel; kurz, er trennt sich von seinem bisherigen lyrischen Apparat. Dafür tritt er wie aus einem Gehäuse. Man bekommt Direktheit des Urteils, dafür aber auch die anekdotische Privatheit, nimmt hin, was nur im Gespräch Vertrauter wichtig ist, und wird dafür unvermutet getroffen von lapidarer Charakteristik für die Jahre der Stagnation, laserstrahlscharf:

Langeweile
Und Lüge und Furcht
Drei graue Weiber
Regieren

(„An Czechowski“).

Wenn etwas der klassischen Forderung entspricht, in der Ode den Gegenstand groß und die Behandlung würdig zu halten, dann ist es Mickels Gegenstand in der dritten Ode: das Volk auf seinen Fußballplätzen in Dresden und Berlin. Hier kehrt die politische Gelegenheit ganz groß in seine Lyrik zurück. So hatte Mickel seit den „Dresdner Häusern“, d.h. seit den sechziger Jahren, nicht mehr vom Volk geredet. Auch das erinnert an die sechziger Jahre: Es beginnt mit dem Lobvers auf die interessenlose Lust, die das Spiel gewährt. Spiel ist, mit allen, auch dem Gegner, gemeinsam zu sein, in aller Öffentlichkeit, in Kenntnis aller Voraussetzungen, aller Beteiligten. Kurz, ein Fest und ein Meisterwerk, das neue und andere Lust weckt, den philosophischen Kommentar und den Kunstvergleich nicht zu scheuen braucht, weil es nichts mit Kompensation zu tun hat, sondern sich selbst genügt. Gegen diese Ästhetik des öffentlichen Spiels ist der Berliner Teil gesetzt: Fußball, vermischt mit dem trüben Zustand des Landes. Da kommen die Fans von „Eisern Union“. Es kommen die „Bewaffneten“ mit den Hunden. Anarchische Wutlosungen erscheinen an Wänden, Palimpseste auch sie, und zwar über den Texten der öffentlichen Ordnung. Das ist die neue Generation des arbeitenden Volkes:

… die Verdammten
Dieser Erde, grau wie Zementsäcke
Die Schultern krümmen in Warte-Hallen
Und Werk-Höhlen

gerade noch in der Lage, die Regionale, ihre Internationale, zu skandieren:

Wohin mit BFC? – In Gully.
Was sollnse dort? – Stinken. Wie lange? – Ewig.
Wohin Union? In Himmel.
Was sollnse dort? – Leuchten. – Wie lange? Ewig.

Da wird auch eine Antwort der Proleten an Brecht skandiert, der nach den Arbeiterdemonstrationen vom 17. Juni geschrieben hatte, das sei die Klasse gewesen, wenn auch „in ihrem depraviertesten Zustand“. Den Schluß von Brechts „Böser Morgen“ aufnehmend, widerspricht Mickel allen, dem Brecht, der Partei und auch der Klasse. Er kann nur noch trüben Bodensatz von Herrschaft erkennen. Daher die Qual, die den Schluß der Ode ausmacht, wenn sich die leidenden Massen in ihren Fußballmannschaften entzweien und aufeinanderjagen lassen, Berlin gegen Sachsen, Dresden gegen Union.
Mickel schrieb Palimpsest, als sich die DDR in ein Realpalimpsest zu verwandeln begann, die Geschichte dazu überging, einen ihrer Texte wieder auszulöschen. Denn ein historischer Text ist es für Mickel und nicht etwa ein Irrweg. Er bemerkte vieles zu früh, als daß er so bald hätte verstanden werden können. Und auch das sagt er von sich selbst – dort, wo bei 0 Grad Kelvin der Engel fliegt, seine Muse.

Rudolf Heukenkamp, neue deutsche literatur, Heft 460, April 1991

 

DIE DÜSTERE LEGENDE VOM KARL MICKEL

Losgekettet habe ich mich oft mit Bissen,
Dickes Blut fl0ß mit dem Speichel aus der Zunge.
Von den andern schnitt ich sanfter mich mit Küssen.
Einmal noch, nur einmal! flehten Alt und Junge.

aaWankend stand der Feind der Lügner und der Trägen
aa– Wars Villon, Karl Mickel, war es Oscar Wilde? –,
aaSah sie eifrig, junge Fraun, den Schandpfahl sägen;
aaWitwen, sie vor allem, haben sich beeilt.

aaAuch der Hohe Rat hat ihn mit Macht gescholten:
aaSeine sittenlosen Schriften treff der Bann!
aaDrei Doktoren unsrer Alma mater rollten
aaJenen Pfahl zum Markt: Reicht her den Mann!

Losgekettet habe ich mich oft mit Bissen,
Ha und Blut floß mit dem Speichel aus der Zunge.
Von den andern schnitt ich sanfter mich mit Küssen.
Einmal noch, nur einmal! flehten Alt und Junge.

aaOb mit Eheringen, güldnen, ob mit Beilen
aaZielten sie auf was man lustvoll schiebt.
aa(Drei Doktoren gründlich tilgen Mickels Zeilen,
aaBis es keine auf der ganzen Welt mehr gibt.)

aaEisig nunmehr, Heros düsterer Ballade,
aaEr skandierte: Each man kills the thing he loves.
aaUnd sie taten es und schnürten ihn zum Rade.
aaKonnte keiner Englisch in dem Rund des Kaffs?

Adolf Endler

 

MICKELS ELBE

So rissest du die Erde auf
mit Worten
wie mit Fingern fast
die streichelnd erst
sich in die Haut dann krallen
und bahntest Weg dem Strom
den du uns nennst:
Die Elbe.
Den wir so sehn, wie du
gesagt:
vom Wetter schwarz, am Ufer Stein
mit Zeichen viel
unglaublich wahr
und nicht dein Witz
sagst du.
Walpurgisnacht im biedren Sachsen
siehst du da gern.
Der Unfall dann:
die Leute stehn
aaaund sehn
aaasie harrn
aaaund starrn:
Neugierig, kaum mit
Leid.
Und dann:
Geschichte, Ungeheuer, Stadt
mir bleibt die Sprache weg
bin klein und still.
Nichts ändert sich allein
las ich wohl noch.

Gerd Adloff

 

 

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts fand 1992 in der literaturwerkstatt berlin ein poetologisches Gespräch zwischen Stephan Hermlin, Adolf Endler und Karl Mickel statt.

In der Reihe Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts präsentierten Autoren ein frei gewähltes „fremdes“ und ein eigenes Gedicht aus einem Jahrzehnt. So entstanden Zeitbilder und eine poetologische Materialsammlung zur Dichtung eines Jahrhunderts. Das Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel fand 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin statt und ist hier online zu hören.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

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Nachrufe auf Karl Mickel: Berliner Zeitung ✝ FR ✝  der Freitag ✝
Der Tagesspiegel ✝ Die Zeit ✝ FAZ ✝ ndl ✝ NZZ ✝ Ostragehege ✝︎

Konrad Franke: Der souveräne Weltanschauer
Süddeutsche Zeitung, 23.6.2000

Ijoma Mangold: Forderung nach Leichtigkeit und Höhe
Badische Zeitung, 24.6.2000

Zum 10. Todestag von Karl Mickel:

Thomas J. Richter & Heike Friauf: Eine Frage – Zum 10. Todestag des großen deutschen Dichters Karl Mickel
Die Linke, Juni 2010

Zum 80. Geburtstag von Karl Mickel:

Stefan Amzoll: Was ist das, ein Mensch?
neues deutschland, 12.8.2015

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Mickel“.

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