Karl Mickel: Zu Richard Leisings Gedicht „Der Sieg“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Richard Leisings Gedicht „Der Sieg“ aus Richard Leising: Gebrochen deutsch. –

 

 

 

 

RICHARD LEISING

Der Sieg

Das ist der Sieg: Lautsprecher! Organ, machtvolles
Sprich uns über die Zeiten. Keine Wolke im Stadion
Ideale Bedingungen; diese Weiten, diese Höhen, viele
Im Faltenwurf des Rekords. Die Kugeln sind alle
Gestoßen, die Geher gekommen, einige Springer noch
Werden beworfen mit Speeren vom andern Ende des Felds
Worauf die Welt blickt. Wie ist die Zeit? Bestzeit
Ist ausgerufen ausdrücklich, auf drehenden Tafeln
Lichte Ergebnisse, die wie Schalmeien blitzen
In ein herrliches Publikum. Wir zählen eins zwei
Drei Podeste, aufs höchste klettert der Sieg, belaubt
Und ernsthaft; einige Kämpfe dauern noch an, Abend
Trifft schräg die Traversen. Ungültiger Sprung dort!
Zu den tiefen Podesten starten frisch die Niederlagen
Mit Blumen Mädchen tanzen über die Tartanbahn quer
Durch den Einlauf im Marathon, Herren in sportlichem
Anzug verhängen Medaillen. Erfrischungen, Andenken
Abzeichen, Gesundheit und Vaterland; mit schwerem Kranz
Dreht ein Läufer die ehrende Runde. Wer Sieger ist
Dessen Hymne wird gespielt und Fahne gehisst.

 

Bestzeit, Endzeit

Richard Leising ist 57 Jahre alt. Als Dramaturg in Magdeburg und DDR-Berlin war er ein entschiedener Anwalt der Bühnen-Dichter gewesen; nun ist er in den Vorruhestand versetzt worden. In der Gewißheit, daß er jederzeit makellose Verse schreiben könne, schrieb er äußerst selten, publizierte kaum und hielt so manche Widerwärtigkeit sich vom Leibe. Sein Gedicht-Werk umfaßt 76 Seiten; er ist ein eschatologischer Autor. Eschatologie heißt: die Lehre von der Endzeit und den Letzten Dingen.
Leising schreibt nicht Gedichte: er schreibt immer das Gedicht. Sobald die letzte Hand angelegt ist, entläßt es seinen Urheber, da es Widerruf nicht zu fürchten hat. Verstummte der Autor, hätte er seiner Pflicht genügt, kein Stachel bliebe. Das Dictum ist autoritativ.
Nicht jeder Vorwurf taugt. Das Material muß lange prozessiert und sich das Urteil letzter Instanz verdient haben; der eschatologische Dichter vollstreckt es, indem er es formuliert. Sein Reich beginnt dort, wo der Weltstoff selber poetisch geworden, nämlich zum Beschluß gekommen ist.
Die modernen Olympischen Spiele, wie die klassischen, stellen mehr dar, als sie vorstellen. Was vor zweieinhalb Jahrtausenden das Dasein eines gemeinsamen Heiligtums benachbarter Stämme, also deren zusammentreffende Interessen bekundete, repräsentiert heute die Allgegenwart der sogenannten Medien. Insofern deuten die Spiele symbolisch auf ein Übergreifend-Ganzes.
Aber auch das interne Geschehen der Wettkämpfe ist bereits zeichenhaft; Goethe nennt derlei: bedeutend. Der Kannibalismus ward gemildert zum Menschenopfer; der Ritualmord wich dem Gladiatorengefecht, welches den Kombattanten die Überlebenschance öffnete; die pöbelhafte Arena nobilitierte sich zum ritterlichen Turnierplatz, wo streitsüchtige Elite exklusive Fairneß einübte; die gestumpfte Waffe und der Feind in Gestalt der Sportkameraden möblieren unsere zeitgenössischen Anlagen; die Atavismen lauern. Ein und dieselbe Disziplin kann ihren Sinn wandeln; Tennis war noch vor fünfzig Jahren Herrensport (sentimentalisches Mittelalter), der Ball war weiß. Der gelbe Ball heute meint das missile; höchstspezialisierte Professionelle dirigieren ihn/es mit mikrochirurgischer Präzision. Leising erkennt das Stadion als das, was es, vor aller Augen ungesehen, ist: Nachbild des Weltrunds.
Die metrische Gestalt des Gedichts ist unregelmäßig, jedoch so geformt, daß sie den idealen Hexameter (Vers 6) bruchlos integriert. (Der Fachmann weiß, wie ungern reguläre Metren offenen Strukturen sich einfügen.) Der Versbau nimmt derart, sehr zart und fest, Kontakt mit den drei klassischen poetischen Bildern des Weltkreises: Achills Schild, Homers Gottes-Werk, faßt ihn naiv; der Schild des Aeneas, Vergils Auftrags-Werk, reflektiert das Bild des Vor-Bildes; Reinekes Toiletten-Artikel, Goethes Blend-Werk, denunziert den ideologischen Dünkel. Im Spiegel erscheint das Konterfei des Betrachters; es dünkt ihn Welt, und der pseudoheroische Rahmen umschnörkelt seine Eitelkeit.
„Wie ist die Zeit? Bestzeit / Ist ausgerufen ausdrücklich“; daneben aber steht geschrieben:

Abend
Trifft schräg die Traversen, und: Die Kugeln sind alle
Gestoßen, die Geher gekommen.

Die Wörter, bei der Sache genommen, kollidieren und sprechen aus: die Nichtigkeit der Sache. Bestzeit heißt Endzeit.

Lichte Ergebnisse, die wie Schalmeien blitzen
In ein herrliches Publikum:

Alles ist eitel.

Der Sieg schließt mit einem Couplet, welches buchhalterisch nüchtern piano die Summe zieht.

Wer Sieger ist
Dessen Hymne wird gespielt und Fahne gehisst.

Leising schrieb das Gedicht 1971; der DDR-Sport-Kult hat es provoziert. Die Verse, nach zwanzig Jahren, stehen unbeschadet.

Karl Mickelaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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