DIE LICHTSCHEUEN SCHEICHE VERSUNKENER REICHE
wilhelm, walter, erich, egon
& wie sie nicht noch alle hießen
die abgehalfterten ellerkongen
beispielloser sozialer großexperimente
blockwarte, oberaufseher & generalsekretäre
die über uns wachten in unserer ohnmacht
getrübt von abschottungsmaßnahmen
im vorfelde ökonomischer zerklüftung
erfreute sich viel volks der lebenslust
& insonders sinnenfreude, inneren querelen
sowohl als auch der grausamkeit verschiedener
nunmehr versiegter übergeschnappter
ist es, wenn man so will, zu danken
daß ihr übertriebener gesellschaftsentwurf
versangundklangloste; despotenpech
jetzt herrschen sie, wie ich wiederholt
von vorläufern & wiedergängern gehört
im abgrunde unter den hohnlochländern
& ihr alter egos, diese scheuchen
verantwortung-rücksicht-partnerschaft-
freiheit-wohlstand-sicherheit-gemäß
unverdrossen stockenbalkenbiegungsmäßig
über ihre ehemaligen wirtschaftsgebiete
im subkultmund: untertanentraufen
die noch schnell aufblühen, bevor sie
unentschieden flattern die fittiche
der unentschlossenheit, verglühen
: menschenschicksal, ihr unternietzschen
Bert Papenfuß
was im Herbst des Jahres 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik geschah. Niemand in Ost und West war darauf vorbereitet, daß so schnell die Herrschaftsstrukturen des 1949 gegründeten Staates zerbrökeln würden und daß sich so zügig das verwirklichen ließe, was emphatisch ,deutsche Wende‘ genannt wird. Noch ist vieles, was damals geschah, in lebendiger Erinnerung; die Demonstrationen mit den aufrüttelnden Rufen: „Wir sind das Volk!“, der Jubel in der Nacht am 9. November, die festliche Freude des ersten gesamtdeutschen Silvesters.
Die Freude ist vielerorts gewichen, die Euphorie ist im Geschiebe und Gedränge der Realitäten zerrieben worden und zur bloßen Erinnerung geronnen. Noch ist nicht abzusehen, wann und ob die ,Wendezeit‘ ihr gutes Ende findet, wann die Deutschen der DDR und der alten BRD wirklich vereinigt sind, unter denselben wirtschaftlichen und geistigen Bedingungen leben können und überdies im vielzitierten europäischen Haus ihre selbstverständliche Unterkunft gefunden haben. In der besonderen Sprache des Gedichts haben sich Autorinnen und Autoren zum Geschehen der deutschen Wende geäußert. Es sind Versuche erster Bilanzierung – immer aus der persönlichen Sicht von Beobachtern und Betroffenen. Ein Gedicht von Karl Krolow gab dieser Anthologie den Titel; versammelt sind 130 Gedichte von 82 Autorinnen und Autoren. Viele der Gedichte wurden nur in Zeitungen und Zeitschriften publiziert oder entstammen Manuskripten und sind bisher unveröffentlicht.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1993
Volker Breidecker: Ein Aufklärer
Süddeutsche Zeitung, 18.2.2016
Ralf Stiftel im Gespräch mit Karl Otto Conrady: Über Gedichte, Politiker und völkisches Gerede
wa.de, 29.2.2016
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