– Zu Günter Kunerts Gedicht „Es sind die Städte“ aus Günter Kunert: Wegschilder und Mauerinschriften. –
GÜNTER KUNERT
Es sind die Städte
Die Stadt ist die Erste.
Die Stadt fängt an.
Die Stadt beginnt.
Die Stadt ist der Stein.
In den See geworfener Stein.
Nun Kreise ziehend.
Über die ruhige, weite Fläche Wasser.
Überall Trägheit lockernd.
Erregung bringend – Frische.
Die Stadt beginnt.
Die Stadt ist der Mund.
Die Stadt ist Faust und
Banner roter Farbe.
Von hier geht,
vom Mund geht
die Erregung ins Land.
Die Faust und das Auflockern.
Fahne, Rot, Frische.
Nach Überall.
In vielen Wellen.
Die Stadt ist der Stein.
Günter Kunert ist 1929 in Berlin geboren. Nach literarischen Debüts in Zeitschriften – etwa im Ulenspiegel – sind seine ersten Bücher – die Gedichtbände Wegschilder und Mauerinschriften und Das kreuzbrave Liederbuch in der frühsten Gründerzeit der Deutschen Demokratischen Republik im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienen. Er veröffentlichte in den sechziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands – u.a. die Lyrikbände Erinnerung an einen Planeten, 1963, Der ungebetene Gast, 1965, Verkündigung des Wetters, 1966. Wachsende Restriktionen schränkten seine Publikationsmöglichkeiten im Osten mehr und mehr ein; seit den späten siebziger Jahren hat er nun auch seinen festen Wohnsitz in Westdeutschland.
„Es sind die Städte“ ist 1950 erstgedruckt in Wegschilder und Mauerinschriften. Es handelt sich also um einen Text, der seiner Entstehung nach noch ganz im Schlagschatten des Kriegsendes mit seinen überall sichtbaren Zerstörungen und im Bannkreis der konträren, von Anfang an auf Distanz stehenden Gründungen zweier deutscher Staaten zu sehen ist. Angesichts der noch kaum geräumten Ruinen von Berlin, Dresden und Frankfurt (am Main wie an der Oder) verblüfft jedoch, in welch hohem Grad der Verfasser des Gedichts von eben dieser Trümmerrealität absieht – abstrahiert! Von ,Städten‘ oder ,Stadt‘ ist ja fast ausschließlich in abgeleiteten Bildern, in metaphorischen Wendungen, aber nicht realistisch-direkt und konkret die Rede…
Gleich mit der ersten Zeile des Textes wird die Stadt – und es bleibt das ganze Gedicht hindurch bei dieser Allgemeinbezeichnung – zur handelnden Person erhoben: sie „ist die Erste“, sie „fängt an“, sie „beginnt“. Der dritte Absatz nimmt diese anthropomorphisierende Metaphorik auf und führt sie weiter: die Stadt „beginnt“, sie ist „der Mund“ und „die Faust“ – und in ihr das „Banner roter Farbe“. Ein eigener Bildimpuls geht von der letzten Zeile des ersten Textabschnitts aus, die der zweite Absatz aufnimmt: „Die Stadt ist der Stein“. Nach dem optimistischen, auf ,Beginn‘ und ,Aufbruch‘ hin formulierten Gedicht-Auftakt ohnedies nicht anders zu erwarten, entwickelt sich dieses Bild nicht in Richtung ,Steinwüste‘ und ,Steinmeer‘, sondern geradezu gegen diese meist elegisch und in Negativwertung eingesetzten Ausdrücke, wie wir sie aus der Tradition der Großstadtlyrik in hundertfacher Wiederholung kennen. Es geht Kunert ja gar nicht um die Stein-Stadt; er will vielmehr illustrieren, welche lebendigen Wirkungen von der Stadt ausgehen, deshalb die Fortführung des poetischen Ausdrucks:
In den See geworfener Stein.
Nun Kreise ziehend.
Über die ruhige, weite Fläche Wasser.
Überall Trägheit lockernd.
Erregung bringend – Frische.
Im folgenden – vor allem mit dem vierten Absatz – verbindet sich das Stein-Bild als Ausdrucks-Äquivalent für das Leben der Stadt und seine Ausstrahlung in alle Richtungen mit der anthropomorphisierenden, die Aktivität der Stadt zum Ausdruck bringenden Metaphorik; die Vorstellung vom Stein, der – ins Wasser geworfen – konzentrische Wellenkreise zieht, ist jedenfalls noch im Ohr, wenn es heißt:
Von hier geht,
vom Mund geht
die Erregung ins Land.
Die Faust und das Auflockern.
Fahne, Rot, Frische.
Nach überall.
Und ausdrücklich unterstreicht die erste der beiden isoliert stehenden Schlußzeilen diese Übertragung, während die zweite und letzte des Gedichts überhaupt das Ausgangsbild „Die Stadt ist der Stein“ wie einen Nenner des Ganzen noch einmal wiederholt.
Doch zurück zur Ausgangsfrage: wie kommt es zu dieser überraschend bejahenden Sicht der Großstadt innerhalb der Trümmerrealität der unmittelbaren Nachkriegszeit? Natürlich hat es zur Entwicklung der großen Städte – bis hin zu den Weltmetropolen – immer wieder auch äußerst positive Urteile gegeben, in denen die Quirligkeit der Lebensverhältnisse, das Anregende der abwechslungsreichen Atmosphäre etc. betont werden. So schreibt Ludwig Börne in seinen zwischen 1822–1824 entstandenen Schilderungen aus Paris unterm Titel „Lebensessenz“:
Nicht einem Strome, einem Wasserfalle gleicht hier das Leben; es fließt nicht, es stürzt mit bedeutendem Geräusch. (…) Jeder Gedanke blühet hier schnell zur Empfindung hinauf, jede Empfindung reift schnell zum Genusse hinan; Geist, Herz und Sinn suchen und finden sich, keine Mauer einer traurigen Psychologie hält sie getrennt. (…) Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft.1
Und durchaus ähnliche Urteile finden sich im weiteren Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts auch über die erste Großstadt Deutschlands – Berlin –, die bei Börne noch voll als negativer Kontrast herhalten muß. Wie dem jungdeutschen Autor geht es Kunert aber nicht um die wertneutrale Feststellung von großstädtischer Lebenslust, sondern um ein Urteil vor politischem Horizont. Das „Banner roter Farbe“, „Faust“, „Fahne, Rot, Frische“ verraten, daß es dem Autor darum zu tun ist, der sozialistischen Aufbruchsstimmung poetisch Ausdruck zu verleihen und hier den ,Städten‘, der ,Stad‘ eine wichtige Pilotfunktion zuzuweisen.
Als Vorbild für ein solches sozialistisches Städtelob bot sich partiell auch die expressionistische Literatur der Weimarer Republik an, Verse etwa wie „De Profandis III“ von Johannes R. Becher mit folgendem hymnischen Einsatz:
Singe mein trunkenstes Loblied auf euch ihr großen, ihr rauschenden Städte.2
Zwar sind es durchaus die niederdrückenden sozialen Zustände, auf die Becher hinweist, Not, Qual, Gewalt etc., aber er negiert die deprimierende Sicht der Naturalisten und überschreitet sie; wir finden bezeichnenderweise Gedichttitel wie „Erwachen der Stadt der Qual“ und „Erwachen der Neuen Stadt“:
Mählich aber schlingt sich um das fahle
Stadtgeripp der Frühe Strahlengruß.
Brücke kniet zum Stern der Kathedrale.
Tönend züngelt ein Spiralenfluß.
Riesenfalter schwirren tausend Sonnen
Durch der Türme struppiges Geäst.
Menschen schreiten wie Athleten fest,
Von der Bläue Panzer überronnen.
Löwen tauchen blinzelnd aus Trottoiren
Rings wie Krausen Parke um den Hals.
Karusselle um die Plätze fahren.
Melodien wie im Raum des Walds.3
Ohne auf dezidiert-expressionistische Ausdrucksmittel zu rekurrieren, teilt Kunert diesen Blick auf die neue, mit der neuen Gesellschaftsordnung Gestalt gewinnende Stadt. In diesem Sinn greifen die Herausgeber der DDR-Lyrik-Anthologie Über die großen Städte von 1968 die Verse Kunerts auf, nutzen sie als Beleg für ihre These, daß die „Dichtung im Osten des Landes, antifaschistische und sozialistische Traditionen fortführend“, von Anfang an eine andere als die ,Kahlschlag‘-Tonart der westdeutschen Literatur gezeitigt habe, und zitieren sie in folgendem Kontext:
Der Appell zum Neubeginn, der Impuls für das Neue geht von der Stadt aus, von denen, die aus den Städten vertrieben wurden, die sich in den Städten verborgen halten mußten. „Die Stadt ist die Erste. / Die Stadt fängt an. / Die Stadt beginnt. / Die Stadt ist der Stein“, heißt es bei Günter Kunert. Die große Stadt, Geburtsstätte der Arbeiterbewegung, ist Keimzelle der neuen Entwicklung; sie schafft die materiellen und geistigen Voraussetzungen für ein neues Leben.4
Diese Inanspruchnahme des Textes hat jedoch auch ihre Grenzen! Zeitlich exakt parallel mit der Erstveröffentlichung von „Es sind die Städte“ in Wegschilder und Mauerinschriften – 1950 – konnte man in der Zeitschrift Ulenspiegel – mit „Großstadt“ untertitelt – einen graphischen Beitrag Kunerts finden, der zwei obdachlose Männer auf einer Bank zeigt, den einen hoffnungslos vor sich hinstierend, den anderen schlafend, nur mit einer Zeitung zugedeckt, deutlich lesbar der symbolisch gemeinte Titelbalken: Time.5 Das mutet geradezu wie eine Kontrafaktur der Versaussage an, offenbart jedenfalls, daß die Einstellung zur Großstadt schon zu diesem frühen Zeitpunkt auch in der DDR facettenreicher, widersprüchlicher und konfliktträchtiger anzusetzen ist, als es der Anthologie-Herausgeber der späteren sechziger Jahre wahrhaben will. Und andere junge DDR-Autoren, die in diesen Jahren zu publizieren begannen, bestätigen diesen Eindruck, Christa Reinig (geb. 1926) etwa, mit einer ihrer ersten Lyrikveröffentlichungen, einem Gedicht auf ihre Geburtsstadt – „Die Stadt Berlin“ –, ebenfalls im Ulenspiegel gedruckt:
Die große Stadt ist ganz auf Sand gebaut.
Du läßt sie sinnlos durch die Finger rinnen
Und ungeduldig,
Denn klare Sicht und wissen müssen,
Daß alles fällt und aufgerichtet
Wieder fällt
Gibt den Gedanken seltsame Bewegung
Und große Worte sind in Sand geschrieben.6
Bis in die Bilder hinein, die den Text prägen und aufbauen, kommt es also zur Gegensetzung: die Rolle, die in Kunerts „Es sind die Städte“ der ins Wasser geworfene Stein einnimmt – „Die Stadt ist der Stein“ –, hat hier die Sandmetapher übernommen – „Die große Stadt ist ganz auf Sand gebaut“.
Auch Kunert selbst bietet nicht nur als Graphiker, sondern auch in seiner Lyrik entsprechende Beispiele für eine gegenläufige, eher düstere als helle Stadt-Auffassung, und nicht erst in den späten fünfziger oder gar in den sechziger Jahren! Zeitlich parallel mit Wegschilder und Mauerinschriften erscheint, wie angemerkt, Das kreuzbrave Liederbuch. Es enthält einen kleinen Zyklus „Berliner Lieder“, der nun sehr deutlich die gegenwärtige Lage dieser Stadt vor Augen stellt und erst über sie zu Verallgemeinerungen vorstößt. Das einleitende Gedicht – „Betrachten“ – als Beispiel:
Hunderttausend Dächer decken unsern Rücken
Hunderttausend Wände bergen unsern Leib
Vor der Kälte und dem Regen und den Blicken;
Bergen auch den Tod und auch den Zeitvertreib
So viel Türen: keine davon führt ins Freie,
Hinter jeder ist nur immer wieder neuer Raum,
Darin Seufzen, Reden, Lachen, Stöhnen, Schreie,
Das vergeht wie droben weißer Wolkenschaum.
Menschen sind wir, viel und wenig gleichermaßen:
Unsre Städte hier sind unser Manifest.
Lest die Zeilen und die Sätze unsrer Straßen.
Lest, lest, lest! Und wenn ihr könnt, vergeßt.7
Es fällt schwer – mit „Es sind die Städte“ zu sprechen –, sich diese Berlin-Stadt als „Erregung bringend – Frische“ vorzustellen. Zu stark ist der Eindruck des Beschwerlichen, zu dominant der Reflex auf die Beschädigungen der jüngsten Vergangenheit; und die Gegenwart setzt sich davon nicht als neue Dimension abrupt ab: stark nihilistisch geprägt und existenzialistischen Vorbildern verpflichtet sind die Motive der ,geschlossenen Türen‘ und der ,Wiederkehr des Immer-Gleichen‘, mit denen die zweite Strophe eröffnet. Zum ,Manifest‘ wird diese Stadt genau in dieser Richtung als Negativ-Exempel. Gerade deshalb aber handelt es sich – weil sie sich als Gegensätze aufeinander beziehen lassen – doch um keinen absoluten Widerspruch zwischen beiden Texten. – Auf einem anderen Blatt steht, daß sich die Hoffnungen, die Kunert 1950 an die Ausstrahlungskraft der sozialistischen Stadt und Großstadt knüpfte, auch in sich bald enttäuschten. Das demonstrieren beispielsweise Gedichte Wolf Biermanns wie „Kleinstadtsonntag“; sie zeigen, wie rasch die Weilen, die von der Stadt aus ins Land ziehen, verebben, wie eng ihr Zirkel ist, und man zweifelt schließlich sogar, ob da überhaupt ein Anfang, ein Beginn gesetzt wird:
Ist hier was los?
Nein, es ist nichts los.
Herr Ober, ein Bier!
Leer ist es hier…8
Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983
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