Karl Stocker: Zu Ulrike Draesners Gedicht „Isar. Rausch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ulrike Draesners Gedicht „Isar. Rausch“ aus dem Gedichtband Ulrike Draesner: gedächtnisschleifen. −

 

 

 

 

ULRIKE DRAESNER

Isar. Rausch

aaaaazieht sich den Stoff in die Vene,
aaaaawas braun wird, was ein rechter Isar ­–

Rausch, husch, husch und rush hour, ein Wagen
heißt jetzt chariot, sagt man Straßen und Bahn oder
chewing gum, Bewegung als Hauptwort sagt man nicht,
die Stadt malmt das Lebensfleisch auf schwarzen
Märkten kanten die nachts verbuddelten Toten
Steinplatten auf den Hungrigen Zähne an
die Kiefer gedrillt. Langsam beben sie nach.
Oben reingeschüttet, unten rausgedrückt, Preßsack Mensch,
das ist die allgemeine Ernährungsweisheit, auf dem Gehweg
ein Schild: hier kein Anrainerverkehr, Parkscheinbereich
genannt Schwabing, Paare, Motoren, einige tiefere
Brandmauern (Abbild): einer reihert auf die Straße
in Kunstfarben, in Kehren kommt die Straßenbahn wieder,
Ainmillerstraße, die Mauer war ein Gesicht
vor dem ersten Krieg, als Klee und Macke,
als hier noch etwas Grünes, dann Annulierfarben zum
chemischen Chagall die Maler auf eine Reise gehaftet,
die ganze Wohnung in den zweiten Krieg, eine Ariel-
Abbrennhalde, aufgegangen, und Farbenausfluß durch
Angstkacken, braun in den Fluß gespritzt,
aaaaa45 Jahre,
aaaaaan der Vene annulliert, langsamer
Rausch, sagt man wieder, wer hier anrainert,
noch immer Straßenbahnbau, Zwischengeleise,
jetzt unterirdisch, also erneute Sternfahrten,
häuptens wie säulends Trassenkunst (Ost-West-Schnitt),
was zuvor achsenwärts war, jetzt reine Euroregion
überdacht gepflegtes Unterweltsquartier, kanalsbeampelt
flutet unterm Kunstsäulenhaus, neben SSSchildern
(nicht nur nicht abgebrannt) das gesamtgeartete
Vergangenheitssystem überlebensparat Bettzeug,
Büchsen, Bunkerflittchen nach oben, rauschend
husch und rasch, jede Stunde
aaaaazieht die Stadt sich den Stoff ein,
aaaaazum erlaubten Rausch Isar-lschariots.

 

München – zum Millenium

Von Ulrike Draesner, 1962 geboren, Literaturstipendiatin der Stadt München, liegt ein Interview vor (über dieses andere München-Gedicht), das sie Peter Michalzik gegeben hat. Immerhin kommt in der hier gewählten Abfolge der Text vor dieser Exegese durch die Verfasserin. Dann folgt die Interpretation des relativ abstrakt gehaltenen und metaphorisch angereicherten Sprachgebildes mit einem Titel, der im Kern – als Einwortsatz – „Isar“ heißt, im anderen Bestandteil enjambementgleich in den Gedicht-Text übergeht, der bis dahin unveröffentlicht war und als Beispiel für die viel-sagende SZ-Serie Dichtung und Wahrheit diente. Ulrike Draesner geht im Verlauf des Gesprächs auf Schreibanlässe und Teilinhalte ein:

Es ist sozusagen ein wirkliches München-Konstrukt, aus lauter realen Details zusammengesetzt. Das Gedicht fing damit an, daß ich erfahren habe, daß der Klee in der Ainmillerstraße gewohnt hat. Dann ergab sich über seine Tunisreise mit Macke ein Zusammenhang zum Ersten Weltkrieg. Macke kommt um, Klees Bilder gelten später als ,entartete Kunst‘. Dann kam dazu, daß ich von dem unterirdischen Bunkersystem gelesen habe.

Auf den Hinweis, daß ja im Zentrum des Gedichts offenbar das „Bild der Stadt als Fixerin“ stehe, antwortet Ulrike Draesner:

[…] es kommen mehrere Sachen zusammen. Das Rauschen, das amerikanische Element nach dem Krieg, Rausch und rush hour, die Vene, das Spritzen, das Wasser, das fließt, das Wasser oder die Farben, die in den Kriegsnächten in diesem Verfallsfluß erzeugt werden, das Chemische, die Vergiftung.

An dieser Stelle sei die Anregung angebracht, künftig nicht nur weibliches Schreiben und weibliches Sprechen, sondern auch weibliches Lesen, Sehen, Hören, audio-visuelles Aufnehmen und vielleicht auch weibliches Deuten und Interpretieren als Spezifika weiblicher Kreativität, jedenfalls entschlossener als bisher zum Gegenstand von Betrachtung, Deutung und Forschung zu machen.
So aufschlussreich die Hintergrundinformationen der Verfasserin auch sein mögen: das Gedicht spricht für sich (selbst) als eine eher surrealistisch angelegte Botschaft, dem Leser nähergebracht mittels einer Bilderfolge, die leitmotivisch am Isarfluss aufgehängt ist, der den komplexen Organismus Münchens durchflutet und durchblutet. Der Fluss ist begriffen als Schicksalsfluss in einer nur vage angedeuteten diachron-geschichtlichen und – mehrenteils – synchron-zeitgeschichtlichen Sehweise. Und Rausch ist sozusagen gleich-wertig (und ungeniert) textintegriert: Die beiden ersten und die beiden letzten Zeilen des Gedichts sind die Rahmenhandlung, dazwischen gebettet ist die Folge von Bildern und Impressionen einer Stadt in ihrer Zuständlichkeit, Befindlichkeit in den Jahren vor dem Millennium.
Nun könnte sich, für einen Photographen zum Beispiel, als Aufgabe herauskristallisieren, das mittelalterliche München, das München der Renaissance, des Barock, des 19. Jahrhunderts (mit seinen eklektizistischen Zeichen in der Architektur), das München im 20. Jahrhundert mit der Vorkriegszeit (oder der zwischen den beiden Weltkriegen) und der Nachkriegszeit (nach 1945) exemplarisch darzustellen, das München mit seinen zerstörten, halb-zerstörten oder übrig gebliebenen Signaturen der NS-Zeit, in der München Hauptstadt der „Bewegung“ war oder zumindest offiziell als solche geführt wurde. „Bewegung als Hauptwort sagt man nicht“ (mehr), heißt es ja schon in der dritten Zeile.
Da ist – zunächst, eher vordergründig – der Versuch einer Bestandsaufnahme des Realen, der Wirklichkeit. Zu dieser Oberflächenstruktur gehören z.B. Wortgebungen wie Anrainerverkehr, Parkscheinbereich, Produktionen von Pflaster- wie Graffiti-Malern bzw. Sprayern, U-Bahn-Baustellen, provisorische Gleise, Brandmauern, die Schwabinger Ainmillerstraße, die sofort Assoziationen auslöst.
Es finden sich Hinweise, nach Wahl Geräusch-, Wort-, Gesprächsfetzen, Meinungen von dem, was man sagt (jetzt: „chariot“, vordem: „Wagen“), und von dem, was man (lieber oder besser) nicht mehr sagt, weil man es verdrängt, verschweigt („Bewegung“ ist als ,besetzter‘ Begriff nicht mehr ,in‘). Zugleich ist ein Bild von München skizziert, das bizarr ist, abstrakt, surrealistisch. Die Tiefen(vermeintlich: Untergrund-)struktur lässt die Stadt anthropologisiert erscheinen – als Fixerin. Der sie als Organismus durchziehende Fluss, die Isar, ist oder wird schon aus historischen Gründen braun, und zwar mit mehreren Gleichheitszeichen. Alle zeittypischen Neben-, Abfall- oder Stoffwechselend-Produkte aus Normal-, Kriegs- und Nachkriegstagen fließen in diesen Isar-Fluss: Blut, Schweiß, Tränen, Fäkalien, Chemikalien. Der „erste“ und der „zweite“ Krieg sind zeitliche Fixpunkte. Diese Stadt, jetzt in irgendeiner Form „Euroregion“, ist, wie wohl jede Metropole, aufgefasst als menschen-fresssender Moloch, der Individualität durch den Fleischwolf dreht, verbraucht, im übertragenen Sinn zum kollektiven „Pressack“ („Mensch“) stanzt: eine Bilderwelt, die an Hieronymus Bosch erinnert. Man könnte das Bild der vorgegebenen Stadt allenfalls in Form von Collagen (schwarz-weiß und/oder in Farbe) nachempfinden.
Da ist auch noch jenes geheimnis-unterspülte München, und selbst um das Millennium wird geraunt von einem „überdacht gepflegten Unterweltsquartier“, kanalsbeampelt unter dem Kunstsäulenhaus. Und hier sind zwei „Unterwelten“ miteinander vermischt, nämlich das Kanalnetz und – gedachte oder befürchtete – unterirdische Vernetzungen aus der NS-Zeit. Zum ersten: Münchens Kanalnetz ist 2300 km lang, was einer Strecke von München bis Moskau entspricht. Das entsprechende Mauerwerk aus Kalksandstein, Ton und – vor allem – Klinker, wasserfest gemauert in versetzten Fugen, erfahrbar bei Tagen der Offenen Tür, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und die heute noch als vorbildlich geltende Planung ist vor allem verbunden mit den Namen Max von Pettenkofer und Arnold Zenetti.
Zu Unrecht geheimnisumwoben sind Unterweltlabyrinthe aus dem München der NS-Zeit. Notizen einer kürzlich mitgemachten Führung: Vier neoklassizistische Bauten an der heutigen Meiser- und Arcisstraße, entworfen von Paul Ludwig Troost. Im Begleitprospekt ist die Rede von einem „monumentalen Forum der Bürokratie und des Kults“, und der ursprünglich „klassizistische Königsplatz wandelte sich zum Kultort für die zu nationalen Märtyrern stilisierten Putschisten und zur Kulisse für die Massenaufmärsche der NSDAP“. Unterirdisch gab/gibt es lediglich einen Gang von wenigen hundert Metern, jeweils zur Mitte rampenförmig abgeschrägt. Andere Bauten oder Fundamente aus dieser unseligen Zeit sind unterkellert, doch existierte nie ein Unterwelt-Labyrinth. (Gegeben hat es im Stadtinneren einen kurzen Vorläufer einer Unterpflasterbahn, der nach Kriegsende zur Zucht von Champignons umfunktioniert wurde.) Soweit die Erläuterungen zum „gesamtgearteten Vergangenheitssystem“.
Spurenelemente gibt es noch aus den Jahren 1933 bis 1945, so die mit mehrfachem S geschriebenen Schilder; das Kunstsäulenhaus ist unschwer zu erkennen als das Haus der Kunst, das damals ,Haus der Deutschen Kunst‘ hieß – ein Bauwerk mit protzigen hohen Säulen und einem unproportioniert bescheidenen Architrav.
Der diktierte Ungeist der Stadt in jener Zeit unterschied „geartete“, „gesamtgeartete“ und „entartete“ Kunst, und das, was sich Kunstpolitik nannte, war vor allem gerichtet gegen den Expressionismus, eben gegen Werke von Paul Klee, August Macke u.a. München generell als Panoptikum der Historie: Wer dächte da nicht an das Plakat von Michael Mathias Prechtl aus dem Jahre 1985, das titelmäßig Münchner Oktober, bezeichnenderweise aber auch 175 Jahre Bayerischer Nationalrausch heißt. Dass Rausch im Sinne von (möglicherweise) falscher Begeisterung das eine ist und, als Rückbildung von rush, („leichte“) Trunkenheit, lehrt ein Blick ins Etymologische Wörterbuch. Die lautmalende Bildung von rush und Rausch wird von Ulrike Draesner (mit Herkunftsstudium Germanistik) zu Beginn und am Ende des Gedichts voll ausgespielt.
Merkenswert sind von der Verfasserin gewählte Wortbildungen, d.h. Wörter und Wendungen wie das eschatologisch ausgestaltete „Aufkanten von Steinplatten“, das „Reihern von Kunstfarben“, der Hinweis auf Architektur als Tragendes und Getragenes (hier „häuptens wie säulends“) oder Neologismen wie „kanalsbeampelt“ oder „überlebensparat“. Vom Untergrund nach oben gespült, als „Vergangenheitssystem“ dennoch (gleich wieder?) „überlebensparat“, nicht nur „nicht abgebrannt“ – da werden allenthalben „Annulierfarben“ benötigt, und Alliterationen lassen grüßen: chemischer Chagall (1887-1985), wohl apostrophiert als der Meister der absoluten Farbgebung, und die Dreierfigur „Bettzeug, Büchsen, Bunkerflittchen“ – wieder ein Stabreim.
Das Gedicht ist in seinem sprachlichen Duktus geradezu raffiniert angelegt, so dass sich der Leser Enjambements, optische Wort-Zusammenrückungen, selbstgewählte Pausen als Zusatz-Interpunktion selbst zurechtlegen muss, was „anstrengend“ sein mag, was aber auch für Überraschungen und Einblicke gut ist. Grundriss („Ost-West-Schnitt“) als die für München gewachsene Struktur, Aufriss, die Oberfläche, der Untergrund: diese Vielfalt sensibilisiert, regt an und motiviert, weil sie sogleich in innere Bilder umzumünzen ist. Leitmotivisch geht es um die Vene – einleitend, im Mittelteil als Achse („45 Jahre, / an der Yen: annulliert“) und in den beiden Schlusszeilen, wo „die Stadt“ für „ihren“ Fluss, der Organismus für die Vene zu stehen kommt.
Die Einschätzungen mögen auseinander gehen über die Bedeutung des Bindestrich-Kompositums „Isar-Ischariot“. Ist dieses München, gesehen als hektisch empfundene Bilder- und Gedankenfolge tatsächlich in Verbindung zu bringen mit dem Jünger Jesu, dem man als Judas – Judas Ischariot, also dem Mann aus Karioth – den sattsam bekannten Verrat anlastet? Dann wäre, auf ungleich tieferer Ebene, aber eben doch nach freier Entscheidung und gemäß dem Wahrscheinlichkeitsfaktor, „Ariel“ (hier) weder die Bezeichnung des Tempels in Jerusalem, wenn nicht der Stadt selbst, noch der „Luftgeist“ in Shakespeares Spätwerk Tempest und schon gar nicht der Mond des Uranus, sondern ein Nachkriegs-Waschmittel. „Es“ soll ja geschönt werden, gereinigt, bereinigt, verdrängt, annulliert, aufgehoben, entsorgt die braune Brühe, die der Fäkaliensprache, aber auch einem politischen Kolorit zuzuordnen ist, dann der Ausscheidung – aus Angst.
Von all dem ist (Vene, Ader, Darmausschüttung) die Stadt vor dem Millennium Konglomerat aus Geschichte und Gegenwart, vielleicht auch Zukunft, eines immerhin „erlaubten Rausches“, mag das Erfahrung, Geschmack oder Ästhetik tangieren oder verletzen – ein Versuch über München, bei dem man allein gelassen wird, was nicht nur bei Gedichten, sondern auch bei Fragen, die sie aufwerfen, der Wirklichkeit entsprechen dürfte. In der Spannbreite von Dichtung und von Wahrheit war die gleichnamige Reihe der Süddeutschen Zeitung mit der Wahl dieses Gedichts angesiedelt. Die Zuordnungs-Entscheidung der entsprechenden Codes mit der Gewichtung des jeweiligen Wahrscheinlichkeits-Anteils muss dem (einzelnen) Leser vorbehalten bleiben, ihm ,reserviert‘ werden. Beide Gedichte entwerfen ein – sehr unterschiedliches – Bild von München kurz vor dem Millennium, das Bild einer Stadt zwischen Idee und Wirklichkeit.

Karl Stocker, aus: Günter Lange und Bernhard Meier (Hrsg.): Lese-Erlebnisse und Literatur-Erfahrungen. Annäherungen an literarische Werke von Luther bis Enzensberger. Festschrift für Kurt Franz zum 60. Geburtstag, Schneider Verlag Hohengehren, 2001

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