Karolina Golimowska, Alexander Gumz & Thomas Wohlfahrt (Hrsg.): VERSschmuggel – reVERSible

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Karolina Golimowska, Alexander Gumz & Thomas Wohlfahrt (Hrsg.): VERSschmuggel – reVERSible

Golimowska, Gumz & Wohlfahrt (Hrsg.)-VERSschmuggel – reVERSible

BÄREN-KATHEDRALE 

Rocky I, II, III, IV
die Schulen sind geschlossen hier bei -30 Grad
Haiti, Paris, Voodoo-Rock
und Schwanensee
Kerouac ist alt und traurig
mein bester Freund erhängte sich
mit dreizehn am Sankt-Lorenz-Strom
in Rimouski vor meinen Rimouskianer-Augen
ich war Rocky ich war 12

all dies
schuf in mir
einen Hang
der lange Gang von sich zu sich
der stoppt
beim Tod der anderen
und weitergeht, und wieder stoppt, und weitergeht
es ist eine atmende Montage

ich bin
imaginär, reell erschaffen
aus einem Herzschmerz mit 16 und einer Festnahme
wegen Einbruchs in Rom
das Aufwachen gibt mir immer noch
jeden Morgen das Gefühl
dass die Tode von Hélène Monette und Vickie Gendreau
meine Organe sind
meine Art und Weise
mich in der Tonspur zu halten
mit allen Rockies auf einmal im Kopf
eines Kindes das erschöpft davon ist
sein Leben lang verliebt
gewesen zu sein
in Gaspésierinnen aus Afrika und Kolumbien die
meine Seele wie ein Geschirrtuch voller Vitamine
ausgewrungen haben über dem Mund
eines Boxers, der nie zuvor geboxt hat
ausser im Kopf
seiner Freunde, ins Visier genommen
von den Zaubersprüchen der Grossmütter
die die Felder bestellen mit zwölf Bälgern auf dem Rücken
über das gefrorene Wasser der Pyramiden wandelnd
wo zweifelsohne noch
meine Grossväter ruhen, Josée Yvon,
Denis Vanier und Aurore das Märtyrerkind im gleichen
Grabmal aus Glas wie Maurice Richard
aufgebahrt auf Tournee durch die Bars
bis zum nächsten Stanley-Cup, 1993
schon damals
sammelte ich Kadaverkarten
mein Vater war Maria Lemieux, Spieler
der Pittsburgh Penguins in Nazareth, der einzigen
Gemeinde von Rimouski, die vom Kindergarten bis zur Universität
kriminalisiert wurde
und eines schönen Sommers
ist Marie-Soleil Tougas die Frau meiner Träume
mit dem Flugzeug auf und davon
um sich den zukünftigen Toten anzuschliessen
die heute so alt sind wie ich, sie warten auf mich
sind es müde
in meinem Kopf
gegen den Russen aus Rocky IV zu kämpfen
gegen die beiden kleinen
Mädchen aus The Shining
die für die Boston Bruins spielen auf einem Dreirad
im Flur eines Hotels in Colorado
auch sie sind
Quellen
meines Rhythmus’
meines Schwungs
meiner Geschwindigkeit
verloren, gefunden, und wieder verloren wie ein kleines
in den Schnee gefallenes Hot-Wheels Spielzeugauto
ein kleines rotes Auto
das mir aus dem zitternden Fäustling fiel vor
dem Kodiakbären im Schaufenster
einer Yellow-Filiale der mich
zum Weinen brachte 1988
irgendwo zwischen einem K-Mart und einem Zellers
irgendwo vor dem Ende des Neons
und dem Krebs von Saku Koivu befallen
von derselben Krankheit
die zur Entdeckung neuer Planeten
in Kinderkrankenhäusern führen sollte

und ein paar tausend Jahre später
bei der Wiederentdeckung
von Maurice Blanchot durch Apollo Creed
der im Labor wiederauferstanden ist
in Form zweier Katzen
männlich und weiblich
zurückgekehrt auf die Erde
um zu schlafen, zu spielen, und um mich zu lehren
mein Leben zu entschleunigen
im Labyrinth ohne Mauern
wo ich Mauern errichte so wie Rocky
auf das Fleisch eindrischt das weiterverkauft wurde
von der Unterwelt an die Mafia zur Finanzierung
der Suizidforschung
ich bin Arzt
nehmt mich fest
das Leid das mich zerfrisst ist meine Heilung

dann eine Überdosis in Amsterdam im Juni 2009
dabei hatte ich nicht einmal geraucht
nur morgens ein bisschen Koks genommen, Pilze
Ecstasy, Bier, Wein, Sex, Venus im Pelz, Absturz, Koma, Erwachen,
das erste Buch, Montreal, der Tod von Nelly Arcan
das war die Freundin meines Freundes
er fand sie
erhängt
heute spielt er
Bassgitarre mit mir
in einer Band von Mutanten, die denken, sie seien Götter,
kurzfristig fähig zu vergessen
von welchem Strick sie stammen

ich bin aus euch gemacht
meine Familien, die ihr dafür gebetet habt
dass Jimi Hendrix mich beschützt, mir hilft
die Berge Sibiriens zu bezwingen, dass der Geist von Louis Cyr
mir die Kraft gebe
mit einem Solo auf der Akustikgitarre die Polizei zum Weinen zu
bringen
ich bin aus Gebeten gemacht
die ich nicht gebetet habe und denen ich versuchte
Gerecht zu werden indem ich Basketbälle
in wildfremde Fressen warf
um einen Stammbaum zu fällen
wo die Menschen
an einer absichtlichen Überdosis sterben
oder an einer Verurteilung zu lebenslänglich in einem durstigen Körper
auf uns alle haben wir getrunken
so viele Flaschen wie es Ratten in der Berliner U-Bahn gibt
wir haben die Gewässer der Erde geplündert
um daraus
Honig und Geisteskrankheiten zu machen
und manchmal bin ich der Mann im Jasmin
an den Unica Zürn dachte in ihrer Zelle in Form einer Acht
mein Leben
in Form der Noten
der Musik aus Rocky der die Sowjetunion erklimmt
mein innerer Berg, mein Hang
in der Zeit zurückzureisen um dahinter zu schauen
zwischen sich und sich diese unüberwindliche Distanz
diese Distanz
ist mein Material
meine Unterschrift in geatmeten Lettern

mein Makel der aus mir
ein Ding macht das an seine eigene Leere genagelt ist
und morgen werden die Montreal Canadians
5 zu 1 für die Ewigkeit gewinnen während
tausende Menschen sterben und ich
ich werde weiterhin
die Bären in den Büchern zähmen
um sie in Vogelkäfige zu stecken
werde weiterhin lehren sich selbst zu zerlegen
als eine Kunst des Unsichtbaren 

François Guerrette
Übersetzung Levin Westermann

 

 

 

Stimmen von Beteiligten zu diesem Projekt

„Dichten ist schon übertragen, aus der Muttersprache – in eine andere (…). Dichten ist nachdichten. (…) Ein Dichter kann französisch schreiben. Er kann nicht ein französischer Dichter sein.“ Diese Zeilen schrieb Marina Zwetajewa 1926 an Rainer Maria Rilke. Für Zwetajewa kamen die Gedichte aus dem Land der Dichtung, der Wahlheimat aller Dichterinnen, und beim Akt des Schreibens wurden sie erstmals übertragen und zwar in die Sprache der dichtenden Person. So schreibt François auf Französisch, Armand auf Englisch und ich schreibe auf Deutsch. Doch keine unserer Sprachen ist die Muttersprache des Gedichts, denn die Sprache der Dichtung ist universell. In den Workshops haben wir also Gedichte, die im Moment ihrer Entstehung bereits Nachdichtungen sind, noch einmal übersetzt. Französisch: Englisch: Deutsch: immer anders, immer neu. Mit Mario Lemieux und Mishipeshu. Mit Rocky und dem Stör. Und wichtig ist hierbei natürlich der Klang, denn der Klang weist den Weg und hilft uns, sprachliche Klippen wie Wortfolge oder Satzbau zu umschiffen. Und manchmal war die Arbeit leicht, und manchmal fiel sie schwer. Dann träumt man von den Versen. Dann verfolgen dich die Verse bis in den Schlaf.

Levin Westermann

 

Das Übersetzen der Texte von Adam Dickinson und Levin Westermann habe ich wie das Eintauchen in tiefe Wasser erlebt. Oberflächlich gelesen sind ihre Gedichte gut, manchmal sogar sehr gut, doch erst als ich in ihre Tiefen hinabtauchte, um sie neu zu schreiben, konnte ich ihre Vielschichtigkeit, ihre Klugheit und Ungreifbarkeit wirklich ermessen. Ich meine damit die mächtige Ungreifbarkeit von Texten in ihrer Ursprungssprache, denn irgendetwas – ihre Empfindsamkeit, ihre Eigenart oder Seele – entzieht sich dem Übersetzer, der mit ihnen die Brücken zwischen den Sprachen zu überqueren und gleichzeitig ihre Unversehrtheit zu erhalten sucht. Die Unversehrtheit des Stils, des Atems oder des Empfindens. Man hat mich eingeladen, in die Tiefen zweier eigenartiger Welten hinabzutauchen, um die Wirklichkeit, wie sie in ihnen geschrieben und vollzogen wird, in eine fremde Sprache zu übersetzen. Man hat mich eingeladen, ein Fremdkörper zu werden; eben das habe ich getan. Habe ich diese Gedichte verdorben, verseucht, ja pervertiert? Zweifellos. Denn woraus bestehen die Gedichte, die wir lesen, wenn nicht aus Andersartigkeit? Aus der Vorstellungswelt, der Empfindsamkeit und der Sprache eines anderen. In diese vielfältigen und fremdartigen Texte einzutauchen, meinen Teil dazu beizutragen, war eine Erfahrung: als hätte ich das Innenleben eines anderen durchschritten, um in mir selbst herauszutreten.

François Guerrette

 

Übersetzung ist, konzeptionell, ein wesentlicher Bestandteil meines Schreibens. Ich arbeite an der Schnittstelle zwischen Poesie und Wissenschaft, für die ich zuletzt toxikologische Daten, Mikrobiomdaten oder Polymerchemie in Poesie „übersetzt“ habe. Vor VERSschmuggel hatte ich jedoch noch nie Gedichte von einer Sprache in eine andere übertragen. Obwohl die Pandemie uns daran hinderte, am selben Ort zu sein, schien es mir, als würden meine Mitstreiter und ich uns in einem Zelt auf einem Campingplatz tief im Wald mit Taschenlampen über unsere Texte beugen. Begleitet von behutsamen, anregenden Provokationen unserer VERSschmuggel-Hebammen Anneke Lubkowitz und Roland Glasser war unsere Arbeit eine sehr intime Angelegenheit. Am Ende fand ich diese Erfahrung inspirierend. Obwohl ich mit dem Deutschen nicht vertraut bin, kannte und schätzte ich Daniel Falbs Arbeiten bereits, was unsere Zusammenarbeit um einiges selbstverständlicher machte. Ich spreche zwar Französisch, habe aber nie gedacht, dass ich in der Lage wäre, aus dieser Sprache zu übersetzen. Die Zusammenarbeit mit François Guerrette hat mir mehr Vertrauen gegeben. Je länger ich an seinem Text arbeitete, desto reflexartiger reagierte ich auf Möglichkeiten im Englischen, die im Französischen latent angelegt waren. Ich freue mich darauf, in Zukunft mehr zu übersetzen.

Adam Dickinson

 

Über dieses Buch

Auch das poesiefestival berlin und sein Übersetzungsprojekt VERSschmuggel/reVERSible wurden dieses Jahr in einen digitalen Ausnahmezustand versetzt. Im Fokus stand Gegenwartslyrik aus Kanada und Québec. Sechs Dichter*innen aus dem deutschsprachigen Raum trafen coronabedingt in virtuellen Räumen auf sechs französisch- und sechs englischschreibende kanadische Dichter*innen.
Auch indigene Sprachen Kanadas spielen in den vorliegenden Gedichten eine wichtige Rolle. Online tauchten die Autor*innen in Workshops und Gesprächen in die poetisch und kulturell reichen Verse ihres Gegenübers ein. Mit Hilfe interlinearer Übersetzungen und Sprachmittler*innen wurden sie in die andere Sprache „geschmuggelt“ – trotz geschlossener Grenzen und der Isolation jedes Einzelnen.
Der Mehrsprachigkeit Kanadas trug der diesjährige VERSschmuggel Rechnung, indem alle beteiligten Dichter*innen in allen Projektsprachen arbeiteten. Vermittelt wurde so nicht allein zwischen den poetischen Welten auf beiden Seiten des Atlantiks, sondern auch innerhalb der verschiedenen Sprachkulturen Kanadas.
Die Ergebnisse dieses intensiven poetischen Transfers, der in einer Zeit, in der sich Länder massiv gegeneinander abschotten, wichtiger denn je ist, werden in guter analoger Tradition in dieser dreisprachigen Anthologie präsentiert.
Mit Gedichten von Martine Audet, Monique Deland, Adam Dickinson, Daniel Falb, François Guerrette, Nancy Hünger, Aisha Sasha John, Maren Kames, Natasha Kanapé Fontaine, Canisia Lubrin, Tristan Malavoy, Pierre Nepveu, Kerstin Preiwuß, Sandra Ridley, Lisa Robertson, Armand Garnet Ruffo, Levin Westermann, Ron Winkler.

Das Wunderhorn, Ankündigung

Die Übersetzungswerkstatt VERSschmuggel

ist ein symbiotisches lyrisches Labor zu Stofflichkeiten, Begriffsintensitäten und Geräuschkulissen. Hier wurde ihre Komplexität sogar noch ausgeweitet: Dieser Band versammelt achtzehn poetische Stimmen aus drei Sprachräumen auf beiden Seiten des Atlantik. Corona-bedingt trafen sich alle Dichterinnen und Dichter über mehrere Wochen in Videochat-Räumen. Den entstandenen Texten merkt man eine ins Digitale gerettete Intimität an. Das macht den vorliegenden Band zu einem wunderbaren Dokument gelebter Unmöglichkeiten.

Das Wunderhorn, Klappentext, 2020

 

VERSschmuggel / reVERSible – Canadian Poetry / Poésie du Québec / Dichtung aus Deutschland

 

Fremde Nähe – Nahe Ferne

zum Versschmuggel Kanada- Deutschland

Dieser Band versammelt achtzehn poetische Stimmen aus drei Sprachräumen auf beiden Seiten des Atlantik: aus Kanada und Deutschland. Neben Deutsch, Englisch und Französisch sind mit Innu-aïmun und Ojibwe auch Spuren zweier Aboriginal-Sprachen präsent. Die Gedichte machen sie kenntlich.
Welt- wie persönliche Seinsbeobachtungen, gebrochen in verschiedensten poetologischen Herangehensweisen, lassen vieles auf der jeweils anderen Seite des Ozeans vertraut und eben darin überraschend fern erscheinen. Den Leser und die Hörerin erwarten die Spektralfarben dreier verschiedener Dichtungslandschaften, und sie überraschen, so fern von einander und doch nah zueinander.
Wer aber könnte diesen Spannungsbogen besser erlebbar machen als die Dichterinnen und Dichter selbst. Dann nämlich, wenn sie übersetzend die Entsprechung des originalen Gedichts als poetische Neuschöpfung in der eigenen Sprache wieder-entstehen lassen: eine poesis. Die DichterInnen des vorliegenden Bandes sind zwischen 1946 und 1991 geboren. Beinahe ein halbes Jahrhundert verschiedenster Erfahrungshorizonte liegt zwischen ihnen.
Äußerer Anlass zu diesem Unterfangen war, dass die Literaturen Kanadas Gastland bei der Buchmesse in Frankfurt/Main 2020 sein würden. Das poesiefestival berlin 2020, vom Haus für Poesie durchgeführt, hatte achtzehn Dichterinnen und Dichter eingeladen, sich gegenseitig zu übersetzen; ein jeder in zwei andere Sprachen. Wie aber kann das gehen?
VERSschmuggeln ist eine ganz eigene Methodik des Übersetzens von Dichtung, die im Haus für Poesie entwickelt wurde. Zunächst gilt es, interlineare Übersetzungen der Gedichte anfertigen zu lassen. Sie dienen als Materialgrundlage, um dem jeweils anderssprachigen Dichter, der Dichterin einen ersten Zugang zum Werk des Kollegen oder der Kollegin zu ermöglichen. Sie informieren in erster Linie über das, was über-zusetzen hat, wenn übersetzt wird, Wort für Wort und rein auf den Inhalt des Gedichts bezogen. Auf Besonderheiten wie Stil, Rhythmus, Klang, Sinnverschiebungen, Doppeldeutigkeiten und andere sprachliche Eigenheiten – auf das also, was den besonderen Ton eines Gedichts ausmacht – weisen die Interlinearübersetzungen in einem oft umfangreichen Fußnotenapparat hin.
Im sich daran anschließenden Übersetzungs-Workshop sorgt ein zwischen zwei Dichterinnen agierender Sprachmittler dafür, dass beide in ihren Muttersprachen verbleiben können und sich so intensiv, persönlich und sehr genau gegenseitig die Geschichten erzählen, die hinter den Zeilen liegen, die ihre Inspiration waren bzw. von wo sie ihren Ausgang nahmen. Die Sprachmittlerin – selbst eine erfahrene literarische Übersetzerin – fungiert als Dritte im Bunde und ist mit solch großem Wissen über poetische Traditionen und zusammenhänge in beiden poetischen Landschaften ausgestattet, dass sie (oder er) die feinen Unterschiede zu erkennen, zu erspüren und zu vermitteln weiß. VERSschmuggel ist ein poetischer Trialog, eine Übersetzungswerkstatt zu sechs Händen – ein symbiotisches lyrisches Labor zu Stofflichkeiten, Begriffsintensitäten und Geräuschkulissen.
Dieses aufwändige Verfahren erweist sich immer wieder als optimal für die Dichtkunst, denn die Dichterinnen und Dichter sind in den Übersetzungsprozess direkt involviert und bereiten das besondere Amalgam, dass die in der eigenen Sprache neu entstandene Übersetzung selbst hervorragende Dichtung sein lässt. Im vorliegenden Fall wurde diese Komplexität sogar auf drei Sprachen ausgeweitet.
Grundlegend anders war 2020 ein Umstand, der das Schmuggel-Unterfangen zunächst unmöglich zu machen schien: Ein Virus hatte die Welt in den Griff genommen, COVID-19, und verhinderte allen alles Reisen. Für Dichterinnen und Dichter, die einander übersetzen wollen, sind direkte Gespräche geradezu essentiell. Gehören doch Klang und Rhythmus des dem Kollegen laut vorgelesenen Gedichts etwa zum wichtigen Instrumentarium beim Übersetzen, genauso wie außersprachliche Merkmale in der Kommunikation oder die persönlichen Erzählungen dessen, was zum Gedicht geführt hat, was in ihm eine Form fand.
Man stelle sich nun folgende Situation vor: Entlang eines ausgetüftelten Zeitplans trafen sich alle Dichterinnen und Dichter in wechselnden Konstellationen zusammen mit ihren Sprachmittlern über mehrere Wochen in Videochat-Räumen im Internet, um sich gegenseitig zu übersetzen und darüber zu sprechen, was sie dabei erlebten. Zu den überraschendendsten Dingen gehört, dass sie miteinander eine Workshop-Atmosphäre entwickelten, als säßen sie sich gegenüber in einem analogen Raum. Den entstandenen Texten merkt man diese ins Digitale gerettete Intensität und Intimität an. Das macht den vorliegenden Band zusätzlich zu einem wunderbaren Dokument gelebter Unmöglichkeiten.
Alle Autorinnen und Autoren waren sich einig, dass es beim VERSschmuggeln darum geht, das Kompositionsprinzip des anderen Gedichts zu übertragen; das also, was es als Gedicht besonders macht. Viele DichterInnen verstehen diese Art von Übersetzung auch als Fortschreibung ihrer eigenen Poetik.
Diese Anthologie präsentiert daher nicht allein achtzehn Dichterinnen aus unterschiedlichen poetischen Richtungen, sie führt uns auch ein breites Spektrum an Übersetzungsästhetiken vor Augen. Bei der Lektüre kann zwischen Original und Übertragung, zwischen eigener und fremder Poetik, zwischen Sprachen und Sprachwelten hin- und hergewechselt werden. Das Ergebnis macht den Prozess, zumindest den Weg des übersetzten transparent. Ergänzt werden die Gedichte durch kurze Essays der Dichterinnen und Dichter sowie der Sprachmittlerinnen, die Einblicke in die Werkstatt gewähren und ein Echo vom Arbeitsprozess wiedergeben.
Die Anthologie ist in drei „Routen“, in drei Kapitel von jeweils sechs Dichterinnen aller drei beteiligten Sprachen sortiert. Ein exklusiv produziertes Video mit Lesungen aller Dichterinnen und Dichter, das im Rahmen des diesjährigen poesiefestival berlin online präsentiert wurde, spiegelt die Struktur dieser Anthologie, und ist – nebst spannenden Gesprächen zum Übersetzen – im Internet aufrufbar.
Das vorliegende Buch erscheint in einer durchgängig dreisprachigen Edition gleichzeitig in Kanada bei Book*hug Press, Éditions du Noroît und in Deutschland beim Verlag Das Wunderhorn. Das Projekt hat darüber hinaus einen Vorläufer aus dem Jahr 2008, mit 18 anderen Autoren aus diesen drei Sprachen. (Unter ISBN 978-3-88423-299-6 für Deutschland und ISBN 978-2-89018-644-6 für Kanada ist auch der VERSschmuggel / reVERSible Band von 2008 weiterhin lieferbar.)
Allen Leserinnen und Hörern wünschen wir viel Vergnügen bei dieser Klang- und Bedeutungsreise über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. Wenn Übersetzen heißt, über die eigenen Grenzen hinaus zu gehen, dann wissen wir mit diesem Buch, dass einmal mehr ferne Länder, ihre Sprachregionen und poetischen Landschaften näher zueinander gerückt sind.
Allen, die zum Gelingen dieses einzigartigen Unterfangens auf beiden Seiten des Atlantik beigetragen haben, sei herzlich Danke gesagt. 

Für die Herausgeber
Thomas Wohlfahrt, August 2020, Vorwort 

 

 

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