Kathrin Schmidt: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Gestorbene Sprache“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Gestorbene Sprache“. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Gestorbene Sprache

Der mit den Flügeln schlägt
draußen, der an die Tür streift,
das ist dein Bruder, du hörst ihn.
Laurio sagt er, Wasser,
ein Bogen, farbenlos, tief.

Der kam herab mit dem Fluss,
um Muschel und Schnecke
treibend, ein Fächergewächs,
im Sand und war grün.

Warne sagt er und wittan,
die Krähe hat keinen Baum,
ich habe Macht, dich zu küssen,
ich wohne in deinem Ohr.

Sag ihm, du willst
ihn nicht hören –
er kommt, ein Otter, er kommt
hornissenschwärmig, er schreit,
eine Grille, er wächst mit dem Moor
unter dein Haus, in den Quellen
flüstert er, smordis vernimmst du,
dein Faulbaum wird welken,
morgen stirbt er am Zaun.

 

Hornissenschwärmig, er schreit

– Bobrowskis Gedicht, meinem jüngeren Bruder durch die Flüstertüte gesprochen. –

Der Bruder ist drei Jahre jünger als ich, und dass er mit Flügeln zur Welt kam, war mir nicht klar. Die Eltern beschützten ihn unter dickem Gestrick, er war ein Oktoberkind, und später, als es Sommer wurde und die schweren Jacken und Mützen des Winters zu klein, da war mir, als sei es der Frühling gewesen, der sie ihm angehängt hatte. Feine Federn besiegelten seine Fähigkeit, fliegen zu lernen, wenn es soweit war, und ich wusste, es würde ein sonniger, warmer Tag sein, an dem er zum ersten Mal abhob.
Mein Bruder hatte nicht vier Gliedmaßen, sondern sechs, und die Koordinationsleistungen, die er zu vollbringen hatte, erforderten anfangs seine ganze Konzentration. Als er, einjährig, zu laufen begann, wollten die Flügelchen unter dem extra weit geschnittenen Hemd mitrudern, hoben und senkten es, als zaudere eine rammdösige Katze unter dem Stoff, ihn zu zerfetzen. Manchmal stieß er mit den Flügeln gegen den Türrahmen, wenn er aus der Badewanne kam und nackt durch den Flur ins Wohnzimmer lief, sich noch auf ein paar Minütchen in Vaters Armbeuge zu drücken. Es war mir ein Rätsel, wie selbstverständlich meine Eltern mit der Tatsache umgingen, einen geflügelten Sohn zu haben. Als ich sie einmal, ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, danach fragte, meinten sie nur: Geflügelt? Beschwingt, Töchterchen, beschwingt!, und sie lachten, dass ich einstimmen musste. Überhaupt: Worte waren für meine Eltern nicht nur durch andere Worte leicht zu ersetzen. Manchmal geriet ich zwischen ihrer beider Schweigen, aber ich merkte genau, dass sie in ständigem Verkehr miteinander standen, und selbst wenn der eine mit dem Heizen des Kohleofens im Bad beschäftigt war, die andere eine Zeitung las, während sie einen starken Kaffee trank, wenn sie also in verschiedenen Räumen der altgewordenen Wohnung zugange waren und sich nicht einmal sahen, spürte ich die Verbindung zwischen ihnen genau in jenem Moment, da ich sie durchschritt. Es war eine spürbar warme Luftschnur, die sie miteinander verband und es ihnen ersparte, zu Worten Zuflucht nehmen zu müssen. Manchmal hatte ich das Gefühl, es schlägt dreizehn, während es in Wirklichkeit nur zwölf schlug, und meine Mutter hätte draußen, in dem kleinen Hof, der sich zwischen Schuppen, Stallungen und dem Wohnhaus auftat, einen kleinen spitzen Schrei ausgestoßen. Aber wenn ich nachschaute, krauchte sie nur zwischen den Schattenblumen herum die sie hier angepflanzt hatte, und sang vor sich hin. Die Lieder meiner Mutter klangen vertraut, doch wenn ich mich ihrer heute erinnern will, fehlt zuweilen ein Wort. Ostpreußisch sang sie, das hatte sie von meiner Großmutter, bei der sie aufgewachsen war, nicht anders gelernt. Die Großmutter lebte in unserem Haushalt, und an manchen Tagen sagte sie ununterbrochen Ortsnamen auf, die es nicht mehr gibt, obwohl die zugehörigen Dörfer vielleicht noch stehen, und anderntags schwieg sie und hockte stumm, aber lächelnd auf den, kleinen Fußbänkchen in der Küche und sah aus dem Fenster, dorthin, wo sich quer zum Gesprochenen das Gedachte gelegt hatte…

… Krekollen liefen auf Rollen durch den geöffneten Blick auf Kraupischken zu. Ihre Kuckerneese wollte nicht aufhören zu tropfen, sie musste Kumehnen nehmen, sie wieder und wieder abzuwischen. Dazwischen gab’s Kurken, Kurzebrack auf dem Feuer, und Kussen taten sie sich, Kussen!, bis die Kutten wackelten. Labiau weia, im Laptau des späten Sommers hatten die Zugvögel ihre Liebemühl, im Liebwalde zu bleiben bis zum September hin, sie wollten fort, fort, sich Locken lassen vom Süden, der aber kein Zeichen gab. Im Mahnsfeld noch Kornblumenblau, Malleczewen auch Mohnrot. Manchengut Matzken im Mauersee, dass dir schlecht ward. Medenau genommen, Mehlauken im Strudelwasser die Mellneraggen, hörst du? Aber damals mussten Migehnen, gingen dann bald ins Bette. Mohrungen Molditten war unser Liebstes, wir taten’s am Morgen, am Abend und im Nadrauen. Mit langen Natangen stukten wir die Neukuhren immer wieder unter, dass an Niederzehren nicht zu denken war. Klein Nikolaiken kam, unseres russischen Nachbarn Sohn, und dieser Nimmersatt verlangte Nüsse, Äpfel, Nogat! Naja, unser Nossberg gab ja einiges her, und Oletzko Oppen die Jungs einen ja doch immer, was? Jaja, Ostrokollen Palmnicken, was das Zeug hält. Die Passarge dauerte vermutlich länger als heute, aber so genau weiß ich das nicht, denn im Pettelkau lag immer etwas vom Piktupönen, das nur langsam verging. Pillkallen? Nahmen wir regelmäßig, weil wir so Plasswich waren. Glaub’s nur, da konnte einem Plausen und Planten vergehen, sosehr hatte man uns das Blasswerden Pobethen. Pokarben trugen wir im Gesicht, an Armen und Beinen. Postnicken kam später der Gutsherr, sich zu erkundigen, und siehe da, Powunden vom Preil lagen wir auf der Lauer… Prostken! Bis in die Puppen gesoffen, kriegten wir am nächsten Tag dann die Quittainen dafür, sie verdroschen uns mit Regerteln, dass die Rippen schmerzten und wir zum Rössel flüchteten, das uns doch nicht gehörte und wir nicht einfach so aufsitzen konnten, zum Glück hielt uns einer zurück, sonst wär es uns schlecht ergangen. Rogehnen? Rominten! Rominten! Rossitten waren das aber auch, die uns zu schaffen machten: Immer schön Santoppen, sagte der Gutsherr und meinte es auch so, wir Sassen in Schaaken, Schalauen und hörten das Zittern der Schalmey von ferne her, das Schellen der Glöckchen, da hieß es das Schippenbeil nehmen und gegen den Schirwindt angehen, der an Armen und Beinen zog. Schlobitten Sie mal jemanden, wenn Sie arbeiten sollen! Ich sag’s Ihnen: Schlitt und Schmauch werden Ihnen das Schmolainen verhageln, wenn Sie’s versuchen sollten! Wenigstens den Kindern sollte ’s Schreitlaugken zur Schulen erlaubt sein, dachten wir uns, aber am Seehesten gab das Skomanten, wer Sorquitten hatte und damit den Stablack in der Hand. Im Stalle blieben wir hocken und sahen den Stannaitschen zu, wie sie den Gänschen die Stradaunen ausrissen, Stuhm, sie hatten doch Sudauen zu uns! Wir aber schickten Suleyken vor, sie möge den Tapiau Taplacken. So sehr waren wir auf Tauerlauken aus, dass nicht einmal in der Teerbude Tenkitten in Frage kam! Wenn wir mal nach ’m Thiergart durften, den Käse aus Tilsit in der Tasche, sangen wir laut und lauter, während wir die lange Straße abliefen: Tollmingkehmen, Madonna mia! Wenn dann ein Fuhrwerk hielt, sprangen wir auf, heute heißt’s Trempen oder so ähnlich. Tüngen Upalten! rief dann der Kutscher, und los gings, Wadang und Wadang, in Wernegitten Widminnen…

… aber das war keine Kunst. Aus dem Fenster schauten wir alle hin und wieder, und das Schweigen erlernten wir nicht, sondern konnten es einfach. Mein Bruder jedoch sprach ihre Sprache, die er von Anfang an kannte, die er zusammen mit seiner Anlage zweier weißer Flügel in der Chromosomenschrotmühle gefunden und an sich gerissen haben musste, seine Zunge schlitterte über die untere Zahnreihe, und noch ehe er hochdeutsch sprach, hatte er schon den ostpreußischen Dialekt hervorgebracht und hielt es mit der Großmutter wie mit einem niemals verlöschenden Feuer: Er wärmte sich an ihr, und selbst wenn sie außer Haus gegangen war, strich er gedankenverloren durch ihr Zimmer und hielt hie und da inne, wo ein Abdruck ihres Körpers hätte sein können. Auf der alten, wurmstichigen Chaiselongue lümmelte er, kroch unter den Stühlen herum und machte es sich unter ihrem dicken Ballonfederbett bequem, ehe der an die Tür genagelte Kalender ihn verlockte, eine Seite abzureißen, was sie ihm täglich überließ. Noch heute streift gelegentlich ein Erinnern an seinen Duft, wenn er aus dem Zimmer trat, meine Nase. Es war eine Mischung aus ihrem Zimtapfel-Aroma und seinem Geruch nach frischen Pilzen, und wenn ich ihm nachsah, so überkam mich immer wieder ein fröstelnder Schauer. Und das ist dein Bruder, sprach jemand in mich hinein, den ich nie sah, du hörst ihn, wenn du die Augen schließt! Kaum hatte ich die Lider heruntergeklappt, vernahm ich seine Stimme: Laurio, raunte sie, und Mainio, Nyyrikki, Mykkelis, Ansas, Mischa, Feodor, Jakub, Karol, Nathan, Aaron… Für mich war das nur die Abfolge sehr fremder Laute, wo mochte er sie gefischt haben, geangelt? Wie hatte er sie hinter die untere Zahnreihe bekommen, über der die Zunge dahinschlitterte wie winters wir selbst übers Eis, über den zugefrorenen Komstkochteich oder das Tintenloch? Entfernte Namen. Entfernte Verwandte? Erst spät, schon erwachsen, begriff ich, als ich den Schwanen-, den Hubertus-, den Pechteich auf Fotos sah aus denen die Ponarther Brauerei in Königsberg ihr Eis schlug – einer der Arbeiter, Vater einer Nichte der Cousine der Mutter meiner Mutter, vereinte in seinem Stammbaum finnische, litauische, russische und deutsche Vorfahren, wie sie wortreich erklärte, während sie die wenigen geretteten Fotografien nur zögernd, wie Kleinodien, auch in unsere Hände gab. In Wirklichkeit habe ich den Pechteich nie gesehen, aber sagt er nicht heute noch Wasser? Und streicht nicht ein Bogen über die Saiten aus Schilf, dass du von sehr ferne vernimmst, was im Leib des Wassercellos noch immer für Töne entstehen, farbenlos, tief?:

zu Adamsverdruss starrten Pfützen zu ihren Füßen sie an auf dem Weg von Andreaswalde nach Angerapp, sie waren ausgezogen, den Nachweis zu holen: Arys sollten sie sein und fürchteten sich, aber der Pfarrer machte die Stempel an die richtigen, wichtigen Stellen, dass sie Auglitten hatten, als sie nun heimwärts liefen. Aweyden am Wegrand, Bäslack auf weiter Wiese. Kühe hie und da deren Bansen gefüllt wurden mit himmlischen Kräutern, die Gärkammern arbeiteten auf Hochtouren. Barten wollten sie nicht, nicht auf morgen, nicht auf übermorgen, ihr Beisleiden war Bergfriede geworden über den Tag. Beynuhnen aber sollten sie Bilderweiten, was ihnen nicht gefiel. Biegiethen konnte man sie schon, da brauchte es nur das Bieskobnicken, den Augenaufschlag unter dem Kopftuch hervor. Mit diesem Blick briet man Bulitten bei uns, setzte den Cranz dann gerade auf und trug sie hinüber mit Heidemaulen im Gesicht. Kallen kamen, Kallen gingen und Karmitten in Kirschnehnen, da, wo die Kobbelbude steht, da sangen sie im Korreynen von Kojehnen und anderem Kraam. Molsehnen müssen in Mülsen schon gewesen sein, denn Nöttnicken konnten sie schon in ihrer Not! Sie Buddern und Doben bis spät in die Nacht hinein, dass die Nachbarn schon fragen kommen, was das für’n Krach ist. Das Bindemark fehlt!, rief eine von ihnen, als das Balsken zu laut schrie mit seinem Pungelchen im Mund. Der Auerfluss steigt und steigt, dass uns die Brassen noch Brettken werden. Ditwiese werden? Elken, bis Ernstburg musst du schon ohne mich kommen, und Gahlen die Glembern dich an, musst eben Gleigarben bauen zum Schein. Grieben in Schmalz geb ich dir mit, damit satt zu essen hast unter der Woche, ja? Ach, nun Gudwainen mal nicht, das macht mich doch immer so Kamanten… Müssen eben die Krucken Kudern, schön auf der Kuppenwiese bleiben und mit den Maiden und Messken inne Milchbude gehen, was? Werden wir sie Missen? Neubeinuhnen, ich mein ja nur so! Degelgirren werden wir hören von ihnen ein Raunen wird durch ganz Rauben gehen, dass uns schwarz wird vor Augen. Wenn wir aber in Schiedelau Schimmelhof Schlieben, werden in Ströpken die Tatarren Dowiaten, wart’s ab, und Sunkeln im Taberlack…

… Wir spielten oft Karten. Die Flügel des Bruders fächelten uns dabei Luft zu. Manchmal stieg er schon auf den Tisch und versuchte, sie beim Hinabspringen auszubreiten und sich einen Moment länger in der Luft zu halten, als Newton es vorschrieb. Wir standen hinter der Tür, sahen ihm dabei zu und lachten. Meine Großmutter holte dann ein fettes Hähnchen oder einen Kuchen mit Mohn unter einer Sahnedecke aus dem Backofen in der Küche und vertrieb ihn lächelnd. Sein Eifer hatte ihm rote Flecken auf Schultern Brust und Stirn getrieben, und dass es ihm eines Tages wie von selbst gelingen würde, sich zu erheben, war noch nicht abzusehen, wenngleich ich es wusste. Ich griff seine Hände und zog ihn hinaus, in den Garten, unter die Kirsch- und Birnbäume, die zu jeder Jahreszeit ein berückendes Bild boten, blickte man an ihnen vom unteren Stammende hinauf Den Kopf am Holz, lagen wir ausgestreckt drunter, und unsere Augen sahen das Grau des Winterhimmels durch die kahlen Äste scheinen oder fleischige Früchte im Grünlaub. Hätte mein Bruder damals schon fliegen können, hätte er sommers für jeden von uns heruntergeholt, was er tragen konnte. So aber blieb uns nichts anderes übrig, als auf den Tag zu warten, da die Leiter angestellt wurde. Der Vater kam dann herab mit den vollen Eimern, während wir unten von einem Fuß auf den anderen traten vor Ungeduld. Ich sehe uns noch, wie uns der süße Saft aus den Mundwinkeln tropft, auf die Füße in braunen Sandaletten, und wie noch Stunden später eine Wespe sich auf meiner großen Zehe niederlässt, als wir, mein Bruder und ich, zu einer Radtour aufgebrochen sind. Am Badewasser, hier draußen vor der Stadt noch oberirdisch, während es drinnen unter den Straßen fließt, haben wir unsere Räder ins Gras geworfen und lauschen den Vögeln. Sicher höre ich sie anders als mein Bruder, er ist schließlich, irgendwie, einer von ihnen… Wenn ich dem Fluss glauben darf, brauche ich mir nicht einmal um Muschel und Schnecke darin Sorgen zu machen. Klar fließt er und sauber. So liegen wir sorglos, furchtlos, getrost, als mein Bruder plötzlich Buschebaubau ruft und fipsiger Fladrusch, als wieder einmal sein ostpreußischer Sprachschatz das Thüringische durchlöchert und ich ganz und gar verstumme. Aufs Wasser hinunter schau ich, sehe, treibend, ein Fächergewächs, und über mir die schreiende Amsel fliegt auf und davon. Sehr lange liegen wir so, denn es wird Abend, als wir von weitem unsere wetternde Großmutter sehen, wie sie nach uns sucht, uns ruft, aber es dauert noch eine Weile, bis wir das hören: Babziens, Babziens, ihr Sausgörken! Das gibt ein Scharfs Kalbeeken, wenn ihr nach Haus kommt! Dass die Pohiebels Prassen über’n Pülz, will ich nicht hoffen, aber sauer wird er schon sein, der Herr Vater. Und ich erst! Warum Schlempen und Schülzen, wenn doch auch Wehlack Widrinnen mümmeln kann, ich weiß ja nich, und Wenden werdet ihr euch ja wohl können! Woplauken wir denn da hin, wenn Dopsattel aufgelegt werden, ’s dann Dossiten heißt, und los!
So war’s. Sie kam, sah und siegte über uns, die wir im Sand kauerten, und war grün vor Wut, weil sie uns verloren geglaubt hatte über den Nachmittag. Ihre Stimme überschlug sich aber beinahe, als sie uns lärmend umarmte, umschlang. Wie eine Glucke ihre Jungen unter die Fittiche nimmt, so stopfte sie uns nacheinander zwischen ihre Brüste nahm uns den Atem, dass wir bald bleich und blaugekocht uns wieder aufrappeln mussten. Die Räder schoben wir nun nach Hause, zu eindringlich redete sie auf uns ein. Ich verstand sie nur, aber mein Bruder fühlte sich ein in jedes ihrer Worte. Ich hör ihn noch heute: Warne sagt er und wittan, als sie ihn anschaut und plötzlich verstummt. Die alten pruzzischen Worte sind nicht einmal ihr bekannt, aber mein Bruder holt sie hervor zwischen Flügel und Armansatz, lässt sie hinübergleiten in den Schlund und von dort durch den Kehlkopf hinaus, dass sie ganz selbstverständlich unter dem blauen Himmel stehn und verweilen wie im geschlossenen Raum. Die Krähe. Die Weide. Wrona. Gaffran. Warna. Karkls. Gluosnis. Wierzba. Werba. Iwa.
Eingezurrt in einen Wortkokon, werden wir fortgewirbelt und sehen schließlich dem Stößel zu, der im Mörser die Sprachen schrotet und mischt. Kinder sind wir; es ist eine Gaudi, die mein Bruder angezettelt und mit der er die Großmutter becirct hat, die sich drauf einlässt und mitspielt: Ein molscher Hund, dieser Oap! Hast’n Pachulke inne Küche kommen sehn, wo er die Blutflinsen klaute? Mit Kirschkreid schluch er sich de Kaldaunen voll und wunderte sich… So ä Glumskopp aber auch! Sieht aus wie’n dreidammliges Groschenferkel und markiert ’n Fähnkefiihrer, der Heemske! Und aus dem ganzen Gekraassel hamscht er sich dann noch ’n Kodder und tut so, als wollt er ’n Dreck wegraggen! Und raucht, als wenn ä kleiner Mann backt! Aber jetzt Kopp ab, Zagel in de Lischlee und heeme. Erhitzt und verschwitzt kommen wir schließlich zu Hause an. Zu Hause! Mein Bruder fühlt sich so wohl, dass er sich erst einmal schubbert mit den Flügeln an der Türlaibung. Später, als es schon dämmert und wir im gemeinsamen Zimmer in unseren Betten liegen sollten, stehen wir noch einmal auf und laufen zum Fenster. Da, die Krähe! Hat sie gehört, wie wir vorhin ihren Namen gedreht und gewendet, ihn von einer Sprache unmerklich in die andere gezogen und das Bäumchen-wechsel-dich der Vokale und Konsonanten wieder und wieder aufs Spitzchen getrieben haben, das sich zwischen uns zeigte? Sie krächzt, sucht die Weide, die sie hier aber nicht finden wird, nein, hier hat sie keinen Baum, sich zu setzen und innezuhalten, sie müsste mit dem Dach vorlieb nehmen. Mein Bruder macht Anstalten aufzufliegen und sie einzuladen, doch Platz zu nehmen über uns, auf dem First wirst du unbehelligt die ganze Nacht schlafen können!, doch halte ich ihn zurück: Es ist zu früh, so spät noch abzuheben zum ersten Mal. Zwar ist es noch warm, aber die Sonne hat sich längst verzogen. Ich kann ihn überreden, sich hinzulegen. Ich tue es auch. Im Einschlafen die vertrauten Töne aus dem Nebenzimmer, in dem die Großmutter zu Haus ist – wir aber waren sehr leise im Schlaf. Der Atem meines Bruders legte sich zwar erst dann in die flache Kurve der steten Beruhigung, wenn meine Mutter nach uns geschaut und der Vater unser beider Decken noch einmal aufgeschüttelt hatte, aber das geschah stets vor zehn, da die Eltern am nächsten Morgen wieder früh würden aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen. Beide waren Lehrer. Ihre Schulen standen ungefähr fünfhundert Meter voneinander entfernt, dazwischen ein halber, von einer schmalen Straße zerschnittener Kilometer Wiese. Die ersten acht Schuljahre verbrachte ich in der Schule meiner Mutter, die letzten vier in der des Vaters. Wenn Pause war, zog es mich trotz Verbots auf die Straße dazwischen, wo ich den warmen Luftschlauch zwischen den Eltern am deutlichsten spüren konnte. Das Gras der Wiese wurde nicht gemäht. Manchmal schickte einer seine zwei, drei Schafe drüber, die es aber nicht schafften, und manchmal schnitt meine Großmutter mit einer sehr kleinen Sichel dort Löwenzahn für die Kaninchen. Acht Sommer lang konnte ich sie aus den Räumen der einen, vier aus denen der anderen Abrichte beobachten…
Ich sehnte mich immer nach ihr, ihrer aus einer Münze geschmiedeten, ziselierten Brosche, die sie sommers unter der Kittelschürze am Kragenaufschlag des Kleides trug und im Winter unter dem dicken Kamelhaarmantel. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem sie sie nicht getragen hätte. Sie sagte, jemand habe sie ihr zum Zeichen der Liebe geschenkt, aber wenn ich mehr wissen wollte, überfuhr sie mit einer seltsam herrischen Bewegung der Hand ihren Mund, als verschlösse sie ihn so mit aller Macht. Mein Bruder machte sich zunehmend einen Spaß daraus, sie herauskitzeln zu wollen aus ihrer dann eintretenden schweigenden Starre, bis wir begriffen, dass es sich um eine Art Totenstille handelte. Darin aufgehoben zu sein, stelltest du dir allmählich schön vor, und es ängstigte dich beinahe nicht mehr, dir auszumalen, sie stürbe selbst und würde hinübergehen in genau diese Ruhe, zu diesem Jemand, der noch immer darauf wartete, sie zu küssen. Das Glück, dass sie lebte, wurde für uns in jenem Moment fasslich, da ihr Tod seinen Schrecken verlor, und hätte ich nicht gewusst wo ich wohne, hätte mich selbst noch ihr Schweigen jeden Tag sicher nach Hause gebracht. In meinem, in deinem Ohr blieb sie flüssige Luft, viskös mit für andere unhörbarem Singsang verdickt.
Sie schwächelte. Wurde krank. Bereitete sich vor und wusste ihre Vorfahren an anderen Ufern, am Haff und am Pregel. Wenn sie die Erde verlassen würde, könnte sie während des Aufstiegs zu ihrem Himmel für Momente hinunterschauen, und mein Bruder und ich waren unsicher, was sie noch würde zu sehen bekommen. Lenkelischken, das Dorf ihrer Geburt? Und von Königsberg den zerfallenden Dom, das jüdische Waisenhaus an der Honigbrücke, die Litauer Wallstraße, die Maraunenhof-Villen? Ob sie, die zu Lebzeiten nur einmal geflogen ist, nach Kalifornien, zu ihrem ausgewanderten Sohn, von oben etwas würde erkennen können? Sag nicht, dass sie stirbt, raunte mir mein Bruder manchmal zu, wenn ich ihm bedeutete, leiser zu spielen, nicht so viel Wind zu machen mit seinen immer großräumigeren Flügelschlägen, du willst fliegen, raunte ich zurück und hielt ihm die Schwingen fest, nahm ihn mit auf den Hof, wo er auf die Mülltonnenbox steigen und üben konnte. Ich wollte ihn nicht mehr hören, denn ich wusste ja, dass sie sterben würde, und sein Entsetzen bei dieser Vorstellung machte mich hilflos. Noch heute sehe ich es bleich und grün in seinem Gesicht stehen, er kommt damit nachts, mich zu wecken, ein Otter aus unergründlichen Tiefen des Acheron, er kommt damit manchmal auch tagsüber, wenn ich tagträume, wenn das Ableben meiner Großmutter mit dem Abheben des Bruders ineinander fließt. So hornissenschwärmig klingt das, ein anschwellender Brummton, den nur ich höre, bis er schreit, laut und durchdringend, und was er schreit, will nicht verstanden werden…

… Abschwangen Schwingen, und Augam geradeaus!, dass im Bandels-Sand Schluss ist mit Fröhlichsein und Singen. Bekarten Borken und mit den Dixen endlich Döbnicken, dass in den Eichen die Finken schlagen und mein Geschrei vielleicht weniger laut sein wird, was meinst du? Aber Frisching, mit Glauthienen oder Grauschienen, wird nur bis Graventhien Groß Dexen, wenn auch Groß Lauth, und auf’m Hoofe stehen Hussehnen und wollen Jesau Kanditten! Jesau, mein Freund, will Kavern in seiner Soße und Kilgis im Kartoffelmus essen, das lässt er sich Klaussen Kniepitten! So stehen wir bald, die Kromargen an Krücken, und lassen Kumkein Kutschitten, ehrlich. Lampasch Legden wir den Lewitten zu Füßen, die in der Heide Liepnicken übten und heillos gewannen. Für uns blieben nur Loschen, sodass Molwitten Moritten angesagt war. Zum Glück aber blieb’s bei Mostritten, wo der Mond übern Bernstein floss und Naunienen uns half; und von Neucken bis Packerau verschlug’s uns die Sprache, wir Papperten nur noch, Parosken standen am Wege und ahmten mit ihrer rötlichen Schönheit die Ida nach, wie sie Peisten Pompicken wollte. Aus Loschen wurden Poschloschen, die wir Posmahlen konnten, Powarschen angedroht, der Pudelkeim erstickt. Quer zu Quehnen heißt’s sich sehnen, Reddenau oder nie, Roditten im Schlitten, Rositten oder Rothenen – ich sag’s ja: Sich sehnen! Die klugen Schlauthienen Schnakeinen geradewegs los, und auf der Schönwiese können wir nun endlich Schrombehnen Seeben, wie sehr haben wir darauf gewartet! Das will uns Serpallen, wie Sieslack auflegt, und Sollnicken! Sollnicken, bis Sortlack draus wird, gehärtet, mit Strobehnen dran. Sollten wir noch einziges Mal uns Tenknitten, so wär’s um uns geschehen, sagt Tolks und gibt den Toppriemen ab. Trinkheim, die Erlösung, Uderwangen rot um die Vierzighuben. Die Wackern Brüder wollen Wangnick Warschkeiten, haben das Seifenpulver schon danebengestellt und warten nun nur noch, weil Weischnuren Wildenhoff! Na ich weiß jedenfalls nicht, Wöterkeim liegt. Wogau, und Worglitten vorüber im Frühdunst, Worienen Elfen Worschienen…

… bis er abhebt, endlich. Wirklich? Die Großmutter starb an einem sonnigen, halswarmen Tag, und er begleitete sie mit kräftigen Flügelschlägen, zu denen er sich vom Tisch im Wohnzimmer aus erhoben hatte und durch das vom Vater weit geöffnete Fenster hinausgeflogen war, dass uns Augen und Mund sprachlos offen standen. Bis zum Ende der Stratosphäre trug er sie in seinen Armen, ehe sie ihm abgenommen wurde, die Augen öffnete und ihm ein letztes Mal zulächelte. Das erzählte er jedenfalls, als er zurückgekehrt war. Die Flügel fielen ihm ab, kaum dass er den Boden der Stube berührt hatte, er streichelte sie und schlug sie in ein weißes Laken ein, legte das Päckchen dann auf den Hängeboden über der Zwischentür im Flur und bat mich, eine Heilsalbe auf die zwei wundroten Hautspalten, die sich in Schulterhöhe zeigten, zu streichen. Wir sprachen nie wieder davon, dass er ein geflügelter Mensch gewesen war, ein Engelszwitter vielleicht, der die eine Natur zugunsten der anderen abgeworfen und über der Tür deponiert hatte, durch die er ungezählte Male am Tag hindurchschritt. Manchmal zirpte ein Heimchen, eine Grille da oben, und wir verboten es uns, nachzuschauen und das Tier herunterzuholen, sodass wir mit den Jahren glaubten, es mit deren Kindern und Kindeskindern zu tun zu haben, wenn immer wir sie hörten. Mit dem Flügelverlust hatte mein Bruder das Wachstum eingestellt, er wächst erst jetzt wieder, wie ich neulich feststellte, als ich ihm eine Hose in der letzten Kindergröße, die er damals schon getragen hatte, schenken wollte: Die Beine staken wie lange, spillrige Stöcke darin, und der Abstand vom Hosensaum zu den Knöcheln betrug schon einige Zentimeter, sodass er mit dem Umschlag experimentierte, ihn herunterschlug und so den Spalt überbrücken wollte. Ich wäre am liebsten mit ihm über Stock und Stein gelaufen, dem Moor zu, das weit hinter der Stadt gähnte, denn es war ein ebenso sonniger, halswarmer Tag wie zu Großmutters Tod, aber er lächelte nur, zog die Hose wieder aus und gab sie mir zurück. Leg sie unter dein Kopfkissen, meinte er lächelnd, vielleicht wächst sie ja noch in deinem Haus! Ich liebe seine Art, mit Dingen umzugehen, indem er nicht die Hoffnung verliert. Vielleicht hat ihm die Großmutter in den letzten Augenblicken vor ihrem Austritt aus der Stratosphäre diese Art Hoffnung in den Körper gesprochen? Dass sie so ganz und gar in ihm drinsteckt wie früher der Dialekt Ostpreußens oder sein Verständnis verlorener Orte und Namen? Quellen dafür wüsste ich keine andere zu nennen als Großmutters Art, ihn zu herzen und zu schaukeln. Ihn, den Geflügelten, der sich in diesem Punkte von mir sehr unterschied. Er flüstert in mir, er schwingt sich auf im Erinnern, smordis vernimmst du, dunkel schlagen die Worte den Takt gegen das Vergessen. Mein Bruder altert wie ich, die Falten in seinem Gesicht sprechen nun Großmutters Sprache, während meine Falten sich mühen müssen, dahinter zu kommen, was gemeint ist: dein Abwarten, dein Teetrinken? Ich schaue ihn gnadenlos an, es ist Herbst. Der Faulbaum vorm Haus wird welken wie wir, und noch ehe ich morgen früh aufstehe, wird er wieder Blätter abgeworfen haben. Dass es auch ohne uns und unsere sprechenden Sprachen und Falten weitergehen wird, könnte das Kind, das da unter ihm spielt, längst gelernt haben, wenn wir es ließen. Es ist meine Enkelin, und sie hat noch viel Zeit, bis sie stirbt. Ein kleines, keineswegs geflügeltes Mädchen, dem mein Bruder viel schenkt: von seiner Zeit, seinem Alleinsein und seiner Traute; er hat ihr ein Baumhaus gebaut, von dem aus sie die Straße hinauf- und hinabsehen kann. So sicher war er seiner kleinen Sache dass er gestern zum Abend die Flügel vom Hängeboden holte und schließlich vergrub dort drüben am Zaun

Kathrin Schmidt
Aus Martin Pollack (Hrsg.): Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland, S. Fischer Verlag, 2006

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