– Zu Thomas Böhmes Gedicht „Jakob und Wilhelm verlaufen sich im Wald“ aus Thomas Böhme: Abdruck im Niemandswo. –
THOMAS BÖHME
Jakob und Wilhelm verlaufen sich im Wald
Sie haben schon viel gesehen: die Zwerge im Nußschiffchen eine Elfe im Käferkleid.
Jetzt jagen sie einem Einhorn nach, das nach Salbei riecht.
Die Bäume stehen im Glied, stramm wie Hessische Landjäger.
Wo immer ein Brunnen den Schlund öffnet, kriegen sie rote Ohren.
Gebannt lauschen die beiden ins Dunkel und hören das Wispern verlorener Kinder.
Beuge dich nicht zu tief hinab, warnt Klein-Jakob den Jüngeren.
Wilhelm zappelt in seiner Seppelhose, die entschieden zu weit ist.
Und schon ist’s geschehen. Der Fall kehrt das Unten nach oben.
Der Ältere springt ihm nach, einen Mühlstein um seinen Hals.
Sie strampeln im Gras. Äpfel dampfen auf Messers Schneiden.
Man hat ihnen nie gesagt, daß man Messer nicht abschlecken soll.
Die Schlange macht’s ihnen vor, wie die Zunge nachwächst.
Keine Sorge, aber sie werden von nun an ein wenig lispeln.
Da kömmet das Hexenhaus grade recht; man kann seine Worte dran wetzen.
Die Hexe hat eine Hasenscharte und flitzt wie ein Igel.
Und weiter geht’s, Brandgeruch folgt ihnen auf dem Fuß.
Der Fuß paßt in keinen Schuh, außer, man feilt ihn ein bißchen zurecht.
Der Esel spuckt Blut, oh, der soll doch Dukaten scheißen.
Die Mordsbuben tragen schmucke Hüte von Fliegenpilzen.
Zu Hause wartet der Vater mit seiner Schrotflinte.
Die falsche Mutter hortet Süßtümer in der Spinnstube an.
Ach, kehrten sie wieder, die Kleinen, wie wollt ich sie laben!
Spricht’s und hackt auf den Hahn ein, Kikeriki.
Die Knaben sind außer Schußweite und schon müde.
Man möcht ihnen Sternlein von ihren Locken pusten.
Der Mond rollt in einer schwarzen Kalesche vorüber.
Da kann er noch so sehr grollen, er muß zu der Kröte hinab.
Und Wölfe mit aufgedunsenen Bäuchen schlichen umher.
Ein Riese spie Knöchelchen aus, gar wunderlich klang es
wenn aufeinanderschlugen die beinernen Hämmer.
Noch mancherlei zu erzählen hätten die Brüder, fänden sie je wieder heim.
mit Pfeife im Mundwinkel und Brille auf der Nase, ist kein junger Dichter, ist sogar ein bisschen älter als ich. Er schreibt schon so lange Jahre junge Lyrik, auf Deutsch, dass es mich immer wieder wundert, ihn im Leipziger Raum zwar als lokale Größe zu erleben, außerhalb davon aber meist ein unwissendes Kopfschütteln zu ernten, wenn sein Name fällt. Und wenn ihn schon jemand kennt, dann steht sofort der Titel seines ersten Gedichtbandes im Raum: Mit der Sanduhr am Gürtel (Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1983). Seltsam, denn er hat so viele publiziert, jedoch in Verlagen, deren Publikationstätigkeit mit den Jahren zum Erliegen kam oder solchen, die so klein sind, dass sie sich einen aufwändigen Vertrieb nicht leisten können. Dass 2010 sein Band Heikles Handwerk im Poetenladen Verlag erschien, stimmt mich hoffnungsfroh, eine größere Leserschaft möge auf ihn aufmerksam werden und der Verlag nächste Bände aus der umfänglichen Produktion des Autors nachschieben können. Wir werden sehen.
Was mich an Thomas Böhmes Lyrik fasziniert, mutet mir zunächst wie Nähe zum eigenen Schreiben an: Ihm scheint es wie mir um Moment-Räume im Gedicht zu gehen, in denen das Außerleibliche den Leib trifft, die Oberflächen einander durchdringen und genau dadurch bislang offenbar unbetretene Räume bilden. Die Sinneseindrücke mischen sich und machen im lyrischen Augenblick neue, ungeahnte sinnliche Qualitäten des Sehens, Hörens, Riechens, Fühlens, Schmeckens möglich. Das alles geschieht keinesfalls abgehoben von Zeit und Ort, vielmehr werden deutlich Signale gesetzt, die die U-Boote unter den ausgefahrenen Periskop- und Radarmasten ahnen lassen und die Abenteurer unter den Lesern hoffentlich dazu verleiten, tiefer hinabzusteigen. Wer es wagt, wird zumindest eine Ahnung von dem bekommen, was Thomas Böhme sieht, wenn er schreibt, denn seine Gedichte erzählen fast immer Geschichten. Oft in Geschichte. Die kleinen Jungen Jakob und Wilhelm zum Beispiel verlaufen sich an Hänsels und Gretels Stelle im Wald und finden sich im keineswegs vordergründig zitierten Kosmos der ihnen später, als erwachsene Grimms, zugeschriebenen Kinder- und Hausmärchen. Man stolpert mit ihnen vom Brunnen zum Hexenhaus, vom Esel zur Kröte, man sieht die Hexe mit der Hasenscharte, hört das Wispern verlorener Kinder, schmeckt die dampfenden Äpfel, fühlt die Schwere des Mühlsteins um den Hals des Älteren beim Sprung in den Brunnen und gerät in einen Zustand der ängstlichen Beklommenheit angesichts dessen, was sie erleben.
Der Fuß paßt in keinen Schuh, außer, man feilt ihn
ein bißchen zurecht.
Im Parlando, das sich des Grimmschen Originaltons annimmt, irrt man immer schneller durch die dunklen Wälder der Erziehung, die in unseren Breiten bis ins zwanzigste Jahrhundert vom Christentum geprägt und eine der Schuld und Sühne war, und noch heute führen moralische Urteile zu moralischen Sanktionen, bewerten Vergleiche den anderen, selbst wenn das nicht vordergründig intendiert ist. Bis in die Sprache hinein geht unsere Kommunikation nach wie vor von Fehlern des einen und Enttäuschung des anderen aus, ohne dass auf grundlegende Gefühle und Bedürfnisse, die sich im Menschen auf eine erstaunlich geringe Anzahl reduzieren lassen, Bezug genommen wird. Grimms Kinder- und Hausmärchen legen davon gar wunderlich Zeugnis ab, sie dokumentieren eine Zeit, in der Angstmachen dazu diente, strikte innerfamiliäre Hierarchien aufrechtzuerhalten und das Kind frühzeitig an außerfamiliäre zu gewöhnen – womöglich aus dem Glauben heraus, ihm fürs Leben das Nützlichste mitzugeben. Und so verlieren sich die Knaben im Dschungel der Bedrohlichkeiten, während die wohl größte jedoch zu Hause hockt: Mit der Schrotflinte wartet der Vater; die falsche Mutter spricht süß und köpft den Hahn dabei. „Noch mancherlei zu erzählen hätten die Brüder, fänden sie / je wieder heim“, endet das Gedicht, und der Leser ist einen Augenblick froh, dass sie Vater und Stiefmutter nicht wiederbegegnen müssen, ehe ihm aufgeht, dass sie in diesem Walde nicht weniger verloren, ja, preisgegeben sind. Im Niemandsland zwischen Wahn und Wirklichkeit müssen sie offenbar bleiben, und aus diesem Niemandsland stammen die Märchen, die sie aufschreiben und die eher die des christlichen Abendlandes als deutsch sind…
Wieder heraufgestiegen aus einem Böhmeschen U-Boot, kann ich einen für mich wesentlichen Unterschied zu meiner eigenen Arbeit benennen: Das Durchdringen der leiblichen und außerleiblichen Oberflächen geht bei mir wohl stärker als bei Böhme mit dem wechselseitigen Durchdringen der Worte und der Entstehung neuer Wort- und Bedeutungsräume einher. Meine Gedichte leben auch von sprachlicher Vagheit, während Böhmes Sprache keineswegs vage ist und trotzdem Vexierbilder schafft, die sich dem Eindeutigen entziehen. Der poetischste Moment eines gelungenen Textes liegt für mich im möglichen Umkippen, im oft nur einen Augenblick langen, schwebenden Zustand des Gefühls, ehe es sich fürs Bewusst-Sein entscheidet. Es sind Momente, in denen ich nicht nur die Jugend, das Wachsein und die Präsenz des Dichters spüre, sondern auch meine eigene. Solche Glücksmomente widerfahren mir während des Lesens Böhmescher Gedichte recht oft, beim hier zitierten zum Beispiel, als ich den letzten Halbsatz las. Für meine eigenen Gedichte gilt das Wort „oft“ eher nicht. Ich kann ihm also nacheifern, fühle Verwandtschaft wie Disparatheit gleichermaßen.
Nicht schlecht für Dichterkollegen, was?
Kathrin Schmidt, aus Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.): denkzettelareale, Verlag Reinecke & Voß, 2019
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