– Zu Adolf Endlers Gedicht „Dies Sirren“ aus Adolf Endler: Die Gedichte. –
ADOLF ENDLER
Dies Sirren
Und wieder dies Sirren am Abend. Es gilt ihnen scheint es für Singen
Ich boxe den Fensterladen auf und rufe He laßt mich nicht raten
Ihr seid es Liliputaner das greise Zwergenpaar van der Klompen
Cui bono ihr lieben Alterchen mit der Zirpstimm im Dunkel cui bono
Eddi Endler – sobald er mir in den Sinn kommt, beginnt vor meinen geschlossenen oder offenen Augen ein Kopfkinofilm; ich sehe sein Gesicht und darüber laufen Gedichtzeilen, die ich auswendig kann. Ich höre seine kräftige Stimme, den niederrheinischen Tonfall, der so anders klang als unser berlinisch oder sächsisch gefärbter. Von ihm lernte ich – und nicht nur ich, dass Komik Notwehr ist, Witz immer auch politisch und Charme etwas quasi Angeborenes, eben nicht Erlernbares.
Endler sitzt nicht, nein, er steht, an einem Kneipentisch oder noch lieber frei im Raum und spielt seine Texte; der ganze Körper ist in Bewegung, die Wörter, die er hervorstößt, sind es auch. Er zürnt, spottet, wispert, lässt keine verbale Nuance aus. Sein so gar nicht konspiratives Gebaren unterscheidet sich sehr von dem um Coolness bemühten der jungen Dichterinnen und Dichter am Prenzlauer Berg, die ihre Werke bei den üblichen (natürlich geheimen) Zusammenkünften vortragen wie Einkaufszettel, also in Sascha-Anderson- oder Heiner-Müller-Manier. Doch diesen vor Jahren dem goldenen Westen entsprungenen Eddi Endler, den bewundern und beneiden sie, um seine Leidenschaft, seine Welterfahrung, seine souveräne Ironie. Bis in die Fußspitzen spüren sie, nein wir; ich bin ja auch dabei: Der ist nicht aus jenen uns von klein auf vertrauten Gegenden, und dennoch kennt er uns, unsere „Ächzistenz“, genau, möglicherweise genauer als wir selbst. „Der A. Endler“, heißt es in Andreas Koziols Bestiarium Literaricum „ist ein Kolkrabe mit sehr viel Weiß an den Spitzen seiner Schwungfedern“ – „und meistens mit Fadennudeln im verwahrlosten Bart“, darf ich, den Maître selbst zitierend, hinzufügen.
Vor zwei Jahren hat der Wallstein Verlag einen 900 Seiten starken Band herausgegeben, ein Ender-„Brikett“, das nahezu alle Gedichte dieses wuchtig-zarten, spöttisch-ernsten, wahrhaft melancholerischen Heilgiftmischers enthält, der, wie kein zweiter unserer Zunge, elegantestes Turmhochdeutsch mit zottelzotigster Mouth-Art (Schnauzen-Kunst) amalgamieren konnte. Adolf Endler, geboren 1930, folglich drei Jahre bevor Alois Schicklgruber alias Adolf Hitler deutscher Reichskanzler wurde, nannte sich begreiflicherweise lieber Eddi oder Eddie und gelegentlich Eddy mit y, soviel Good Old America durfte sein, oder, anagrammatisch verwandelt, Endolf Adler, Ole Erdfladn, Randolf Elend, Alfred Nolde, Della Fonde, Lea Nordfeld, Dorle Elfland oder – vermutlich in Anlehnung an Böhmen und Belgien, die Herkunftsgegenden seiner Eltern – pseudonym-alliterativ Bubi Blazezak und Bobbi „Bumke“ Bergermann. Und natürlich sind die soeben erwähnten nur einige seiner Doppel- und Wiedergänger, die vollzählig zu versammeln sicher auch mal eine schöne, das „Lob des Fleißes“ werte Aufgabe wäre.
Eddi Ender, der sich freudig bezichtigte, „eine der verwachsensten Gurken der neuen Poesie“ zu sein, hat bis heute eine gerade nicht massenhafte, dafür treue, (sand)sturmerprobte Lesergemeinde; vielen von uns sind viele seiner Gedichte und Prosatexte unvergesslich. Zu den mir wichtigsten gehören: „Dies Sirren“, „Das Sandkorn“, „Ballade vom Zionskirchplatz“, „Läusesuchen“, „Vor dem Abbruch unseres Hauses“, „Das Lied vom Fleiß“, „Verse von echter Dankbarkeit“, „Ein Dichterleben“ und „Resumé“.
In diesem TEXT+KRITIK-Heft will ich ein Gedicht in den Blick nehmen, das ich, ebenso wie „Das Sandkorn“, für einen der zehn Schlüssel zu Endlers Werk halte, obgleich ich es damals, als ich ihm oft und gern über den Weg lief, nicht wirklich verstanden habe, wohl weil ich die Zeit, aus der es herrührt, nicht mehr kannte, und das Drei-Länder-Eck, aus dem es mich anschaute, noch nicht. „Dies Sirren“, verfasst im Jahre 1971, gilt mir als der Kern, genauer das Sandkorn der Endler’schen, richtiger „endleresken“ Poetik, als jener frühe, vielleicht gar prägende Ton, der Endler durch die Ohren in den Kopf schlüpfte – und dort blieb – sein Leben lang. Die letzten Jahre hatte er an massiver Herzschwäche und zudem noch an einem Tinnitus gelitten; und als ich ihn einmal fragte, welche Töne er denn höre, antwortete Eddi Endler schief lächelnd:
Es ist so ein Sirren, mal höher, mal tiefer, mal lauter, mal leiser, aber immer da.
Was meint „Dies Sirren“ im gleichnamigen Gedicht? Zuallererst womöglich ein Kriegsgeräusch. „Das war ein Geknalle und Gebumse und Gesurre und Gekreische noch und noch“, sagt er im ersten Kapitel der von Renatus Deckert herausgegeben Erinnerungen an das Frühjahr 1945, an die Fliegeralarme, die Bombenangriffe, die Sirenen… Auch „Das Sandkorn“ von 1967 sirrt: „Es summt, es sirrt, es kreiselt, von Böen draufgeweht, / übt tolle Kreiseltänze auf blechernem Trommelfell“: – Und dann, 1971, war da eben „wieder dies Sirren am Abend“.
DIES SIRREN
Und wieder dies Sirren am Abend. Es gilt ihnen scheint es für Singen
Ich boxe den Fensterladen auf und rufe He laßt mich nicht raten
Ihr seid es Liliputaner das greise Zwergenpaar van der Klompen
Cui bono ihr lieben Alterchen mit der Zirpstimm im Dunkel cui bono
Wem gilt dies – für das poetische Ich offenbar bedrohlich klingende – „Sirren“ als „Singen“? Etwa den kleinen welken Menschen, den van der Klompens aus Flandrisch-Liliput, deren „Zirpstimm“ es doch selbst absondert? Hat das Endler-Ich die Verursacher des Sirrens, die „lieben Alterchen“ etwa erwartet? Womöglich nur und gerade sie? Es (das Endler-Ich) boxt „den Fensterladen auf“, den die „Liliputaner“ (ängstlich und womöglich permanent?) geschlossen halten. Sind sie aus Furcht geschrumpft und sirren (singen) leise für sich hin, um einander und jedes sich allein zu beruhigen? Oder um die draußen, auch den Dichter, der sie „im Dunkel“ ihres Zimmers und des Abends eher vermutet als entdeckt, zu beunruhigen? Das Endler-Ich kann die zwergigen Greise, obgleich der Fensterladen nun offen steht, kaum erkennen und fordert mit seinem „He“, es „nicht raten“ zu lassen, was es aber auch nicht muss, denn „dies Sirren“ hat die beiden ja bereits ver-raten. „Cui bono“ (Wem nützt das?) ruft der Dichter ihnen zu. Mit Cicero warnend vor Diesem und/oder Jenem (dem Lärm des Krieges, der Panik, dem Ende…?) macht er sich denen verdächtig, die ihm verdächtig sind und ihn warnen. Wer warnt hier wen wovor?
Es ist dies Sirrende, das – etwa in dem Nachlassband Kiwitt, kiwitt – auch Vogelschwingen erzeugen, dies eindeutig Vieldeutige, dies unbestimmt Konkrete, insgesamt grausig Komische; das bleibt in Endlers Werk, in jedem seiner Gedichte und Prosatexte immer wach und will immer (wieder) aufwecken, am liebsten tote Lebende, denn die lebenden Toten sind eh putzmunter. – Endler selbst nannte seine Art zu schreiben eine „phantasmagorische, eine schwarzhumorige Verdrehtheit, (…) Schleudertor und Gespensterbahn, nichts für schwache Nerven“. – Dabei will ich es bewenden lassen, da treffender kaum auszudrücken wäre, wer diese Dichterseele war und bleibt; man zeige mir die oder den, die oder der das könnte. Und wenn es sie oder ihn geben sollte, wo und wann auch immer, so hätten wir doch nur doppelten Grund zur Trauer, 1., weil Eddi Endler nicht aufhört uns zu fehlen, und 2., weil eine Begegnung zwischen Eddi und jener oder jenem niemals mehr möglich ist.
Katja Lange-Müller, aus Text+Kritik: Adolf Endler – Heft 238, edition text + kritik, 2023
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