− Zu Uwe Kolbes „Sommerfeld. Erstes Gedicht“ aus dem Gedichtband Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch. −
UWE KOLBE
Sommerfeld. Erstes Gedicht
Der Rotz lief vom Eisenhut.
Der Wald stand, dem Haupthaar gleich,
am flachen See.
Der Mann, der hieß Erde, war alt.
So sah schon das Kind von oben,
von seinem Baumplatz herab.
In keiner – wo Deutschlands – freien Natur
je wieder ein Baum dieses Traumes,
die Edelkastanie zum Rest.
− So machen Sie sich doch nicht lächerlich.
− Und bin ich doch willig,
und bin ich doch alt?
Im Rotz hab ich Sauerampfer geerntet
und war auch ein Häuptling in ihm.
Inmitten der allgegenwärtigen Motten
paar Kremplinge für die Mutter,
ein unbeschwertes Gericht.
Und so auch die erste Liebe.
Wir waren zwei Jungen von sechs,
das Mädchen vier Jahre alt.
Ich häng an dem Rotz
der Kranken von Sommerfeld.
Ich komme nicht los von der Einsamkeit,
die hundertfach mich umgab
im schütteren Hochwald, auf Sand.
Ich weiß nicht, was schön ist,
oder ich klebe daran.
Sommerfeld, ein schönes, ein magisches Wort; es zu lesen oder auch bloß zu denken bewirkt, dass ich die Augen schließe und schon erscheint mir ein sommerliches Weizen- oder Roggenfeld, eines von DDR-sozialistischer Dimension; bis zum Horizont reicht es, und über ihm, am wolkenlos blauen Firmament, steht die Sonne im Zenit. Es ist still und so heiß, dass ich riechen kann, wie die Ähren reifen. Kein Windhauch bewegt die Halme, zwischen denen, blauer noch als der Himmel, die Kornblumen leuchten und rubinrot der Klatschmohn und – innen gelb, außen weiß – die Blüten der Hundskamille…
Mein imaginiertes Sommerfeld ist nicht das gleichnamige von Uwe Kolbe. Gleichnamig? Nicht ganz, denn vollständig lautet der Titel dieses, mich immer wieder und immer weiter erregenden Gedichts: „Sommerfeld. Erstes Gedicht“. Warum „Erstes Gedicht“ frage womöglich nicht allein ich mich, hege aber zumindest einen Verdacht, für den sich ein paar Indizien finden in und zwischen den Zeilen. Doch wie mag es jemandem gehen, der sich unter „Sommerfeld“ nur das vorstellen kann, was ich soeben ins Bild gesetzt habe, weil er nicht weiß, von welchem Sommerfeld Kolbes Gedicht spricht? „Sommerfeld“, ein ganz aufmerksamer brasilianischer, indischer oder chinesischer… Leser wird vermutlich irritiert sein und, da ihm dämmert, dass Uwe Kolbe mit „Sommerfeld“ etwas anderes meinen muss als eben ein sommerliches Feld, seiner Irritation nachgehen; und vielleicht ermutigen ihn ja die Zeilen „Ich häng an dem Rotz / der Kranken von Sommerfeld“ im Internet herumzustöbern. Unbekannter brasilianischer, indischer, chinesischer… Freund der Dichtung Uwe Kolbes, ich bin so frei, Dir auf die Sprünge zu helfen! Sommerfeld ist der Name eines nahe am Beetzer See gelegenen Teils der brandenburgischen Kleinstadt Kremmen; dort gab es, bis zum Jahr 1964, das Waldhaus Charlottenburg, eine Lungenheilstätte, die von den Ortsansässigen Tuberkulösenheim genannt wurde. Seit 1965 trägt das denkmalgeschützte, eher an ein altes bayrisches Hotel erinnernde Gebäude den Namen seines erfolgreichsten ehemaligen Leiters und seit der Wiedervereinigung gehört dies Hellmuth-Ulrici-Krankenhaus zu den Sana-Kliniken, in denen mittlerweile Erkrankungen des Bewegungssystems therapiert werden, pneumatisch dagegen kaum noch.
Habe ich den Mund zu voll genommen, als ich jüngst behauptete, ich würde mir zutrauen, einmal auch ein poetisches Wortgebilde zu analysieren, etwa so, wie ein Chemiker ein Amalgam aus diversen Substanzen in seine Bestandteile zerrlegt? Darf ich schnöde Prosaikerin mich einem Gedicht auf solche Weise nähern, na, wenigstens „recherchieren“, was es womöglich mit-initiiert haben mag? Ich denke, ja. Uwe Kolbe hat einmal gesagt, er schreibe „die schlichtesten Gedichte“, die man derzeit lesen könne „von deutschen Autoren (…). Wenn ich für meine Gedichte eine Lesehilfe geben würde, würde ich immer sagen: Nimm es so verflucht konkret und profan, wie es wirklich ist.“
Und, Uwe Kolbe? Wie war es? War es so? Kann ich so, Zeile für Zeile, die Gedichtleiter hinab- oder andersrum aufsteigen zu Dir? Eine Art Poesie-Profiling versuchen anhand dessen, was ich herausgefunden habe, also weiß, und dem, was da „wirklich“ steht?
Weil ich dies Gedicht besonders liebe, weil es womöglich die längste Pfahl- und Quadratwurzel der Uwe-Kolbe-Kindheit in den Fokus nimmt, jene, die sich nun gar nicht (heraus-)ziehen lässt, weil sein „Sommerfeld“ – wie sonst kaum eines seiner über all die Jahre entstandenen Gedichte – preisgibt, von wo er herrührt, dieser „Phantast des Nomadisierens“, dieser Wanderseismograph und Bewegungsmelder „vom Rand der Katastrophen“, will ich es wagen, natürlich nicht von unten, sondern von oben, fortfahrend mit dem zweiten Glied des Titels. „Erstes Gedicht“, nehme ich an, bedeutet, dass es um die frühesten seiner gedichtwerten Erinnerungen geht. Kann es so sein? Immerhin war Kolbe, wie das Gedicht „verrät“, bereits sechs zu jener Sommerszeit in Sommerfeld, und des Menschen Gedächtnis reicht unter Umständen weiter zurück; bei vielen von uns bis ins dritte Lebensjahr. Es muss Sommer gewesen sein, etwa die Zeit zwischen Anfang Juli und Anfang September, denn der „Eisenhut“ kommt vor, doch auch der „Sauerampfer“ und „Kremplinge“. – „Erstes Gedicht“, zu vermuten, er plane, diesem ersten Sommerfeld-Gedicht ein zweites, drittes, viertes… folgen zu lassen, ist auch möglich. Aber ich gehe eher davon aus, dass Kolbe dieses Gedicht als eine Art Urgedicht verstanden wissen will, als sein erstes eben, wenngleich es nicht das zuerst auf- oder niedergeschriebene war.
„Der Rotz lief vom Eisenhut.“ Jemand, „das Kind“, das „ich“, einer der „zwei Jungen“, „das Mädchen“ oder einer „der Kranken“ (von all denen wird noch die Rede sein) hat draufgespuckt auf die helmartigen, meist blauen Blüten dieses Hahnenfußgewächses, das, vielleicht nicht ganz unwichtigerweise, zu den giftigsten, ja, in entsprechender Dosierung sogar tödlich giftigen Pflanzen Europas gehört.
„Der Wald stand, dem Haupthaar gleich, / am flachen See.“ Warum sträubt sich hier wem das „Haupthaar“, derart, dass es vom Kopfe (ab)steht, wie am großen aber „flachen“ (Beetzer) „See“ die Bäume stehen? – Wir sagten ja „Wald“ zu den Brandenburgischen Holzplantagen, in denen ein Baum dem anderen „gleich“.
Um einiges seltsamer dann die folgenden drei Zeilen: „Der Mann, der hieß Erde, war alt. / So sah schon das Kind von oben, / von seinem Baumplatz herab.“ – „Erde“ war nicht die; die „Erde“ wäre dem „Kind“ wohl nicht „alt“ vorgekommen?! „Erde“ war „der“, ein „Mann“ (und Mensch), ein „alt“er. „So sah“ (es) „schon das Kind“. Von „seinem Baumplatz herab“ hatte es voll den Überblick, war sich sicher, ist sich sicher nach wie vor, daher die telegrammstilartige Bestimmtheit. Oder wäre auch diese Lesart möglich? „So“ alt (und erfahren) wie der „Mann Erde“ schaute „schon das Kind“ von „seinem Baumplatz herab“; es wusste (und weiß!) genau, was es sah. Fehlt der sechsten Gedichtzeile darum das es, das ich etwas weiter oben meinte einklammern zu müssen?
„In keiner – wo Deutschlands – freien Natur / je wieder ein Baum dieses Traumes, / die Edelkastanie zum Rest.“ Des Kindes „Baumplatz“, folgere ich, befand sich nicht auf einem der Nadelgehölze, die es ohnehin schwerlich hätte erklimmen können, sondern im Geäst einer, ach was(!) der Edelkastanie, die höher war als dieser (Kiefern-)„Wald“ vor dem (Beetzer) See. „In keiner – wo Deutschlands – freien Natur“. Wunderbar spöttisch hier das Spiel mit der Floskel von der freien Natur. Deutschland, nicht etwa nur die DDR, und freie Natur, das will einfach nicht recht zusammenpassen. „Ein Baum dieses Traumes.“ Welchen Traumes? Des Traumes von freier Natur – in Deutschland und/oder ein Baum (groß, stark, prächtig) wie geträumt? Ich entdeckte auf einer Fotografie von einer Seite der Lungenheilstätte Waldhaus Charlottenburg zwischen gewundenem Parkweg und dem Haus tatsächlich eine riesige Kastanie, deren ausladende (auf dem Foto blühende) Krone das spitze Ziegeldach des Waldhauses souverän überragt. Die „Edelkastanie“, die der Dichter eben nicht Esskastanie der Maroni-Kastanie nennt, kann 200 Jahre alt und 35 Meter hoch werden.
Edelkastanien beginnen bereits tief unten am Stamm sich zu verzweigen, und mühelos wäre selbst ein kleines Kind fähig, eine solche zu erklettern, sich zu verbergen in ihrem dichten Laub, dessen einzelne Blätter (was aus dem kleinen Foto nicht hervorgeht, mir jedoch bekannt ist) aussehen wie Gecko-Füße Im Maßstab eins zu (etwa) tausend. „… zum Rest.“ – Zum „Rest“ von was, zum „Rest“ wozu? Zu all dem anderen, dem „Rotz“, dem – stehendem „Haupthaar“ gleichen – „Wald“, dem alten „Mann“, der „Erde“ hieß, dem „Kind“ auf seinem Baumplatz“? Oder kann einem Dichter die Erinnerung an diesen Ort und solch einen fabelhaften Baum schon den (sprichwörtlichen) „Rest“ geben?!
„So machen Sie sich doch nicht lächerlich. / – Und bin ich doch willig, / und bin ich doch alt?“ Urplötzlich wird aus der Rückbesinnung, die vermutlich ja doch stets gegenwärtig ist, ein Dialog von zwei Stimmen (oder Seelen?), die womöglich beide „ach! in (m)einer Brust wohnen“. – Wohnen? Nein, eher hausen. – Die eine schilt den Edelkastanienschwärmer in phantasielosem Vorgesetztenton, mahnt ihn, sich „nicht lächerlich“ zu machen, die andere, die Dichterstimme, kontert mit einer zart aufmüpfigen Frage, die auch ein wenig nach Goethe klingt; so als wolle das Kind den Erlkönig beschwichtigen und verunsichern: Vorsicht, ich bin vielleicht nicht jung genug, die falsche Beute für dich. Eventuell könnte es auch nur die Stimme des „Mannes“ sein, der „Erde“ hieß und „alt“ war. Aber war (und ist), wie ich bereits beim ersten „alt“ annahm, der Mann „Erde“ nicht gar identisch mit dem „Kind“ (und Dichter), dem immer schon alten?
Für diese Deutung sprechen auch die folgenden Zeilen: „Im Rotz hab ich Sauerampfer geerntet / und war auch ein Häuptling in ihm.“ – „Rotz“ soweit das Auge reichte; er „lief vom Eisenhut“, befand sich auf dem „Sauerampfer“, den man ja essen kann, notfalls abwaschen, den „Rotz“. Doch es war schlimmer und „der Rotz“ tatsächlich das Dominante. „Im Rotz“, den ich mir seeflach oder knietief vorstelle, erntete das Dichter-Ich „Sauerampfer“ und war „auch ein“ (Indianer-)„Häuptling in ihm“. Einer, der hungrig war, oder bloß gierig? Ein einsamer Mampfer von „Sauerampfer“ mit gesträubten Federn, denn glänzend und federweich und -leicht war das Kinder-Haupt-Haar? Nein, mit dem „Sauerampfer“ hat es, wie die nächsten Zeilen offenbaren, eine andere Bewandtnis: „Inmitten der allgegenwärtigen Motten / paar Kremplinge für die Mutter, / ein unbeschwertes Gericht.“ – „Schnürt die Botten / Kampf den Motten“ reimte der Gemeine Berliner nach Hitler-Kriegs-Ende und unterstützte so die Kampagne gegen eine gefürchtete Hunger- und Kältekrankheit, der es in geschnürten Botten (derben Schuhen) zu entfliehen galt. Die „Motten“ haben, das hieß an Lungentuberkulose leiden, noch heilbarer oder schon fortgeschrittener, die man – bestenfalls – mit dem Verlust eines wie von „Motten“ zerfressenen Lungenlappens bezahlte – oder mit dem Leben, wenn die gesamte Lunge betroffen war und keine Operation mehr möglich. In diesen „allgegenwärtigen Motten“, dem – ebenso allgegenwärtigen – „Rotz“, fand das Uwe-Kolbe-Ich Pilze, „paar Kremplinge“, die damals noch als bekömmlich galten, gut genug für ein „unbeschwertes Gericht.“ Wobei ich mir der doppelsinnigen Bedeutung des Wortes „Gericht“ durchaus bewusst bin. Ein „Gericht“ für „die Mutter“, nicht etwa für meine Mutter. Sie also war es, die krank war, die TBC hatte, die Stärkung brauchte, Sauerampfer, Kremplinge, eben einfach Essen; ihr so etwas zu finden war es (be-)gierig, „das Kind“, in dessen Hosentasche vermutlich kein einziger Alu-Chip (eine fast vergessene Bezeichnung fürs Ostgeld) klimperte, mit dem es hätte Würfelzucker oder zwei, drei Kekse kaufen können. Das Gedicht erzählt, falls ich richtig gerechnet habe, vom Jahre 1963; das „Kind“, das „ich“, der eine Junge, Uwe Kolbe, war sechs. Gab es 1963 schon genug zu futtern? Im Prinzip ja. Dass der „Häuptling“ (wie sich übrigens auch zu einem Pilz sagen ließe) die Natur nach Essbarem „für die Mutter“ absuchte, dürfte mit der Angst zusammenhängen, die er um sie hatte, denn nicht sie war bei ihm, er war, in Gedanken und dem, was tat, bei ihr.
Weiter heißt es: „Und so auch die erste Liebe.“, unbeschwert, möchte man annehmen; doch dann kommen diese beiden – bei genauerem Hinsehen durchaus zwielichtigen – Zeilen: „Wir waren zwei Jungen von sechs, / das Mädchen vier Jahre alt.“ Was haben die drei Kinder, zwei Jungs von sechs und ein vierjähriges Mädchen, miteinander gemacht – oder gar getrieben? Doktorspiele? Wo könnte meine Assoziation näherliegen als bei einem Waldhaus wie diesem, mitten im „Rotz“, dessen Ursachen dort behandelt wurden; und Behandeln, zwei die eine, die eine zwei, kann man gar nicht früh genug üben.
Das mich wirklich und wahrhaftig jedes Mal aufs Neue ergreifende und – im Wortsinn – bestürzende Finale, diese abgrundtiefe Fallgrube, die offen bleibt und gefährlich immerdar, markiert der unvermittelte, ja, abrupte, rotzig-trotzige Wechsel ins Präsens:
Ich häng an dem Rotz
der Kranken von Sommerfeld.
Ich komme nicht los von der Einsamkeit,
die hundertfach mich umgab
im schütteren Hochwald, auf Sand.
Ich weiß nicht, was schön ist,
oder ich klebe daran.
Es ist ein Bekenntnis, ein schwebend ambivalentes. Am „Rotz“ hängen, ihm (an-)hängen, sogar angehören, denn „die Mutter“ war ja eine „der Kranken von Sommerfeld“, für die dieser „Rotz“ steht, wie kindliches „Haupthaar“, wie der „Wald“, das prägt ungemein. – „Ich komme nicht los von der Einsamkeit / die hundertfach mich umgab / im schütteren Hochwald, auf Sand.“ So ist der „Rotz“ also eine noch umfassendere, eine hundertfache Metapher: hundertfacher Ausdruck (Ausspuck, Auswurf) „hundertfacher Einsamkeit“, der „Einsamkeit“ auch der „Kranken von Sommerfeld“, die nichts Geringeres zu fürchten hatten als Siechtum – und Tod. Einsam und womöglich bedroht von noch größerer Einsamkeit war der Junge, der Sauerampfer und Kremplinge erntete, für „die Mutter“, die, wie wohl jeder dort, allein mit sich, mit ihrem Zustand beschäftigt war, einen Sommer lang – in Sommerfeld. Von diesem – folglich kaum weniger einsamen – „Kind“ im „schütteren Hochwald, auf Sand“, welches der Dichter Uwe Kolbe war, ist und bleibt, kommt es (natürlich!) nicht los, das „Ich“. – „Ich weiß nicht, was schön ist, / oder ich klebe daran.“ Besser, frappierender, paradoxer, stolzer und demütiger gleichermaßen kann dieses Gedicht nicht enden. „Ich weiß nicht, was schön ist, / oder ich klebe daran.“ – Der „schüttere Hochwald, auf Sand.“ – Brandenburg, Kremmen, Sommerfeld; nicht eben dicht ragen vergleichsweise dünne Kieferstämme aus dem kargen sandigen Boden. Ist das etwa „schön“?! Doch was ist schon „schön“? Schön jedenfalls ist nicht unbedingt „schön“, nicht für einen, der das kennt; darum dies „oder“. Wenn einer (Uwe Kolbe, der Dichter) nun aber daran „klebt“, (fest-)„klebt“, konnte nur, ja, musste unabweislich ein Gedicht daraus werden, eines seiner schönsten, falls ich weiß, „was schön ist“.
Katja Lange-Müller
Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012
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