1 BETTLER
Die Bettler, wo sind sie, wohin bloß verschwunden
haben sie irgendwo Manna gefunden
Man munkelt, in ihre Lumpen (ein)gebunden
steckten Millionen, sie wären nun reich
reicher als du und ich zugleich
in den Kirchen gäbs vielleicht noch ein paar
oder am Kirchhof, – obzwar
ich nirgends einen Hut mehr stehen seh im Dreck
die dunklen Hüte mit dem silbernen Fang sind weg
vorbei das stumme irre Gebaren
mit dem ihre Stimmen geknebelt waren
die von der Hüfte ab auf Karren gerollt
haben auf den Rädern sich in den Himmel vertrollt
keine Alte bettelt mehr um einen Kanten Brot
und schreit mir nach, Gott schütze dich in der Not
statt ihrer streif ich jetzt kreuz und quer durch Gassen
und muß die eigne Tasche betteln lassen
blau angelaufen und völlig zuschanden
küß ich die Füße von allen Passanten
wie jener seelige, schmierige, schlaue
fast schon zerfallene, ebenfalls blaue
Onkel Grischka, der Hundsfott
jeder Bettler ist eine Nische für Gott
Er machte sich gering, Gott gründete drauf
und hielt aus ihm heraus die Hände auf
um Liebe, Manna, Himmelsspeise
Jelena Schwarz aus WEIHNACHTLICHES GESCHWÄTZ
Übersetzung Gerhard Falkner
Die Freiheit droht uns allen
oder
Auf der Suche nach dem verlorenen Leid
Vor der Perestroika existierten scheinbar zwei autonome kulturelle Realitäten: die offizielle und die inoffizielle Kultur, die durch die Aufhebung der Zensur jede auf ihre Weise in die Krise geriet. Das inoffizielle Literatursystem erwies sich als eng mit der von ihm verworfenen offiziellen sowjetischen Literatur verbunden. Neben der geistigen Fixierung von offizieller und inoffizieller Kultur aufeinander kam es zu praktischen Verflechtungen und Symbiosen, wie sie in der hier erstmals veröffentlichten Titelerzählung von Oleg Jurjew über eine vom KGB organisierte inoffizielle Schriftstellergruppe ironisch profaniert werden. Insgesamt ist die lachende Demontage einer stalinistischen Vergangenheit, die noch unlängst alltägliche und oft unangenehme Gegenwart der russischen Autoren war, typisch für ihre im Vergleich zum Westen weniger zwanghafte Haltung, die keine neuen Tabus zuläßt. Jurjew, Autor der in diesem Band stark vertretenen Leningrader Gruppe „Kamera Chranenija“ (Gepäckaufbewahrung) ruft – programmatisch für diese Gruppe – in seiner Erzählung die Geister Achmatowas, Zwetajewas, Pasternaks und Mandelstams zu Hilfe gegen den unmäßigen Anspruch seiner Schriftstellerkollegen auf gesellschaftliche Gesamtzuständigkeit und politische Autorität. In diese Richtung zielt auch das ironische Spiel mit der Ikonographie der Macht in den Gedichten Dmitri Prigows und anderer Vertreter der „SozArt“.
Das ironische Wortspiel der Titelerzählung „Auf der Suche nach dem verlorenen Leid“ als Parodie von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ charakterisiert die gegenwärtige Identitätskrise der Intelligenzija, für die anstelle der traditionell russischen Magie des Wortes das westliche Prinzip der repressiven Toleranz getreten ist, anstelle des ideologischen Wortgefechts der Wortmüll der Werbung, die „drohende Freiheit ohne Ende“.
Katja Lebedewa, Vorwort, 1994
weist der Band Auf der Suche nach dem verlorenen Leid. Neue russische Literatur auf. Der eine präsentiert Lyrik aus Moskau. Bekanntes steht neben bisher Unbekanntem, Igor Cholins Lianosowo-Zyklus Die Bewohner der Baracke (1989) und Lew Rubinsteins serieller Text Diesmal… (1988) neben zwanzig Gedichten von Dmitrij Prigow, darunter die Banalen Überlegungen zu den Themen Poesie und Gesetz, Die Vernünftigkeit von Idealen und Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Natalja Gorbanewskaja, die 1975 emigrierte, ist mit einem Achtzeiler vertreten, der Rock-Sänger Alexander Baschlatschow, der 1988 mit siebenundzwanzig Jahren in den Freitod ging, mit Liedern wie Zeit der Glöckchen und Auf das Leben der Dichter.
Lyrik und Prosa aus Sankt Petersburg bilden den zweiten Schwerpunkt. Hervorzuheben sind fünf Gedichte von Jelena Schwarz, darunter Zwei Grabsteine, von tiefem religiösen Empfinden getragen, sowie Gedichte von Vertretern der Gruppe „Gepäckaufbewahrung“. Ihr gehören Olga Martynowa und Dmitrij Sax an, die heute in Frankfurt am Main leben, sowie Sergej Wolf, der durch Kinderbücher bekannt geworden ist. Neben sechs aphoristisch kurzen Prosatexten von Pjotr Koshewnikow (beispielhaft die absurde Toilettenkunde 86) liefert Oleg Jurjew einige Gedichte und den Roman in drei Kapiteln Gonobobl und die anderen, oder Auf der Suche nach dem verlorenen Leid. Der Doppeltitel parodiert Gorkijs späte … und die anderen-Dramen und Proust berühmten Romanzyklus, zugleich aber auch die eigene Dissidenten-Vergangenheit. In Sankt Petersburg, wo der Geist Puschkins und die Schatten von Marina (Zwetajewa), Borja (Pasternak), Anja (Achmatowa) und Ossja (Mandelstam) regieren, wirkt der „VSSnichtVSS“ („Verband Sowjetischer Schriftsteller, die nicht Verband Sowjetischer Schriftsteller sein wollen“, lies: Dissidentenbewegung) nicht minder komisch als der KGB, der seine Agenten Bolschakow und Menschakow auf die Intelligenz ansetzt. Was Gonobobl an Geistigem zu bieten hat, lebt ebenso vom Mythos wie die Werke der offiziellen Sowjetliteratur. Jurjew balanciert mit diesem Roman zwischen Literatursatire und Zitatensammlung im Stil der Postmoderne.
Karlheinz Kasper, Osteuropa, Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, 1995
Die Frage wird oft gestellt: Was kennzeichnet die russische Gegenwartsliteratur, welche Tendenzen sind in ihr auszumachen? Darauf lässt sich, angesichts der verwirrenden Fülle neuer Namen (auch neuer Zeitschriften und Verlage) nur vorsichtig und provisorisch antworten. Eine Antwort bleiben selbst einschlägige Anthologien schuldig; sie zeigen Interessantes und weniger Interessantes, meist ohne die jeweilige Auswahl zu begründen, zu situieren und zu kommentieren. Als wollten sie die vielfältigen Facetten einer Freiheit vorführen, die oft in Beliebigkeit umzuschlagen droht und mit deren Umgang sich fast alle Autoren auf die eine oder andere Weise schwertun.
Unter dem proustisch-ironischen Titel „Auf der Suche nach dem verlorenen Leid“ (er stammt von Oleg Jurjew) hat Katja Lebedewa im Druckhaus Galrev (Berlin) Lyrik und Kurzprosa von zehn Dichtern zusammengestellt, die altersmässig und stilistisch divergieren, aber allesamt komplexe Schreibweisen pflegen: die Moskauer Konzeptualisten Igor Cholin, Lew Rubinstein und Dmitri Prigow, der jungverstorbene Rock-Poet Alexander Baschlatschow, die märchenhaft-versponnene Elena Schwarz oder die elektrizistische Leningrader Gruppe „Gepäckaufbewahrung“ (Jurjew, Martynowa, Wolf, Sax). Lamento und Persiflage, Elegie und Rage sind am Werk – in der für die zeitgenössische russische Poesie typischen Mischung von strenger (metrisch-gereimter) Form und derber Alltagssprache. Zu solchem „Stilbruch“ – man könnte auch von Friktion sprechen – kommt ein gerütteltes Mass an postmodernen Techniken (wie Zitatcollage, Genre-Synkretismus u.ä.). Besonders in Oleg Jurjews Prosa, die russische Geschichte und Literaturgeschichte mit keckem Zugriff zu surreal-absurden Szenen destilliert, erreicht solche Technik Brillanz und Eigenständigkeit. Jurjew folgt dabei der (von ihm selber vertretenen) These, wonach der russische Schriftsteller, „auch wenn er sich noch so sehr für einen Avantgardisten hält, in Wirklichkeit viel stärker (…) an Ausführlichkeit und Einzelheiten (…) gebunden ist.“
Ob in dieser Zeit gesellschaftlich-politischen Umbruchs gerade die Einzelheiten zu entschwinden drohen? Igor Baschlatschow, mittlerweile freiwillig aus dem Leben geschieden, beschwört die „sieben Kreise des höllischen Friedens“, und Dmitri Prigow, einer der unerbittlichsten Beobachter/Kritiker seines Landes schon in sowjetischen Zeiten, konstatiert offen:
Die Freiheit droht uns allen
Die Freiheit ohne Ende
sie hat uns zu gefallen
Kein Ausweg, keine Wende
Mitten in Russland hier
Was vor einem Jahrhundert begann
Und ich hab Angst vor ihr
Als ein ehrliches Mann.
Das sind nachdenklich stimmende Aussagen, die freilich nicht mit einer rückwärtsgewandten „sowjetischen“ Nostalgie gleichzusetzen sind. Einer solche leistet der Verlag Vorschub, wenn er den sorgfältig übersetzten und qualitativ hochstehenden Band mit zumeist pathetischen Schwarzweissphotos aus der Stalinzeit (Quellenangaben fehlen leider sowohl zu den Bildern wie zu den Texten) versieht. Wo bleibt da die von der „Suche nach dem verlorenen Leid“ insinuierte ironische Ambivalenz?
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 24.1.1995
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