DER METAPHYSISCHE ERNST BEI PETER HUCHEL UND RENÉ CHAR
Das Sprechen der Dichter Peter Huchel und René Char hat existentiellen Inhalt. Dieser existentielle Inhalt bestimmt den metaphysisch ernsten Grundzug im Werk beider Autoren. Eine vertiefende Betrachtung, in welcher Weise existentielle Fragestellungen bei beiden Dichtern zum Ausdruck kommen, steht daher am Anfang der Untersuchung einer Ästhetik der Gegen-Schöpfung. Das Ergebnis dieser Betrachtung kann bestätigen, dass Char und Huchel Dichter sind, die den metaphysisch ernsten Standort für ihr Werk fordern, der sich allerdings gegen den Vorwurf, losgelöst von jeder Realität, in metaphysischer Einsamkeit Zwiesprache mit dem Unendlichen zu halten (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band II, S. 278),1 behauptet, im Gegenteil, die Arbeit des Dichters als eine praxisbezogene markiert, die als „die eigentliche Aufgabe des Lebens (…) die Probleme der Zeit, der Kunst, der inneren Grundlagen unserer Existenz“2 bewegt:
Bekränzt von welligen Ziegeln
Blieb eine Mauer.
Das Tongefäß zerbrach,
In dem versiegelt
Der Kaufbrief des Lebens lag. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 115)
Die Vorstellung liegt nahe, das Tongefäß mit dem Kaufbrief des Lebens sei an der Mauer zerbrochen, die davon unberührt blieb, Huchels persönliche Lage 1963, dem Entstehungsjahr dieser Zeilen.3 Der Kaufbrief ist versiegelt. Zwar zerbrach das Gefäß seiner Aufbewahrung, doch wird der Brief nicht entsiegelt. Der Öffnung nahe, bleibt das Geheimnis doch das, was es ist: ein Verborgenes. Über den Biographiebezug erfasst dieses Bild die Paradoxie existentieller Verortung des Menschen, die darin besteht, dass der Mensch ein durch Raum und Zeit begrenztes Wesen geworden ist, zugleich begabt, Inhalte aufzufassen, die über diese Dimensionen von Raum und Zeit hinausreichen, Inhalte, an denen er teilhat, die ihm jedoch zugleich verschlossen bleiben, weil sie ihn übersteigen – „es gibt etwas in uns, das kann ohne uns sein, und wir können nicht sagen, wie es in uns gelangt ist“ (Sir Th. Brown).4 Der Kaufbrief des Lebens ist nicht vom Menschen geschrieben worden. Sein Inhalt betrifft ihn unmittelbar und ist doch etwas von ihm Verschiedenes.
L’homme n’est-il que la poche fourre-tout d’un inconnu postnommé dieu? Pressenti, jamais touché? Tyran et capricieux?5
Char und Huchel machen deutlich, in welchem Maße eine metaphysisch ernste Dichtkunst von dem bewegt wird, was Ernst Robert Curtius als den „Grundkonflikt des Geistes“ bezeichnet. Diesen Grundkonflikt sieht Curtius im Sündenfall als Urschuld, welche die reine Idee in das Sein hinabziehe und Weltwerdung verursache.6 Das eigentliche Problem dieses Grundkonflikts enthüllt sich für den Menschen im Paradox der Erkenntnis des Nicht-Wissen-Könnens. Diese Erkenntnis führt Schmerz mit sich:
(…) Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.7
Durch sein Zuviel an Wissen, durch den Hinzugewinn der Erkenntnis, ist der Mensch aus der Ordnung herausgefallen.8 Es stellt sich die Frage, wo der Ort des Menschen nach dem Sündenfall anzusiedeln ist. Char und Huchel versuchen in ihren Dichtungen diesen Ort ausfindig zu machen, sich ihm anzunähern.
Soupçonnons que la poésie soit une situation entre les alliages de la vie, l’approche de la douleur. (…) (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 843)
Im Garten Eden gab es vermutlich keinen Bedarf für Bücher oder Kunst. Was danach unerläßlich war, hat die Dringlichkeit eines großen Schmerzes vermittelt. Es geschah angesichts des Todes (…), daß abendländisches Bewußtsein seine Vergegenwärtigungen von Liebe (…) gesprochen, gesungen hat.9
Das Wissen um den eigenen Tod und die Erwartung seines Kommens finden bei Char und Huchel Eingang im Gedicht:
(…) die Todesangst
wie stechendes Salz ins Fleisch gelegt. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 235)
Dieses Wissen gehört als tragischste Konsequenz zum Grundkonflikt des Menschen:
(…) der Tod wird kommen
mit Pferdehufen, endlos
über die Steppenhügel (…) (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 230)
Es schafft einen unhaltbaren Zustand.10
A l’idée de la mort, dont on ne se blase jamais, une flambée d’adrénaline vide le cœur et le cerveau (…) nous somme incapable d’intégrer la mort à notre amalgame, elle est inalliable.11
Der Ägyptologe J. Assmann bezeichnet das Wissen um Sterben und Tod als Kulturgenerator ersten Ranges.12
Nous n’avons qu’une ressource avec la mort: faire de L’art avant elle. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 413)
Im Leben einen Tod zu haben, erscheint als unannehmbare Perspektive, gegen die jede Widersetzlichkeit zudem zwecklos ist.
Ne te plains pas de vivre plus près de la mort que les mortels. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 333)
Der Dichter lebt auf Tuchfühlung zum Tod und lässt die menschliche Unsterblichkeitssehnsucht Form werden.
Faire un poème, c’est prendre possession d’un au-delà nuptial qui se trouve bien dans cette vie, très rattaché à elle, et cependant à proximité des urnes de la mort. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 409)
Berührt vom Pathos der Ewigkeit geht der Mensch in seinem Gewand, das aus Sterblichkeit gemacht ist.
L’infini irrésolu et imcompris: un tout établi, accédant et n’accédant pas, comme la mort, comme un ailleurs qu’à l’air captif un feu récite.
Le temps est proche où ce qui sut demeurer inexplicable pourra seul nous requérir. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 447)
Der Tod bleibt, auch im Zeitalter von Wissenschaft und Technik, Urproblem des Menschen. Er verletzt die Ordnung des Lebens.13 Er ist dem Menschen, wie die Unendlichkeit auch ein durchscheinender Anwesender, vom Standort des Lebens aus nicht ins Aug; zu fassen.
Une vue panoramique où l’imagination de la mort serait accordée nue et sans suffocation. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 494)
Durch die Person des Menschen tönt der Tod.
Homme aux mille touchers, aux couteaux en roue de paon. Homme jovialement cruel et terrorisé. Homme de toujours aux mains et aux pieds de gisant. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 754)
Das Wissen um das eigene Sterben lässt den Menschen vor sich selbst als verzerrtes Wesen erscheinen. Char spricht vom furchtbaren Hermetismus. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S 162)
Mourir, ce n’est jamais que contraindre sa conscience, au moment même où elle s’abolit, à prendre congé de quelques quartier physiques actifs au somnolents d’un corps qui nous fut passablement étranger puisque sa connaissance ne nous vint qu’au travers d’expédients mesquins et sporadiques. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 61f.)
Nur über die Funktionseinheit des Körpers kann der Mensch Verbindung zu den Geheimnissen seiner Umgebung aufnehmen. Sein Leben bleibt an diese Funktionseinheit gebunden. Diese Situation erscheint schließlich als (unverschuldete) Gefangenschaft, ja als schmerzliche Isolation im Zustand des Nicht-Wissen-Könnens. Dieser wird in der dichterischen Position eklatant, den Huchel verzweifelt reflektiert:
UNTER DER BLANKEN HACKE DES MONDES
werde ich streben,
ohne das Alphabet der Blitze
gelernt zu haben
(…)
Im Wasserzeichen der Nacht
die Kindheit der Mythen,
nicht zu entziffern.
Unwissend
stürz ich hinab,
zu den Knochen der Füchse geworfen. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 211)
Nicht der Mythos,14 sondern die Kindheit, der Ursprung, der Entstehungsgrund, sind dem Dichter unlesbar. Er konnte die in der archaischen Bildhaftigkeit des Mythos verborgenen Antriebskräfte des Lebens und des Todes nicht enthüllen. Das Geworfensein zu den sterblichen Überresten der potentiell hilfreichen Füchse besiegelt seine Unwissenheit. „Je n’ai pas vu d’étolle s’allumer au front de ceux qui allaient mourir“ (…) (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 226), notiert Char aus dem Maquis, der Notzeit der Résistance. Der Tod gibt dem Menschen wenig Zeichen.
Wir leben im Jahrhundert der Wissenschaft und nicht mehr im vorausgegangenen der Fortschrittsgläubigkeit, in dem die Wissenschaftler noch annehmen konnten, die Welt mittels Instrumenten und Zahlen zu erkennen (…). Einzig der meßbare Teil der Welt, also ein verhältnismäßig kleiner Teil des Ganzen, kann erforscht werden (…). Die Natur bleibt geheimnisvoll. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band II, S. 331f.)
Die Natur, im umfassenden Sinn von Geboren- und Gewordensein, hat ihre Rätselhaftigkeit bewahrt.15 Huchel bewegt dieses letzte Rätsel:
Das letzte Wort
blieb ungesagt,
es schwamm auf dem Rücken der Biber fort.
Keiner weiß das Geheimnis. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 257)
Es scheint, als hätte das letzte, erschöpfende Wort bereits auf der Zunge gelegen, doch es blieb unsagbar, das Schweigen unerhört. In dieser Unerlöstheit erhält das Leben eine Überzeichnung in Hoffnungslosigkeit und Resignation.
Connaissance ineffable du diament désespéré (la vie). (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 175)
Das Schweigen stellt sich gerade dem mit der Sprache vertrauten Dichter entgegen:
(…) jeder, der schreibt, weiß (…), wie schwer es ist, dem Schweigen ein Wort abzuringen. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band II, S. 332)
Im Schweigen hat sich das Geheimnis verabsolutiert. Eine metaphysisch ernste Dichtung nimmt die Herausforderung an, das Schweigen zu bezwingen, das Geheimnis den Bereichen der Unaussprechlichkeit zu entreißen.
Ohne Kunst würde Form ohne Begegnung bleiben und Fremdheit ohne Sprache im Schweigen des Steins16
Der Künstler, der sich nah an die Ränder der Rätselhaftigkeit des Lebens heranwagt, erfährt, dass „jede Rede aus dem Urgrund des Schweigens kommt und sich vor diesem verantworten muss. (…) Große Dichtung ist nur begreifbar in der Dialektik von Reden und Schweigen, von Sagbarem und Unsagbarem“.17
Char und Huchel sind Dichter, die, ganz im Sinne dieser Dialektik, nicht aufhören, das Urproblem des Menschen, den Tod, mit ihrer Sprache zu versuchen.
La mort dans la vie, c’est inalliable, c’est répugnant; la mort avec la mort, c’est approchable, ce n’est rien, un ventre peureux y rampe sans trembler. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 435)
Char bezieht sich hier auf eine Fast-Begegnung mit dem Tod während des Krieges. Er geriet in die lebensbedrohliche Situation, von deutschen Patrouillen verfolgt zu werden. Um ihnen zu entkommen, musste er auf dem Bauch durch einen niedrigen Gang kriechen.18 In der Erinnerung an die Erfahrung der Todesnähe, der Todesangst, versucht er auszumachen, wie sich der Tod anfühlt.
Für beide Dichter wird der Krieg zur angstschweren Zeit der unmittelbaren Begegnung mit dem Tod, dessen Unaussprechlichkeit sie Sprache entgegensetzen.
Tote,
Über die Gleise geschleudert,
den erstickten Schrei
Wie einen Stein am Gaumen. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 141)
Der erstickte Schrei, ein Schrei, der nicht mehr hörbar ist, verbindet sich mit der Auslöschung der akustischen Sinneswahrnehmung im Tod. Gerade darin kann Huchel den unaussprechlichen Schmerz – intentional – hörbar machen. Der Stein am Gaumen macht das Ausmaß des Grauens schlagartig sichtbar. Der versteinerte Schrei verleiht den Toten einen bildnishaften Zug, ein Epitaphhaftes. In der Präsenz des Steins wird die emotionale Versteinerung im Todesschrecken deutlich.
Ein schwarzes
Summendes Tuch aus Fliegen
Schloß ihre Wunden. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 141)
Der Toten Leichentuch ist aus Fliegen gewebt.19
C’est à quelques pas de là que son sang a coulé, au pied d’un vieux mûrier, sourd de taut l’épaisseur de son écorce. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 210)
Auch hier wird die akustische Seite der Ertaubung, das Erstarren in Fühllosigkeit angesichts des Todes ins Blickfeld gerückt. In Korrespondenz zum Fuß eines alten Maulbeerbaums beginnt das Lebendige des verströmten Blutes zu lodern. Die Undurchdringlichkeit der Baumrinde kann im vertikalen Gestus des Baumes den betäubenden, den taubmachenden Schmerz über dem Menschen durch den Menschen zugefügte Gewalt und Tod sichtbar machen. Den Scherz einer Frau, die ihren Lebenspartner im Krieg verlorenen hat, fasst Char in Élements in unglaublich leichte, beinahe schwebende Worte:
Cette femme à l’écart de l’affluence de la rue tenait son enfant dans ses bras comme un volcan à demi consumé tient son cratère. Les mots qu’elle lui coufiait parcouraient lentement sa tête avant de trouver la léthargie de sa bauche. Il émanait de ses deux êtres, dont l’un ne pesait guère moins que la coque d’une étoile, un épuisement obscur qui bientôt ne se raidirait plus et glisserait dans la dissolution, cette terminaison précoce des misérables. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 137f.)
In den Elementen finden sich die einfachsten Bestandteile aller sichtbaren Dinge. Der Zusammenhang zwischen Zusammenfügung oder Trennung der Elemente und dem Werden und Vergehen der Körperwelt20 hat bis heute seinen Platz im menschlichen Denken bewahrt. Die Elemente verankern den Menschen mit dem Leben. Im Schnittpunkt von Feuer, Wasser, Luft und Erde, unter dem Einfluss der Planeten ist der lebendige Mensch Mikrokosmos. Sein Tod hebt ihn aus diesem Bedeutungsrahmen heraus, das Spannungsfeld erlischt.
Mit einer Utopie der Gewichtslosigkeit versuchen beide Dichter, sich der Unfassbarkeit des Todes zu nähern.
Kein Königreich,
Ophelia,
wo ein Schrei
das Wasser höhlt,
ein Zauber
die Kugel
am Weidenblatt zersplittern läßt. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 175)
Die Utopie, die Kugel sei so leicht, dass das Weidenblatt zum Widerstand werden könnte, um zu verhindern, dass sie die Fliehende trifft,21 wird zur Komplementär-Aporie des Todes. Auch Char arbeitet in dieser Weise mit der Vorstellung von Gewichtlosigkeit:
Il est tombé comme s’il ne distinguait pas ses bourreaux et si léger, il m’a semblé, que le moindre souffle de vent eût dû le soulever de terre. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 208)
Der Übergang vom Leben zum Tod ist für die Außenstehenden nicht nachvollziehbar und erscheint darin als nicht real. Die Zartheit des geringsten Hauchs erfasst die scheinbar gegen Unendlich gehende Winzigkeit des Augenblicks, in welchem an die Stelle des Lebens der Tod tritt. Die Faktizität des Todes und das mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stehende Verhältnis zu Zeit und Vergänglichkeit stellen eine Dichtung mit metaphysischem Ernst immer wieder auf die Probe. „Es ist das Dichterische in vollem Sinne, (…) das (…) die Mitteilungslosigkeit unserer Begegnung mit dem Tod zu erhellen“ sucht.22 So etwa wenn Char den Tod des Dichters und Freundes A. Camus im Prosagedicht „L’éternité à Lourmarin“ betrauert:
Pourtant cet être supprimé se tient dans quelque chose de rigide, de désert, d’essentiel en nous, où nos millénaire ensemble font juste l’épaisseur d’une paupière tirée. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 412)
Die irrationale Zeitverschiebung, die auf den Verlust deutet, das Bild, dass sich hinter den für immer geschlossenen Augenlidern die Ewigkeit bündelt, sind der Versuch, in das dunkle Geheimnis des Todes einzudringen, den Tod kommunikabel zu machen.
Mais seulement quand le passé qui signifie s’ouvre pour lui livrer passage. Le voici à notre hauteur, puis loin, devant. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 412)
Der Eindruck, die Vergangenheit leuchte noch in der Gegenwart auf, bliebe noch in ihr verfügbar, wird am Faktum des Todes zur Illusion, die Vorstellung, die Vergangenheit bilde mit der Gegenwart und der Zukunft ein untrennbares Ganzes (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band II, S. 330). Die Nähe der Bilder, die beide Dichter finden, ist erstaunlich: „Jede Stunde geht durch dein Herz / Und die letzte tötet“. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 118). – „Nombreuses fois, nombre de fois, / L’homme s’endort, son corps l’éveille; / Puis une fois, rien qu’une fois, / L’homme s’endort et perd son corps“. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 387). Die Vorstellung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seien drei in ein und derselben Welle badende Seiten,23 macht schließlich den Wunsch deutlich, den Schmerz echter Abschiede zu überwinden.
La nuit où la mort nous recevra sera plane et sans tare; le peu de sirocco autrefois réparti par les dieux devenant un souffle frais, distinct, de celui qui, le premier, était éclos de nous. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 448)
Der eigene Tod wird lakonisch eingefasst in einen vom Leben vermeintlich ununterscheidbaren Augenblick des Aufhörens. Durch das Leben scheint schon der Tod hindurch:
Der Hauch der Welt, so leicht verwundbar? (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 129)
Im Gedicht „Chiesa Del Soccorso“ (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 121) drückt Huchel den Schmerz aus, den die Erfahrung von Vergänglichkeit und Verlust auslöst:
Odem der salzigen Brandung,
Erquicke die Seelen,
Salzige Fluten, wascht weiß
Das Fischschuppenhemd der Toten.
(…)
Salzige Brandung,
Bist du das letzte
Erstarrte Bild,
Das aus den Augen der Toten
Die Fische fraßen mit sanftem Maul?
(…)
Auf blauem Grund
Treibt still das Schiff,
Beladen
Mit dem Gold der Ferne.
Es ließ den Anker des Todes zurück.
Der Text erscheint bis in seine metrische Struktur wie ein Requiem24 auf die für den Dichter Huchel verlorene Landschaft des Südens, die er 1958 zum letzten Mal vor dem Bau der Mauer gesehen hatte.25 Sie kann nur noch in der Erinnerung vergegenwärtigt werden. Die Ferne ist sowohl lokal als auch temporal deutbar. Die kosmischen Farben Blau und Gold heben das Schiff auf die surreale Ebene der Erinnerung, die das Leben als eine ständig in die Vergangenheit hinein sterbende Gegenwart bewusst macht. In der Erinnerung wird das Leben sublimiert, zugleich entfremdet. Der Anker des Todes blieb. Jenseits der Verhältnisse von Vergänglichkeit und Sterblichkeit treibt nun das Schiff im Gedächtnis.
Schlafgraues Netz,
Noch einmal zog es durch ihr Leben
Und durch die Stille hoher Wasser.
Es riß das algenbefranste Tau. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 121)
Im Bild des Einfangens und Sammelns symbolisiert das Netz das eingefasste Leben:
Nous ne pouvons vivre que dans l’entrouvert (…) (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 411). Am schlafgrauen Morgen, wo Traum und Tag sich scheiden, „dans l’entrouvert, exactement sur la ligne hermétique de partage de l’ombre et de la lumière“ (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 411), kann das Netz die Bedeutung einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Unterbewusstsein26 ausdrücken. Doch es entglitt ins Offene. Das Tau riss, der Halt ging verloren. Das Schiff, mit dem Gold der Ferne beladen, symbolisiert die entgrenzende Begegnung mit dem eigenen Selbst, den mikrokosmischen Verhältnissen eines Menschenlebens; es treibt ohne den Menschen weiter, der Mensch kam bei dieser Begegnung zu Tode.
(…) Nicolas de Staël, nous laissant entrevoir son bateau imprécis et bleu, repartit pour les mers froides, celles dont il d’était approché, enfant de l’étoile polaire. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 514)
Im Musée Picasso in Antibes hängen die Bilder „Bateaux“ und „Marine“ von de Staël. De Staël kam im Oktober 1954 nach Antibes. Im Sommer 1955 nahm er sich dort das Leben. Während seines Aufenthaltes malte er „des paysages avec un blanche lumière hivernale“.27 Zu diesen Landschaften zählen auch „Bateaux“ und „Marine“; beide Bilder thematisieren Schiffe in nebulösen, schwer hingesetzten Konturen. Sie strahlen lebensverzehrenden Schmerz aus.
La Côte d’Azur n’est pas toujours éclatante de soleil. Elle peut devenir par vent d’est ou grisaille hivernale un lieu désolé et vide, dans une atmosphère de station balnéaire abandonée. Un ciel bas sur la mer, aux gris changeants, une lumière orageuse sur le Fort Carré, c’est ce que Nicolas de Staël a souvent contemplé depuis son antelier sur les remparts, car durant les cinq mois de travail épuisant et solitaire passés à Antibes, il n’aura quasiment vu que l’hiver. Ce sont ces éclairages qu’il semble avoir choisis entre tous pour les intérioriser, en jeter sur la toile toute la charge de tristesse ou d’angoisse contenue, entremêlée à sa propre désolation, lui qui voyait dans la mer à Antibes un ,tombeau solaire‘.28
Die durch Kunst ermöglichte Begegnung mit der Ewigkeit und der Vollkommenheit, in Huchels Gedicht „Chiesa Del Soccorso“ (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 121) im Gold der Ferne versinnbildlicht, führt ein Übermaß an Licht – oder an mers froides – mit sich, das für den Menschen in einer Verfassung aus Angst und Trauer zur Lebensbedrohung werden kann. In der bestürzenden Hilflosigkeit angesichts dieses Übermaßes an Öffnung kann Kunst apokalyptische Züge annehmen:
Am Ahornhügel
Stürzt der Engel
Ins Feuer der Mittagsdistel.
Die Tenne der Worte ist leer.
Es blickt dich das Land
Mit den Augen
Der Toten an.
Der Abend
Füllt
Die Sümpfe
Mit brennendem Teer. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 313)
Die der Sprachkrise des Dichters geltende endzeitliche Verzweiflung, die aus dem 1968 auf tschechisch erstveröffentlichten Gedicht „Am Ahornhügel“29 spricht, berührt zugleich eine existentielle Schicht. Die zentrale Aussage des Gedichts – die Tenne der Worte ist leer – nennt den Grund für die Verzweiflung. Der Satz weist in doppeltem Sinn auf eine Verweigerung von Sprache. Es können keine Worte mehr gefunden werden, weil ihr Ort, die Tenne, leer ist, und würden Worte gefunden, wären sie leer, hätten sie keinen Sinn mehr. Ähnlich der Situation, wie sie Hugo von Hofmannsthal im Chandos-Brief beschreibt, greifen die Worte der eigenen dichterischen Sprache nicht mehr. Der mittägliche Sturz des Engels macht die existentielle Tragweite der Situation deutlich. Retten könnte, wie bei Hofmannsthal, eine Sprache, die diesen existentiellen Belangen gewachsen wäre, „eine Sprache (so Lord Chandos), von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe, vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.“30
Für beide Dichter bedeutet die Poesie eine ernste und vornehme Sache,31 die einer dekorativen Kunst entgegensteht.32 Sie ist „élection exhortée“ (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 843), „Vorrat von harten Kernen verdichteten Lebens“ (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band I, S. 255). In ihrem Ernst stehen beide Dichter Hölderlin nahe.33
Es ist die luzide Intensität der Begegnung mit dem Tod (…), die ernstes Denken und Empfinden vom Trivialen und Opportunistischen unterscheidet.34
Der Versuch, das Sinnbedürfnis angesichts des Todes zu befriedigen, weist diese Dichtkunst als eine lebensnotwendige Poetik des Menschlichen35 aus und bestätigt darin auch deren ethische Authentizität: „La seule liberté le seul état de liberté que j’ai éprouvé sans réserve, C’est dans la poésie (…) (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995, S. 841). – Gute Gedichte bestehen für sich wie ein Stein oder ein Baum oder ein Stern. (Peter Huchel: Gesammelte Werke, Band II, S. 371). Die über die Vertikale von Stein-Baum-Stern in den Himmel aufsteigenden Gedichte bleiben, sie überleben den Dichter und haben darin einen Funken Ewigkeit erlangt:
La poésie me volera ma mort. (René Char: œuvres complètes, 1983 und 1995 S. 378)36
Die erstaunlichen Parallelen in den unabhängig von einander entstandenen Werken Peter Huchels (1903–1981) und René Chars (1907–1988) legen die Synopse beider Dichter im Rahmen eines strukturellen Vergleichs nahe. Ihre Zeitgenossenschaft im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Zerrissenheit zwischen höchstem Grauen in Form einer neuen Dimension zwischenmenschlicher Gewalt und eines in Erlahmung und Hohlheit mündenden äußerlichen und äußersten Wohlstandes, dem Jahrhundert des Schocks industrieller Fühllosigkeit, bildet dabei die primäre und existentielle Basis eines Erfahrungs- und Identifikations-Raumes für die gemeinsame Sprachsituation. Dass beide Dichter in ganz ähnlicher Weise und aus einer ganz ähnlichen Grundhaltung heraus auf die zunächst äußeren, dann aber auch inneren Diskrepanzerfahrungen der Welt reagieren, lässt sich deutlich vor Augen führen.
Gegen die deutsche Besetzung Frankreichs während des 2. Weltkriegs leistete Char als Kämpfer in der Résistance aktiven Widerstand. Die zum Herzstück seines dichterischen Schaffens gehörenden Feuillets d’Hypnos (1943/44) legen Zeugnis ab von der Tiefe des Schreckens und vom Leid, aber auch der Unbeugsamkeit im Kampf um die Freiheit des eigenen Landes. Bei Huchel berichten Kriegsgedichte wie z.B. der Zyklus „Zwölf Nächte“ in Gedichte (1948), „Chausseen“ oder „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“ in Chausseen Chausseen (1963) oder „Der Kundschafter“ im Band Gezählte Tage (1972) von der Erfahrung einer endzeitliche Züge tragenden Zäsur durch die Ereignisse des 2. Weltkriegs. Freiheitliches Denken und politische Unbestechlichkeit kennzeichnen nicht nur Huchels eigene Arbeit als Lyriker, sondern auch seine unmittelbar in die Öffentlichkeit ausstrahlende Tätigkeit als Chefredakteur von Sinn und Form seit 1949. Durch sein rückhaltlos ehrliches Engagement blieb die Zeitschrift, trotz der immer tiefer werdenden politischen Klüfte innerhalb des geteilten Deutschlands, ein wichtiges Sprachrohr für den Literaturbetrieb jenseits der ideologischen Fesseln eines offiziell geforderten sogenannten sozialistischen Realismus in der sich zunehmend abschottenden DDR-Diktatur. Dieses Engagement, für den DDR-Staat von höchster politischer Brisanz, brachte Huchel schließlich 1962 die Zwangssuspendierung von seinem Posten als Chefredakteur und eine achtjährige Isolation in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam ein. Er wurde totgeschwiegen; seine Gedichte verschwanden aus den Lesebüchern der DDR. Sein Spitzel wohnte im Haus schräg gegenüber. Briefe und persönliche Kontakte, besonders von Schriftstellern und Intellektuellen aus dem Westen, wurden überwacht bzw. zurückgehalten und unterbunden. Erst im Jahr 1971 – er hatte das Rentenalter längst erreicht – ließ man ihn, nicht zuletzt Dank der Hilfe von Freunden im Westen, in die Bundesrepublik ausreisen.
Chars Haltung als Dichter und Intellektueller steht Zeit seines Lebens im Zeichen des Protestes gegen die seelische Verödung in einer technikbetonten Wohlstandsgesellschaft im eigenen Land bzw. der gesamten westlichen Welt. Sein kritischer Blick durchschaut die als Fortschritt deklarierte Herrschaft des Menschen über die eigenen naturgegebenen Lebensbedingungen. Er übt öffentlich Kritik, wenn es um den verantwortungslosen Umgang mit der Natur seiner eigenen Heimatlandschaft geht. Mit dem Plakat Aux Riverains de la Sorgue (1959) handelt er sich eine Ordnungsstrafe der Behörden ein. 1965 schließt er sich den Protesten gegen die Installierung von Atomraketen in der Oberen Provençe an und nimmt aktiv an öffentlichen Kundgebungen teil. Im Zentrum seiner Kritik steht schließlich immer wieder eine Poesiefeindlichkeit, wie sie in seinen Augen für die naturwissenschaftlich geprägte moderne Wohlstandsgesellschaft kennzeichnend ist.
Beide Dichter verbindet eine gleichermaßen intensive und ungewöhnliche Beziehung zur Natur, besonders zur eigenen Heimatlandschaft. Char bleibt seinem Geburtsort Isle sur Sorgue ein Leben lang verbunden. Von Paris aus kehrt er immer wieder in die provençalische Landschaft und in das Haus in Les Busclats am Rand von Isle sur Sorgue zurück, um dort zu leben und zu arbeiten. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Isle sur Sorgue. Bei Huchel erscheint die Verbundenheit zur märkischen Heimatlandschaft noch extremer. Bis zu seiner Ausreise 1971 lebt er beinahe ausschließlich im näheren Umkreis zwischen Potsdam und Berlin. Geboren in Groß-Lichterfelde bei Berlin, aufgewachsen bei den Großeltern in Alt-Langerwisch bei Potsdam, lebt er nach dem Krieg von 1950 bis 1971 schließlich im Haus Hubertusweg 43–45 in Wilhelmshorst bei Potsdam. Auf Char und Huchel trifft in gleicher Weise zu, dass ihre Dichtung ohne diese besondere Beziehung nicht nur zur Natur schlechthin, sondern vielmehr zur spezifischen Heimatlandschaft nicht das wäre, was sie ist. Nichtsdestoweniger geht bei beiden die häufig als Vorwurf vorgetragene Bestimmung als Naturlyriker weitgehend fehl. Die Natur als Heimatlandschaft führt zu den Anfängen poetischer Gültigkeiten der eigenen dichterischen Identität. Ihr gilt das Engagement des Dichters, der sie gegen die Bedrohung durch den Fortschritt, gegen Raubbau und Zerstörung durch die moderne Gesellschaft zu schützen sucht. In diesem Rahmen wird auch sie Teil eines dichterischen Gegenentwurfs als Reaktion auf konkrete gesellschaftliche Diskrepanzerfahrungen. Huchels Ausreise in den Westen im Jahr 1971 erhält vor diesem Hintergrund tragische Züge. Sie belegt den unerträglich großen politischen Druck, unter dem Huchel in den acht Jahren leiden musste und der ihm schließlich keine andere Wahl ließ, als diese Landschaft zu verlassen. In Staufen im Breisgau lebte Huchel bis zu seinem Tod 1981.
Das Interesse der vorliegenden vergleichenden Untersuchung gilt einer über das rein poetische Anliegen hinausreichenden Perspektive. Die Frage stellt sich, ob Dichtung des 20. Jahrhunderts noch jenseits moderner und postmoderner Standpunkte, fern eines in Selbstreferentialität verharrenden l’art pour l’art oder einer von Sinnfindungsinteressen losgesprochenen Experimentier-Kunst als ontologisch relevant und darin existentiell notwendig angesehen werden kann. Sowohl für Huchel als auch für Char enthüllt sich Dichtung als Instrument der Weltdeutung. Ihr ontologisches Vermögen trifft den Menschen in seinen tiefsten, ursprünglichen Verankerungen:
Aber die Sehnsucht nach dem Zusammenhang der Menschen und Geister, das Verlangen nach Weltdeutung und Gewißheit, ein eigentlich religiöses Verlangen, ist geblieben. (…)37
Das tertium comparationis einer auf dieses religiöse Verlangen zielenden Untersuchung sei in folgender These umrissen: Die Bilder einer Ästhetik der Gegen-Schöpfung in den Dichtungen René Chars und Peter Huchels berühren Schichten, in denen das Religiöse angesiedelt ist.
Insofern versteht sich die vorliegende Untersuchung zur Bildersprache Huchels und Chars als Annäherung an die im Metaphysisch-Transzendenten angesiedelten Hintergründe im Werk beider Autoren. Im Lichte dieser eschatologischen Fragestellung mag in der ästhetischen Erscheinungsweise des Sprachkunstwerks, seiner Bild- und Symbolbezüge eine existentielle Tiefenschicht sichtbar werden, die sich gegen die diesseitige Rationalität der entzauberten modernen Welt zu stellen sucht. Dies markiert einen durchaus ethischen Standort, der „die Ernsthaftigkeit von Seele und Geist garantiert“.38
Im Rahmen dieser Zielsetzung dient der „metaphysische Ernst“39 als kleinste Einheit einer noch transzendenzorientierten conditio beider Poeten. Mit Hilfe des Begriffs von W. Gössmann kann eine ins Transzendente reichende Dichtung als lebensbezogene, die existentiellen Belange des menschlichen Lebens treffende erfasst werden, die sich, allerdings nicht im Sinne eines bloßen Aufgreifens des politischen Tagesgeschehens – das jedoch oft zum Katalysator wird – den höchsten, ernstesten und kompliziertesten Fragen innerhalb des Seins und der menschlichen Existenz stellt. Der metaphysische Ernst bestimmt eine Dichtung, die sich jenseits gesinnungsästhetischer Muster verantwortet, über das explizit Politische von Kunst einerseits wie über das Spielerische andererseits hinausweist. Das Reichen ins Transzendente von Kunst kann dabei als Konsequenz eines ontologischen Fragens erkannt werden. Die Authentizität einer metaphysisch ernsten Dichtung wird in der Dringlichkeit ihres ontologischen Interesses nachprüfbar. Diesen Zusammenhang bezeichnet auch G. Steiner. Sein synonym lautender Begriff des „hohen Ernstes“40 steht für eine Kunstausübung, die die existentiellen Gültigkeiten menschlichen Lebens an den Schnittstellen von Geborenwerden und Sterben berührt. Das Ewigkeitspotential von Kunst – es ist die Gewissheit, dass gültige Kunst ihren Autor überlebt – gibt Auskunft über die Verfassung des Künstlers, indem es ihn mit dem Ernst seiner Zeitlichkeit konfrontiert.
Ein ,hoher Ernst‘ des Fragens und der Immaterialität (…) wohnt dem inne, was wir in den Akten der Kunst und in unseren Deutungen dieser als bleibend erkennen.41
Auch Karl-Josef Kuschels Interesse gilt diesem Ernst. Auch für ihn steht er im Zusammenhang mit der Haltung der Dringlichkeit eines Fragens, das durch die Unsicherheit und ein letztliches Nichtwissen verifikationstranszendenter Inhalte bestimmt wird. Er spricht vom „existentiellen Ernst“42 einer Dichtkunst, „der man ihr Bedrohtsein anmerkt, ihre Risikobereitschaft, ihre Besitzlosigkeit, ihr Auf-dem-Weg-Sein (…)“.43 Sie drücke sich in einer vibrierenden Sprache44 aus. Die beeindruckende Sinnverwandtschaft der drei Begriffe45 mag als Verweis auf die Gültigkeit eines übergreifenden Problemhorizonts gelten. Insofern steht der Ernst auch für eine Legitimation von Kunst und deren Ausübung. Der metaphysische Ernst liegt daher der Untersuchung gleichsam leitmotivisch zugrunde.
Katrin Bibiella, Vorwort
Einleitung
I Dichtung in den Koordinaten eschatologischer Fragestellung
I.1 Gegenschöpfung
I.2 Der metaphysische Ernst bei Peter Huchel und René Char
I.3 Rückgriff auf den Mythos
I.3.1 Hiob
I.3.2 Odysseus und Orion
II Der Resonanzraum der Wörter und Bilder
III Modernes Dichtertum und religiöse Metaphorik
III.1 Christus und Engel
III.2 Die Dialektik des Unglaubens
IV Die Ästhetik der Gegen-Schöpfung
IV.1 Kindheit und Natur
IV.2 Die Epiphanie des Sprachkunstwerks
IV.3 Der Dichter, Nach-Schöpfer und das Geheimnis des Formens der Form
Literaturverzeichnis
Entgegen literaturtheoretischer Konzepte der Moderne und Postmoderne steht es, mit George Steiner, für die reale Gegenwart der Andersheit, die in künstlerischem Schaffen einen kunstexternen Sinn bejaht. In der Selbstbefragung und Selbsterfahrung des Dichters während seiner schöpferischen Arbeit kann die ontologische Dringlichkeit sichtbar werden, das Andere, Fremde einer vorgefundenen Welt in den lichterfüllten Hinterhalt von Darstellung und Verstehen zu ziehen (Steiner).
Im Zentrum des Interesses steht dabei das Wesen der Inspiration, die zum Augenblick komprimierte Epiphanie des Sprachkunstwerkes, die den Dichter-Bildner zum Empfangenden eines Ausdrucks von Bedeutungen werden lässt, deren Sinn ihn übersteigen. Sie kennzeichnet den großen unabschließbaren Antagonismus einer Bewegung zwischen Autonomie und Abhängigkeit als Wesenszug der conditio des schöpferischen, Geschöpfes Mensch.
Dichten erhält vor diesem Hintergrund den Stellenwert einer gegenschöpferischen Reaktualisierung von Welt. In ihr schwingt die Vorstellung vom Menschen als Bild Gottes mit. Die unter diesem Blickwinkel zu bejahende daseinstiftende Dignität künstlerischen Schaffens begründet zudem dessen ethische Konsistenz.
Dargestellt wird der Ansatz der Kunst als Gegenschöpfung im Rahmen des strukturellen Vergleiches der beiden bedeutenden Dichterpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, René Char und Peter Huchel. Dass das Erscheinen dieses Buches mit dem 100. Geburtstag Peter Huchels zusammenfällt, mag zudem als würdigende Verneigung vor dem metaphysisch ernsten Werk des Dichters gelten.
Gardez! Verlag, Klappentext, 2003
Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973
Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973
Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973
Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973
hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973
Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981
Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981
Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981
Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981
Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981
Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981
Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981
Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981
Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981
Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981
Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984
Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991
Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003
Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003
Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003
Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003
Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003
Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003
Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003
Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003
Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003
Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002
Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
Manuskript
Horst Wernicke: Zorn und Geheimnis
Die Furche, 31.5.2007
René Char: Prometheus und Steinbrech zugleich gelesen von Bruno Ganz.
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