Kerstin Hensel: Zu Karl Mickels Gedicht „Der Abend“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karl Mickels Gedicht „Der Abend“ aus Karl Mickel: Schriften 1: Gedichte 1957–1974. –

 

 

 

 

KARL MICKEL

Der Abend

Die starke Sonne schwächt die Helligkeit
Mit feuchter Schwere teilt sie ihre Glut
Die steigt und schwebt und trägt in Sonderheit
In halber Höhe mißgeschaffne Brut
Die um die Köpfe wie um Sonnen streicht
Im Gleichbild plagend die Erzeugerin
Die unterdes sich hinter Bäume schleicht
Auch fauchen kalte Lüfte an ihr hin
Und fahle Lichter aus dem Wechselbalg
Umkreisen, das wir hüten, dieses Haus
Die Brut verkriecht sich zwischen Stein und Kalk
Im Aug des Wetters bricht das Dunkel aus

 

Die Sonne hat nichts mehr zu bestellen

Das Gedicht ist 1967 in der DDR geschrieben worden. Kurz nach dem 11. „Kahlschlag“-Plenum des ZK der SED, in dem die Verdammung der Künste und des kritischen Denkens erfolgte. Karl Mickel (1935 bis 2000) war einer jener vor politischen Wächtern in Ungnade gefallenen Dichter, die dem herrschenden System durch poetische Analyse Vergänglichkeit voraussagten. Da das Gedicht groß gedacht ist, reicht es in jede, auch in unsere Zeit hinein.
Zunächst aber lesen wir ein Naturgedicht. Natur bedeutet immer Gesellschaft. „Der Abend“ ist demnach nicht nur eine Tageszeit oder privater Dämmerzustand, sondern weist auf historisches Befinden hin.
Schon der erste Vers führt in ein Gedicht, das, trotz der harmonisch-liedhaften Form, fern romantischer Sonnenuntergangsstimmung ist: Der Widerspruch einer „starken Sonne“, die die „Helligkeit schwächt“, deutet kommendes Unheil an. Die Sonne als vieldeutiges Symbol: das Chefgestirn, ausgestattet mit blendender Macht und Energie, aber auch Gott im Himmel. Das Göttliche wiederum gilt im Sinne der Klassiker als das wahrhaft Schöpferische. Die untergehende Sonne des Mickelschen Gedichtes, als „starke Idee“ gelesen, die sich wie der Sozialismus im eigenen Feuer verzehrte.
In Vers zwei teilt sie ihre Glut (Macht) mit „feuchter Schwere“. Die fast interpunktionslosen gereimten Jamben assoziieren Brutwärme, den Leser überfällt Atemnot. Nun hat die „geteilte“ Sonne Energie an ihre „mißgeschaffne Brut“ abgegeben, die sie dennoch nur in „halber Höhe“ devot umschweben kann – diese von Feigheit, Dummheit und Machtgier besessenen Kleingeister, die sich als „Gleichbild“ der Großen dünken! Es geht auf die Nacht (das Ende) zu. Des Tages helle Idee eines besseren Lebens schwindet mehr und mehr. Die Sonne muß sich „hinter Bäume schleichen“, unmajestätisch, gekränkt vom Anblick der dumpf schimmernden Vasallen, die sie selbst geschaffen hat.
Die Nacht bringt „kalte Lüfte“: Der „kalte Krieg“ erreicht kosmische Dimensionen. Inzwischen sind es nur noch „fahle Lichter“, die, der Mißgeburt entsprungen, am Himmel erscheinen. Sie „umkreisen das Haus“, aber jetzt tritt, in einem einzigen Vers, durch zwei Kommata gebremst, das WIR als lebendige Kraft dem schicksalhaften Lauf der Dinge entgegen. Das Haus (die Utopie) wird „gehütet“. Das Unheil ist den Bewohnern also bekannt. Aber wird das Haus dem Kleinlich-Gemeinen widerstehen?
Der vorletzte Vers sagt, was der Dichter voraussah: Das Mißgestaltete (Mißgedachte) hat das Haus wie Mauerschwamm besetzt. Es droht zusammenzustürzen. Der Tag ist hin, die Zukunft das „Dunkel“, die verlorene Hoffnung auf Vernunft und Erkenntnis. Das Kyklopenauge der Nacht hat die Sonne abgelöst. Es bestimmt jetzt, wie das Wetter wird: katastrophal. Die Sonne, im Osten aufgegangen, mutiert zum Weltenrichter, der nichts mehr zu bestellen hat. Die Nacht beweist sich als Geschöpf des Chaos, des ungeordneten Urzustandes der Welt. In diesem Gedicht wird sie zur provozierenden Weltuntergangsmetapher.
Man lese das Gedicht nicht plump politisch. Es sind verzweifelte, aber kühl konstatierende Verse eines illusionslosen jungen Mannes, der, wenn er vom Wetter sprach, immer die Welt meinte.

Kerstin Henselaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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