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keiner entkommt.
jeder predigt löcher
größer als luft.
keiner schafft
unbemerkt seinen gold
brocken bis ins
schlafzimmer. Aus
lauter traum sprengt
alles jetzt davon
und springt dir mitten
ins gesicht. Nur
abwesenheit bombt
die illusion in
die vollendung.
den entschluß, dichter zu werden, fallen zu lassen, blätterte ich das gesammelte jugendwerk eines ex-„konkurrenten“ durch und stieß auf die widmung eines freundes der freundin: „Hart wie Mozart, dergestalt von e für c“. und ich dachte: mann oh mann. dann sprach ich mit einem inzwischen westberliner gewordenen freund am telefon (wie auch sonst) zum beispiel über die schallplatten kiev stingls „Hart wie Mozart“. es ist eben auch ein, und zwar nicht nebensächlicher, aspekt von literatur. der freund brachte mir auch den ersten band mit gedichten des damals noch vierzigjährigen, noch-hamburgers in den völlig unpathetisch toten wald auf die tschechische und südseite des erzgebirges mit, wo wir uns halbjährlich unter dramatischen himmeln trafen.
’86, jetzt auch ich in westberlin: der beigefarbene, dezent kariert vom schal gekrönt, wesenhafte unsicherheit aus illusionslosigkeit maskierende, weitausholende schritt durch die flügeltür eines jeweiligen stammcafés ab mittag…
… das alles soll nur heißen: ich bin froh, kiev stingl mit dem buch „keiner maria cowboy“ im druckhaus galrev zu sehen; dem odischen ton dieses dichters ausgesetzt zu sein, und ihm ab und zu zwischen „Auf der Pirsch im Grunewald“ und „FC St. Pauli zu Gast bei Inter Mailand“, zu begegnen.
derart, von s für k
Druckhaus Galrev, Ankündigung, 1993
Kiev Stingl war einmal Schauspieler, der in Gibbi Westgermany die fast stumme Rolle des Freundes der Mutter mimte. Kiev Stingl war einmal ein Sänger, der uns Hart wie Mozart vor seiner vorübergehenden Zivilisationsflucht 181 nach Madagaskar ein Abschiedsgeschenk überreichte: Ich wüsch‘ den Deutschen alles Gute. Kiev Stingl war einmal ein Schriftsteller, der persönliche New-Wave-Exzesse und dichterischen Radikalismus in Büchern wie Flacker in der Pfote (1979) und Die besoffene Schlägerei (1984) verarbeitete. Kiev Stingl ist heutzutage ein Poet, der Oden und Sonette in den Mittelpunkt seiner Literaturarbeit stellt, eine fast ausgestorbene Form, zumindest eine wenig gepflegte und beachtete.
Er hat seine Schuhe und seine Sonnenbrillen fotografiert und die Ergebnisse zwischen Texte platziert. Texte, die sobald die heiligen Kühe der Literatur geschlachtet sind, sich als reine und erhabene Poesie unters (übers?) Volk bringen lassen. Wenn die Sprache so vor sich hinrostet, wie wir es heute beobachten (können), wenn aus dem Sprechorgan nur noch Sprechblasen herausfallen, dann muß ein Dichter von der Statur eines Kiev Stingl die Verhältnisse wieder zurechtrücken. Das hat er mit seinem Buch Keiner Maria Cowboy, das bereits 1991 erscheinen sollte, geleistet, unorthodox und in die Sprache verliebt.
Die überwiegend reimlose Lyrik, kraftvoll im Ausdruck und direkt auf die (wunden) Punkte gebracht, widerspricht jedem zeitgeistigen Trend; sie schlägt ihm ins medienwirksame Antlitz. Gerade heute, da das anachronistische Denken einem Zeit- und Zweckmäßigkeitsgebot weichen muß und das Wort Experiment (mit allen zur Verfügung stehenden ökonomischen Gründen) winzig klein geschrieben wird, zeigt Stingl den Mut zur Utopie. Der allgemeinen Oberflächlichkeit setzt er einen tiefgründigen, die ganze Breite und Musikalität der Sprache beanspruchenden, ballastfreien Wahrnehmungsstandpunkt entgegen.
Vermischt mit den derben Wörtern der Liebes- und Sexualsprache treibt Stingl die freie Rhythmik der Wörter voran, und es ist kaum ein Innehalten spürbar. Der Flut der aus dem Dichterkopf herauskommenden Wörter stellt Stingl kein anpassungsfähiges Regulativ in den Weg. Das ist gut so, denn dadurch schafft er einen lyrischen Resonanzboden, der den Leser auf Federn ruhen läßt, der ihm Hilfe für das Abenteuer in Stingls Texten gibt.
Der Welt zugewandt, ohne die bitterböse Sprachausfälle der Vergangenheit zu beschwören, leistet Kiev Stingl mit seinen zeitlosen Oden und Sonetten Aufklärungsarbeit für eine bessere Sicht auf die Innenwelten des Einzelne. In diesen Situationen ist spürbar, daß er nicht den wie auch immer Übergeordneten Mächten huldigt, sondern den starken und schwachen, den glücklichen und hilflosen Geschöpfen. Aus seinen Texten spricht bei näherer Betrachtung der Menschenfreund, der vorbehaltlos und tolerant hinter die Fassaden blickt, viel Erbrechliches und Zerbrechliches sieht und dennoch nicht alles verloren gibt. Freundschaft zu Rilke, Zuneigung, das besonders: „war mir / aroma / aus der tiefe / eines dunklen / drinks / in einer / aussichtslos / schwarzen nacht / an / einem gestade / außerhalb europas“.
Elegische Eruptionen in der Tradition eines Rainer Maria Rilke und Percy Bysshe Shelley verbindet Stingl mit den sprachlichen Mitteln unseres Zeitalters zu einem Strauß gehobener Dichtkunst und fast orchestraler Klanggestalt. Die umherziehende, an keinem Ort seßhafte Figur des Cowboys, der seine Existenz wie Stingls Odendichterkollege Rilke im 19. Jahrhundert gründete, entpuppt sich als geheimer Wegbegleiter im dichten Dschungel der Sprache. Metaphern galoppieren, und die altertümlichen Schüsse aus der Hüfte finden ihre Analogie im wilden Klang des neuzeitlichen Sonetts. Dieser Rainer Maria Cowboy trägt anstelle des Colts die spitze Feder der Poeten – und „er grast heute mit seinem Automobil die Städte ab, und sein Lasso ist vielleicht seine raffinierte Sprachgeste“ (Stingl)
Klaus Hüber, Jazzthetik, April 1995
führt in seinem jüngsten Gedichtband das konsequent fort, was er auf seiner letzten Platte „Grausam das Gold jubelnd die Pest“ bereits begonnen hat: „unerkannt bin ich der ein / zige moderne, der diese langeweile / als schmerzspur begreift, / der im proustschen willen zur / eifersucht rilkes geometrisches / begehren bewohnt“. Mit shakespearischer Schwerblütigkeit und trunken von den Farben niederländischer Meister besingt der „Jaguar“ in getragenem, Pathos das „quo vadis“. Vorbei die Zeiten der Rebellion, der röhrenden Auspuffrohre, jetzt diktieren „neue Bauern“ das Leben in der City, und unser „düsterer prinz“ kehrt in sich, auf daß „selig ruht an die / sem menschenab / gefallenem tag die / seele mir im blut“.
Journal Frankfurt, 3/1994
KIEV STINGL
Rüdentraum maritim
haarlos wie die nacktschnecke
schwamm der rotbarsch in die
grüne reuse seetomaten im fang
korb schossen direkt ins maul
des anglerfisches, heißt es, die
alte knurrglucke sei bereis halb
verdaut gewesen, andere sagen,
es habe sich um einen seewolf
gehandelt
Peter Wawerzinek
Bernd Gürtler: Kiev Stingl – Eigenwilliger Solitär
Jochen Knoblauch: Zu früh oder zu spät
Er wünschte den Deutschen alles Gute: Vom Dichter und Sänger Kiev Stingl gibt es das fast vergessene Frühwerk auf CD
Julian Weber: Dem Wahnsinn auf der Spur
Kiev Stingl veröffentlicht sein fünftes Album. Eine Begegnung mit dem durch Punk zivilisierten Außenseiter und Eremiten des deutschen Rock.
Maximilian Schäffer: Who the fuck is Kiev Stingl?
junge Welt, 28.10.2022
Maximilian Schäffer: „Ich bin kein Prediger der Nächstenliebe“
Interview mit Kiev Sting, laut.de, 17.3.2023
Kiev Stingl 1985 mit dem Text Der Ozean in dem Film „Rosemary’s Hochzeit“ von Karol Schneeweiss.
Kiev Stingl Spiel den Brief 1982 live.
Kiev Stingl 1982 mit Freundinnen Dein hartes Gesicht (Super-8-Filmmaterial), Filmschnitt von FNAG.
Kiev Stingl im Interview über Underground, Ernst Jünger und Rauschzustände.
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