IN EINEM FERNEN UNIVERSUM
In einem fernen Universum irgendwo
leidet ein Stern an meiner Krankheit.
Im Westtempel des Oh-dae Bergs,
in dem ich den Albtraum für eine Nacht ruhen ließ,
leiden Blumen, namenlos, an meiner Krankheit.
Mein seltsamer Freund,
der in der Welt versteckt Luft holt,
träumt jede Nacht von meiner kranken Person.
Ein Vagabund, der einstmals mir vor die Füße lief,
tänzelt in meinem Traum wie ein Schamane.
Eine Frau entzündet einen Lampion
auf dem mein Name steht.
Bin ich allein
leide ich einsam an meiner Krankheit.
Durch den Fensterspalt schleicht sich ein grundloser Wind ins Zimmer und
kitzelt die Haut.
Als Kim Chi-ha im Mai 1991 in der Tageszeitung Chosŏn mit seinem Aufruf Hört mit dem Totentanz auf! die Selbstverbrennungswelle bei den demonstrierenden Studenten der Demokratiebewegung zu stoppen versuchte, wurde er von diesen als „Verräter“ bezichtigt.
Man hatte von ihm, der so radikal war, daß er sich in den 70er Jahren dem diktatorischen Regime Park Jeong-hees nicht beugte, zum Tode verurteilt wurde, zeitweilig untertauchen mußte und schließlich 6 Jahre in Einzelhaft saß, wodurch er sich gesundheitlich ruinierte, eine solche Kehre nicht erwartet: Kim Chi-ha kritisierte den Leichtsinn der Studenten, die ihr eigenes Leben wegwarfen, um gegen die Regierung zu kämpfen. Ihren übertriebenen Radikalismus verglich er mit der Kamikazeideologie des japanischen Faschismus im 2. Weltkrieg, der das unschuldige Leben der jungen Leute opferte.
Wie konnte das sein? Kim Chi-ha war die gesamten 80er Jahre hindurch das Leitbild der Demokratisierung gewesen, und seine Widerstandspoesie war das Vorbild für die engagierte Literatur dieser Zeit. Das Gewicht von Kim Chi-has Kritik liegt jedoch auf der Betonung des Worts Leben, das für ihn von nun an alles umfaßt. Selbst die Demokratiebewegung kann nur ein Teil dieses Größeren sein und darf das Leben ihrer Anhänger nicht als bloßes Mittel zum Zweck mißbrauchen. Das Leben des Individuums ist wichtiger. Jede Ideologie, die die Opferung des Individuums verlangt, schließt für Kim Chi-ha eine Lüge mit ein. Alles Teleologische ist ihm dadurch suspekt, daß es über das Hier und Jetzt hinwegsieht und einen Endzustand vorgaukelt, der es rechtfertigt, das einmalige Leben einfach für eine angeblich höhere Sache einzutauschen.
Diese Neu-Orientierung Kim Chi-has geht bereits auf ein früheres Stadium zurück. 1980 wurde er aus seiner Einzelhaft entlassen. In Philosophie des Lebens (Seoul, 2002) erzählt er von einem entscheidenden Vorkommnis im Gefängnis, in dem ihm der Begriff Leben wie ein helles Licht in der Dunkelheit aufging:
Die lange Einzelhaft in den 70er Jahren brachte es mit sich, daß ich in eine Art Halluzinationszustand kam: Es kam mir vor, als ob die Wände mich zusammendrücken und die Decke sich auf mich stürzen würde. Diese Art Attacke wiederholte sich in dieser Zeit mehrmals. Es war eine regelrechte Krise, die ich in Einzelhaft zu überwinden hatte. Eines Tages im Jahr 1974 überkam mich wieder diese Attacke. Ich war fast am Ersticken. Da sah ich zufällig Löwenzahnsamen durch die Fenstergitterstäbe in meine Zelle hereinfliegen, schimmernd im Sonnenstrahl. Wie wunderschön das war!
In den Spalten zwischen den Gitterstäben und dem Zement der Gefängnismauer sammelten sich Erdstaub und Unkrautsamen, die vom Wind dorthin getragen wurden. Dann kamen das Regenwasser und ein Sonnenstrahl dazu. Im Frühling sprossen daraus tatsächlich Triebe und wuchsen zu Unkraut heran. Als ich dies in der Gefängniszelle entdeckte, war ich unendlich ergriffen und erfüllt von undefinierbarer Freude, so daß ich sogar anfing zu heulen. Da habe ich begriffen, daß das Leben über der Zeit und dem Ort steht. Selbst Stahlgitter und die Zementmauer des Gefängnisses sind keine Hindernisse. Das Leben trägt in sich die Kraft, sich zu entfalten. Es war auch die Antwort auf meine Krise in der Einzelhaft.
Von jenem Zeitpunkt an gewann der Begriff Leben eine zentrale Bedeutung für Kim Chi-has Poetik, seine Philosophie und sein gesellschaftliches Engagement.
Kim Chi-has Lebensbegriff umfaßt die sichtbare wie auch die unsichtbare Welt, ja schließt das ganze Universum, sogar Universen mit ein, wenn der Plural überhaupt möglich ist. Leben ist die material gegebene, sichtbare Welt mit all ihren Geschöpfen, aber es ist auch die unsichtbare Welt, die geistige Weh dieser Geschöpfe, die die unsichtbare Kraft zum Leben wesentlich in sich trägt. Es ist die Urkraft des Universums, die alles im Zusammenhang erhält. Auch der Tod einzelner Geschöpfe gehört zu diesem natürlichen Kreislauf.
Kim Chi-ha sieht die Aufgaben des Menschen, der ja mit Vernunft begabt ist, darin, daß er diesen Zusammenhang des Lebens im universalen Sinne erkennt und ihn auch erhält. Die in Asien tradierten Religionen und Philosophien wie Buddhismus, Schamanismus und die alten Kosmologien erfassen jenen inneren Zusammenhang der unsichtbaren Welt und der Lebenskraft mit Intuition. Die Naturwissenschaften des Abendlandes erfassen den Zusammenhang der empirischen Welt mittels Erforschung. Diese beiden Wege müssen sich zusammentun, um den Zusammenhang des Lebens im universellen Sinne zu erkennen und zu erhalten.
Das Lebensbejahende von Kim Chi-has Lyrik entsteht aus der Einsicht, daß alle Geschöpfe vereinzelt sind, auch einsam, aber trotzdem im Zusammenhang eines unendlichen Ganzen aufgehoben werden. Das Ich ist zugleich nichts, und auch absolut und unendlich, da es sich in andere Leben wie das des Monds, der Sonne, der Sterne, der Grashalme, der Insekten und der Dingwelt einfühlen und einhören kann.
Das Nichts, das Sich-Leer-Machen, ist der Ausgangspunkt für ein Hervorbringen des Lebens. Auch das Sterben erhält so seinen Sinn. Das Ganze befindet sich im ständigen Wandel, im ständigen Chaos, wie es das Quirlbild der kosmologischen Prinzipien Yin und Yang versinnbildlicht. Das Prinzip Yin steht für das Chaotische, das Lückenhafte und das Weibliche, durch welches das neue Leben geboren und das Leben erhalten wird. Die Ehrfurcht vor allen Geschöpfen wird in solch einer Vorstellung zum ethischen Imperativ der Menschen für ihr Zusammenleben.
Der vorliegende Gedichtband Blütenneid trägt im koreanischen Original den Titel Leiden der Mitte. Es sind eigentlich die Leiden gemeint, die beim Verlust der Mitte entstehen, wie wenn sich die Löwenzahnsamen aus einer schönen Pusteblume durch den Wind in tausend Richtungen zerstreuen.
Die Gedichte aus Blütenneid sind Anfang der 90er Jahren entstanden, also in der Zeit, als Kim Chi-ha mit seiner Philosophie des Lebens entschieden an die Öffentlichkeit trat. Waren die 70er Jahre für Kim Chi-ha stürmische Jahre, geprägt von seinem direkten politischen Engagement, so wurden die 90er Jahre die Zeit der „Lücke“, eines existentiellen Rückzugs im Leben des Autors. Sprudelten seine Gedichte in den 70er Jahren vor politischen Absichten in einer publikumsnahen Redseligkeit schier über, belebten die alte, balladenhafte Volksdichtungsform Pansori als Form der kritischen Poesie bzw. Widerstandspoesie wieder, so sind die Gedichte in diesem späteren Band mit Leerräumen ausgestattet und erinnern in ihrer kargen Ästhetik nicht zufällig an die klassische koreanische Tuschemalerei. Die Gedichte – in manchen klingt noch der Groll und die Wut von früher nach -lassen sich als Hymne ans Leben, an den Körper und das Hier und Jetzt verstehen, als sanfte Liebeserklärung an die kleinen Dingen der Natur und des Alltags lesen.
Die Neunziger sind auch die Zeit, in der Kim Chi-ha das Alter von fünfzig Jahren erreichte. Fünfzig ist das Alter, das Konfuzius dasjenige nannte, in dem der gescheite Mensch den Auftrag des Himmels erkennt. So schreibt Kim Chi-ha in seinem Originalvorwort:
Mein Auftrag des Himmels ist nun, mit der Sprache sparsam umzugehen, um die Lücken zu öffnen. Durch die Lücken möchte ich das Leben ein- und ausgehen und erklingen lassen. Es ist qualvoll, dass man durch die Lücke aus der Mitte herausrutscht. Es ist auch qualvoll, daß man sparsam mit der Sprache sein muß, um das Leben erklingen zu lassen, das aus unzähligen Mitten wie verhedderten Netzen besteht. Es ist aber nichts zu machen, denn das ist mein Auftrag.
Es ist diese Poetik der Öffnung, eine Huldigung der Lücken, die Kim Chi-has Werk von nun an auszeichnet und gleichberechtigt neben die große politische Lyrik der siebziger Jahre stellt.
Yang Hanju und Matthias Göritz, Nachwort, November 2004
In Korea gilt die Lyrik als die Königsdisziplin der Literatur; Kim Chi-ha ist ihr herausragender zeitgenössischer Vertreter.
Das Buch erscheint zum Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 2005.
In den siebziger Jahren galt Kim Chi-ha in Korea als einer der radikalsten Regimegegner, er wurde zum Tode verurteilt, zu „lebenslänglich“ begnadigt, freigelassen, tauchte unter, wurde erneut verhaftet (insgesamt fünfmal), ertrug schließlich sechs Jahre in Einzelhaft, die seine Gesundheit ruinierten. Kim Chi-ha wurde zur Leitfigur der Demokratiebewegung seines Landes, zum Inbegriff der politischen Lyrik Koreas und zum Vorbild für die gesamte engagierte Literatur dieser Zeit.
Die Gedichte dieses Bandes stammen aus den neunziger Jahren; sie sind Ausdruck der Wende des Autors hin zu einer „Philosophie des Lebens“. Das Erlebnis der Haft, die Erfahrung des Zurückgeworfenseins auf das Existentielle spielen dabei eine ebenso entscheidende Rolle wie die Auseinandersetzung mit der Welle von Selbstverbrennungen demonstrierender Studenten in Korea. Nichts schien dem Dichter die Opferung jungen, unschuldigen Lebens zu rechtfertigen. „Hört mit dem Totentanz auf!“ rief Kim Chi-ha besorgt denen zu, die sich in seiner Tradition glaubten, die er selbst jetzt aber in Zusammenhang mit der Kamikaze-Ideologie des japanischen Faschismus brachte. Kim Chi-ha sieht seine Aufgabe nunmehr in der Feier der kleinen Dinge der Natur und des Alltags in sparsamen, tastenden Sprachbewegungen.
Wallstein Verlag, Ankündigung
– Quirlbilder: Das allegorische Spätwerk Kim Chi-has. –
Der 1941 geborene Kim Chi-ha, Koreas Dissidentendichter und unermüdliches Sprachrohr der Demokratiebewegung, ist leise geworden. Seine aufwühlenden, düster-agitatorischen Gedichte wie „So schwärze dich!“ zählten zur Zeit der Militärdiktatur Parks in den sechziger und siebziger Jahren zur Pflichtlektüre der oppositionell eingestellten Studenten. Seine Ballade und Satire auf die Machthaber „Die fünf Banditen“ machte ihn 1970 zum Freiheitssymbol und roten Tuch der Staatsgewalt. Kim Chi-ha, der während seiner Dichterkarriere fünfmal verhaftet wurde und nach dem wiederaufgehobenen Todesurteil von 1974 sechs Jahre in Einzelhaft verbrachte, kam erst 1981 auf internationalen Druck wieder frei.
Ein Querschnitt durch das expressive Frühwerk erschien 1983 unter dem Titel Die gelbe Erde, eine exzellente Sammlung, deren Wiederauflage der Suhrkamp Verlag zum koreanischen Buchmessenschwerpunkt versäumt hat. Der Wallstein Verlag widmet sich nun mit der im Original 1994 unter dem Titel Leiden der Mitte erschienenen Anthologie weniger der Widerstandspoesie als der Natur- und Alterslyrik Kim Chi-has. Dieser sieht es nunmehr, wie er im Vorwort schreibt, als seinen Auftrag, „mit der Sprache sparsam umzugehen, um die Lücken zu öffnen. Durch die Lücken möchte ich das Leben ein- und ausgehen und erklingen lassen.“
Der Reiz seiner trugbilderreichen Poesie liegt also gerade in der Transparenz der Assoziationen. In fließenden Sprachbewegungen erzählt er vom „Tanz des Alls“ und vom kosmischen Einssein der belebten und unbelebten Natur, wobei sich Leben und Tod relativieren: „Ich bin ein endlos sterbendes, nichtsterbendes Leben.“ Eine an die koreanische Tuschemalerei erinnernde Dynamik von Entleerung, Kargheit und Jahreszeitenwechsel prägt seine Dichtkunst:
Liegt draußen Rauhreif? Ich friere an den Zähnen, die Fäden durchbeißen. Eingehüllt in die Wärme der knopflosen Jacke vom letzten Jahr.
Als Reaktion auf die Selbstverbrennungswelle von Studenten der Demokratiebewegung Anfang der neunziger Jahre beleuchtet er in Gedichten wie „Auslöschung“ die Irrwege der Revolution und Irrlichter der Radikalität. Die Abkehr von politischer Agitation im allegorisch aufgeladenen Spätwerk zugunsten einer religiösen Universalität und ökologisch angehauchten Schöpfungsschau war eine Kehrtwende, die die koreanische Kritik nicht nur wohlwollend aufnahm.
Sind einige Gedichte dem Atem der Natur abgelauschte Quirlbilder des Lebens, so zählen die Umweltseufzer über sauren Regen zur weniger inspirierten Lyrik. Man mag es nun bedauern oder nicht, aber der Duktus des Untergrundpoeten ist Kim Chi-ha im koreanischen Demokratisierungsprozeß abhanden gekommen.
– Dichten gegen die Selbst-Auslöschung und für das Leben: Kim Chi-has Gedichtband Blütenneid zeigt seine lyrische Wendung ins Unpolitische. –
Ein Lyriker, der dem politischen Kampf verbunden ist und entdeckt, dass es daneben und darüber noch andere Verpflichtungen dem Leben und der Lyrik gegenüber gibt, läuft Gefahr, gescholten zu werden. Lesend werden wir Zeugen der Gedichte, für die Kim Chi-ha Anfang der neunziger Jahre in Korea getadelt wurde. Nach einem gerade noch zu langer Haft abgemilderten Todesurteil und dann nach sechs Jahren Einzelhaft öffnete sich ihm eine – sagen wir es in westeuropäischer Behelfsterminologie – existenzielle Erfahrung, die Leben, intensive und vielfältige Daseinserfahrung heißt und die politisch gemeinte Kampfaktionen wie zum Beispiel Selbstverbrennungen (damals in Korea anzutreffen) verabscheuen muss. So wird der Kampflyriker, die Personifikation südkoreanischen Befreiungswillens, ein Anderer, ein anderer Dichter, einer, für den (Selbst-)„Auslöschung“ ein „falscher Weg“ ist.
An seinen Gedichten können wir als westliche Leser eine poetische Bilderwelt erfahren, deren Provenienz wir oft nur ahnen können, die aber in vielen Details unserer Lyrik gar nicht so fremd ist, und das hält einen bei der Lektüre in Spannung: dass wir die religiösen Bilder, die Redensarten, die Pflanzensymbolik nicht kennen, aus denen geschöpft und mit denen gespielt wird; sie aber doch nach und nach uns lesend konstruieren, erschließen können, angeleitet ein wenig auch durch die Erläuterungen am Ende des Bandes Blütenneid.
Dies Wort bezeichnet übrigens den Moment, an dem ein nochmaliger Kälteeinbruch an den Frühlingsblüten frisst, sie zerstören will, und nun kann man verfolgen, was man mit diesem Begriff und Bild (und ähnlichen anderen) lyrisch machen kann. Wenn Kim Chi-ha „Naturgedichte“ schreibt (was zu sagen ja nicht falsch ist) – aus welchem Bildreservoir schöpft er dann, und wie kann einer sich mit der „Natur“ verbunden fühlen, wenn er im x-ten Stock eines Hochhauses eines Vorortes von Seoul wohnt, der 800 000 Einwohner hat, an einer Stelle, die vor 15 Jahren noch ganz unbebaut war, mittendrin ein Schrein auf einem heiligen Berg, und nun total mit Hochhäusern bestückt – und der Autor wohnt just in diesem „Ilsan“? Was bedeuten in solcher Umgebung Sonne, Mond, Sterne oder Schnee? Kann man Gedichte machen, in denen um der Wahrhaftigkeit willen „Müllberge“, „Appartementhäuser“ und „Grillroste“ vorkommen müssen? Kann man im Ein-Zimmer-Appartement im Hochhaus noch lyrisch-sangbare Erfahrungen machen? Wie transzendiert man solche Umgebung, solche Beengungen, ohne nur verblasen zu wirken?
Kim Chi-ha führt auf eine hinreißende und bewegende Art vor, wie er auch noch hier die Wörter und die Bilder ineinander sich verwandeln lassen kann, wie man den Fluss „aus lauter faulen Wassertropfen“ durch „Wiedergeburt“ schließlich zu „weißen Wolken am blauen Himmel“ sich wandeln lassen kann, man auch ein Haus zu einem umhüllenden dreibeinigen Topf und diesen zu den drei Elementen der koreanischen Kosmologie changieren lassen kann, oder wie er als koreanischer Lyriker die drei das Jenseits begrenzenden Ströme Samdo, Acheron und Jordan übereinander blenden darf.
Manche Gedichte scheinen uns europäischen Lesern in Rätseln zu sprechen – aber sprechen so nicht auch viele Gedichte von Paul Celan oder Friederike Mayröcker? Meist beginnt man zu ahnen, aus welchen historischen und bildlichen Haushalten und Schatzhäusern durch die Zeiten hindurch, über die Zeiten hinweg diese Gedichte sich nähren. Am bewegendsten sind vielleicht die bildkargen, wie versehrten Liebesgedichte, die hart über jenes Phänomen, eben: die Liebe, sprechen, das sonst so gerne lyrisch besäuselt wird. Neben den Texten des wiederentdeckten Yisang, geschrieben vor 70 Jahren und heute eine historische Offenbarung, die ganz andere „songlines“ quer über die literarische Welt des 20. Jahrhunderts plötzlich zu hören erlauben, sind Kim Chi-has Gedichte wohl das Aufregendste, was uns die koreanische Literatur in diesem Herbst in deutscher Sprache – und das heißt hier: in der wunderbaren Übersetzung von Yang Han-ju und Matthias Göritz – beschert hat.
Jörg Drews, Süddeutsche Zeitung, 22.11.2005
– Der Südkoreaner Kim Chi Ha ist ein engagierter Poet, ein Held, ein Schelm und ein Berg. –
Ja, es gibt sie wirklich: Die Dichter an denen Diktatoren sich ihre Zähne ausbeißen. Der Südkoreaner Kim Chi Ha ist so einer: Ein Poet, ein Held, ein Schelm, ein Berg.
Ein Berg? Ich gebe zu, das klingt wie eine ziemlich pathetische Metapher. Aber sie drängt sich auf, wenn man Kim Chi Ha in seiner Wohnung irgendwo vor Seoul auf seinem Sessel sitzen sieht. Er ist kein Riese, er ist nicht groß oder massig wie ein Berg, sondern von gewöhnlicher, etwas gedrungener Gestalt. Aber er hat die Ruhe eines Berges. Er strahlt eine Unerschütterlichkeit, eine Gelassenheit aus, die an die Unverrückbarkeit der Berge erinnert. Er weiß das, und er schreibt das auch in seinen Gedichten:
Unterhalb des Chongbal Berges,
ein Apartment.
In dem Apartment eingesperrt:
ich.
In mir der Chongbal Berg,
im Chongbal Berg wiederum
Sonne, Mond, Sterne und Wind.
Für ein solches Leben, brauchte es wohl auch die Ruhe und die Unbeirrbarkeit eines Berges: Kim Chi Ha war noch nicht zwanzig, als er 1960 an den Studentenaufständen teilnahm, die den Diktator Song-man Rhee zum Rücktritt zwangen. Doch die Proteste flauten auch danach nicht ab, die Bürger forderten mehr Demokratie und die Wiedervereinigung mit dem Norden des Landes – bis sich der nächste Diktator, General Park Chung Hee an die Macht putschte. Seit jenem Jahr, seit 1961, gab es für Kim Chi Ha zwei gleichermaßen unbehagliche Gegenspieler: seine Tuberkulose, die ihn zu monatelangen Krankenhausaufenthalten zwang, und den Koreanischen Geheimdienst KCIA, vor dem er sich wieder und wieder verbergen mußte, und der ihn wieder und wieder verhaftete.
Zu einer Ikone der Bürgerrechtsbewegung wurde Kim Chi Ha mit dem langen Gedicht „Die fünf Banditen“. Nach der alten Regel, daß Lächerlichkeit zu den tödlichsten Waffen im öffentlichen Meinungsstreit gehört, stellte er die korrupten Machthaber des Regimes nicht nur bloß, sondern machte sich zugleich nach Kräften über sich lustig. Er nutzte dazu die Eigenheit der in Korea noch oft gebrauchten chinesischen Schriftzeichen, deren buchstäbliche Lesart einen anderen Sinn ergeben kann als deren phonetische Lesart. Zu den „Fünf Banditen“ seines Landes zählte er in seinem Gedicht nach buchstäblicher Bedeutung die Monopolherren, die Parlamentarier, die hohen Regierungsbeamten, die Generäle und die Minister samt Vizeminister. Nach phonetischer Lesart aber waren das in seiner Schreibweise: eine Meute toller Köter, bucklige, listige Hunde, verdienstlose Schweine, Gorillas und tolle Hunde, die in die aufgehende Sonne zwinkern.
Damit stieg Kim Chi Ha nicht nur zum Helden, sondern auch zum Schelm, zum subversiven Clown unter den Regimekritikern auf. Und daß er sie nicht nur Banditen nannte, sondern ihnen dazu noch eine Nase drehte, verzieh ihm der Machtapparat des Diktators am allerwenigsten. Wieder einmal wurde er verhaftet – und mit ihm gleich der Herausgeber und sämtliche Redakteure der Zeitschrift, die das Gedicht gedruckt hatte. Entlassen wurde er erst, als sich seine Tuberkulose so radikal verschlechterte, daß er dem Tod näher schien als dem Leben.
Nach eben diesem Muster ging es in den folgenden Jahren weiter. Kaum zu Kräften gekommen veröffentlichte Kim Chi Ha Gedichte oder publizierte Theaterstücke, woraufhin er wieder festgenommen und seine Gesundheit weiter ruiniert wurde. Zwei seiner groß angelegten Protestaktionen heizten die Stimmung der Bürger derart auf, daß die Regierung Notstandsmaßnahmen über das Land verhängte. Bis das Regime dann schließlich 1974 den Konflikt auf seine Weise zu beenden versuchte: Kim Chi Ha wurde verhaftet und am 13. Juli von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Wenig später begnadigte man ihn zwar zum lebenslänglicher Haft, doch das kam bei seinem Gesundheitszustand einem Todesurteil gleich. Man sperrte ihn, schrieb er später, in wechselnde, fensterlose, vier Quadratmeter kleine „kahle Zellen, mit nichts als stets schwach brennenden Glühbirnen, die einen nicht unterscheiden lassen, ob es Tag oder Nacht ist.“
Daß er das Gefängnis noch einmal für einige Monate hinter sich lassen und seine Krankheit in den Griff bekommen konnte, verdankt er einem internationalen Rettungskomitee, das mit hartnäckigem publizistischen Einsatz für seine Befreiung kämpfte und an dem unter anderem Jean-Paul Sartre, Noam Chomsky, Heinrich Böll und Willy Brandt mitarbeiteten. Doch nachdem er 1975 in einer der größten Tageszeitungen des Landes einen Bericht über seine Lebensbedingungen und Folterungen in den Straflagern veröffentlichte, wurde er erneut festgenommen und nun für die kommenden Jahre bis 1980 in Einzelhaft gehalten.
Wie überlebt man so etwas? Vielleicht nur, wenn man die Ruhe und die Kraft eines Berges hat. Noch heute sprechen Kim Chi Has Gedichte von grenzenloser Einsamkeit und von der Erfahrung rabiater (Selbst-)Beschränkung auf das absolut Notwendigste.
Im leeren Zimmer
Bin ich allein,
ich habe überlebt.
Am Leben sein,
am Leben sein.
Im leeren Zimmer
Ist das ganze All.
Alle Geschöpfe
leben, alle sind allein und
springlebendig
An einem klaren
Herbsttag
Bin ich im leeren Zimmer am
Leben.
Nach dieser jahrelangen Haftzeit kehrte Kim Chi Ha als ein anderer Mensch in das öffentliche Leben zurück, distanzierter und weniger aggressiv als zuvor. Der Diktator Park Chung Hee war inzwischen von seinen eigenen Sicherheitsleuten ermordet und von dem nicht minder brutalen General Chun Doo Hwan abgelöst worden. Doch Kim Chi Has Lyrik verlor in den achtziger Jahren mehr und mehr ihren kämpferischen und bissig satirischen Charakter. Nicht mehr das Leiden am Militärregime war ihr zentrales Thema, sondern das Leiden der Menschen schlechthin. Seine Gedichtbände eroberten Südkoreas Bestellerlisten und wurden zugleich von den Bürgerrechtlern des Landes scharf angegriffen.
Ein Höhepunkt erreichte der Konflikt, als Kim Chi Ha 1991 in einem Manifest die Protestbewegung beschwor, die öffentlichen Selbstverbrennungen während der Demonstrationen gegen das Regime zu stoppen. Das Leben habe, erklärte er damals, ein höheres Recht als der Widerstand. Damit sei er, meinten manche seiner Gegner, der Demokratiebewegung in den Rücken gefallen.
Wie schon viele engagierte Schriftsteller vor ihm mußte auch Kim Chi Ha die paradoxe Erfahrung machen, daß er mit dem Sieg seiner politischen Ziele umgehend einen Großteil der Aufmerksamkeit einbüßte, die er zuvor im Medienbetrieb seines Landes genossen hatte. Sobald sich die politischen Verhältnisse liberalisierten, sobald eine funktionierende Opposition in Parlament und Presse zur Selbstverständlichkeit wurde, richteten sich weit weniger Mikrophone und Kameras auf ihn, wenn er sich öffentlich gegen die Regierenden wandte. Dabei ist seine Kritik an der Situation des Landes und vor allem an der gigantischen Metropole Seoul heute vielleicht noch grundsätzlicher geworden als früher. Der rasend voranschreitenden Industrialisierung und Modernisierung Südkoreas versucht er eine sehr subjektive Ideen-Mixtur aus Buddhismus und Umweltschutz, Christentum, Schamanismus und konfuzianischen Traditionen entgegenzusetzen.
Durchs verfaulte Fleisch der Stadt
leuchten eitertriefend
die dünnen Adern des alten Dorfs.
Laß uns den Adern folgen,
mein Freund
Doch all die vergangenen und die noch andauernden Kämpfe dieses Lebens können die Ruhe Kim Chi Has offensichtlich nicht stören. Er lebt heute in einem Vorort Seouls in einem Bürohochhaus. Es ist eines unter Hunderten von Hochhäusern, die sich an einer zehnspurigen Straße entlang ziehen. Man kann es von den anderen unterscheiden, weil im Erdgeschoß in einem Showroom hinter riesigen Schaufenstern chromgrau schimmernde BMW-Limousinen auf Käufer warten. Gut zehn Stockwerke höher sitzt ein Dichter, der zwei Jahrzehnte lang ein zähes Duell mit den Diktatoren des Landes ausfocht und schreibt:
Ach,
Spatzen zwitschern,
noch blühen Blumen, und
am Himmel
ziehen sogar weiße Wolken.
Hingekauert im Apartment
Kann ich ein Stück leeren Himmel
sehen, deshalb
ist auch
mein Leben
noch in Ordnung.
– Der koreanische Dichter Kim Chi-ha kreiert in Blütenneid eine Philosophie des Schmerzes. –
Was ist das Alter?
Meine neue Gewohnheit,
der Welt mit Lachen zu begegnen.
Man muss zweifellos einen weiten Weg gegangen sein, um zu einer so wunderbar leichten Maxime zu gelangen. Und umso beeindruckender ist es, dazu eine Biographie wie die Kim Chi-has zu lesen, der auf diesem Wege nicht oft zu lachen hatte: Schon als Student der Ästhetik in Seoul beteiligte er sich an Protesten gegen die Diktatur Song-man Rhees, nach 1961 gegen die des Generals Park Cheong-hees, musste untertauchen, wurde wiederholt inhaftiert, zum Tode verurteilt und begnadigt, um schließlich, kurz nach Geburt seines Sohnes und trotz aller Bemühungen international renommierter Persönlichkeiten wie Sartre, Böll, Chomsky und Brandt, sechs Jahre in Einzelhaft zu verbüßen. Erst 1981 wurde er, längst Symbol der Demokratiebewegung, doch gesundheitlich schwer angeschlagen, entlassen, und ab 1984 durfte schließlich auch sein Werk, das neben Gedichtbänden, Essays und Dramen eine Autobiographie umfasst, frei erscheinen.
In einem jüngeren Gedicht erinnert er sich an „die stürmischen Tage von damals“, womit neben der historischen Dhong-hak Bauern-Revolution Ende des 19. Jahrhunderts, auf die er anspielt, natürlich die eigene Zeit als Dissident und Verfasser radikaler Protestpoesie gemeint ist, und damit verbunden die eigene Leidenszeit:
Hautfalten voll kaltem Schweiß träumen
auch am hellichten Tag vom Gefängnis
Genau dort jedoch, wo ihn einige Löwenzahnsamen allen Mauern und Gittern zum Trotz in seiner Zelle erreichten und tatsächlich am Fenstersims zu keimen begannen, entwickelte er seine „Philosophie des Lebens“…
Sein Gedichtband Blütenneid, der nun vollständig auf Deutsch vorliegt, ist das Dokument einer schmerzlich erworbenen Geisteshaltung, die das Leben in seiner Ganzheit begreifen will, das Kleine im Großen aufgehoben wissen will (und umgekehrt) und so der Vergänglichkeit und der Einsamkeit des Individuums einen makrokosmischen Kreislauf gegenüberstellt. An die Stelle der Löwenzahn-Epiphanie ist der Grashalm getreten, der als Symbol und Zeugnis der Philosophie des Lebens in verschiedenen Gedichten fast leitmotivisch auftaucht. „Mein Auftrag des Himmels ist nun, mit der Sprache sparsam umzugehen, um die Lücken zu öffnen. Durch die Lücken möchte ich das Leben ein- und ausgehen und erklingen lassen“, schreibt Kim Chi-ha. Das ist ein schönes poetisches Programm, und wenn es wahr ist, dass die größte Weisheit sich durch Schlichtheit auszeichnet, der Haltung und dem Thema mehr als angemessen – wenn auch die Gefahr groß ist, dass aus der Sparsamkeit Wiederholung und damit das Schlichte nicht banal wird, aber doch so wirkt.
In der Tat macht Kim Chi-ha die Gleichung zwischen Groß und Klein so oft auf, dass eine gewisse Eintönigkeit entsteht, und allzu oft wird seine Lebensphilosophie eher konstatiert als poetisch eingelöst. So ist es nicht die Sparsamkeit der Sprache und der Motive, die ermüdet, sondern die Formelhaftigkeit: „Die Sonne und der Mond / besuchen mein dürres Herz“, später steigt „ein finsterer Fluß“ hinzu, anderswo klingt ein Donnergrollen eben dort, bald darauf geht auch der Mond „in meinem Herzen auf“.
Einem anderen metaphorischen Schema folgend „umarme ich / die Sonne und den Mond“, dann wieder liegt dem Erlebenden nachts „die Welt im Arm“, schließlich umarmt die „Seele“ gar „die Schöpfung“. Spätestens hier, bei den großen Behelfsworten, zu denen selbstredend auch die „Ewigkeit“ und das „Universum“ gehören, wünscht man sich, dass der Auswahl eine Handvoll jener frühen, so wütenden wie poetisch dicht gefügten Protestverse beigefügt worden wären, die in der Sammlung Die gelbe Erde 1983 bei Suhrkamp erstmals auf Deutsch erschienen waren (und heute leider vergriffen sind). Und sei es nur, um so viel kosmisches Einssein mit einem herberen Ton zu kontrastieren:
Auf die Gefahr hin, abermals ausgepeitscht zu werden,
dass mir aus dem Arsch lustig die Flammen flackern,
will ich euch das seltsamste Räuberstück erzählen,
heißt es zu Beginn des berühmten Gedichts „Die fünf Banditen“.
Dabei enthält auch der Band Blütenzeit Gedichte, in denen Kim Chi-ha die Lücken tatsächlich zu öffnen versteht, in denen wahrhaftig eine ganze Weltanschauung auf einem Grashalm ruhen kann und aus dem zweiten, aufmerksamen Blick Poesie wird:
Ich schaue einmal zu den Blumen hin,
ich schaue noch einmal.
Ich schaue einmal zu den Wolken auf,
ich schaue noch einmal.
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