LEBEN IN DER KLEINSTADT
die fenster bekreuzigen sich
fünf mal am tag
abends sind die glocken heiser
vom schlagen
und flüstern während der nacht
schüchterne scherze
die gehsteige haben
sich versteckt im getümmel
der straßen findet jede fliege
ihren persönlichen
misthaufen und die gestalten
zwischen den türrahmen
kommentieren ihr gähnen
tag aus
tag um
Lubina Hajduk-Veljkovićowa
Und so möchte ich jetzt den Geist der Starkmut an die Spitze stellen, denn mehr als alle anmutige Geistigkeit, höher als aller Zauber ist ein starkes und tapferes Herz… die Quelle allen Schöpfertums kommt aus dem tapferen Herzen.
(Marja Grólmusec, Zuchthaus Waldheim, 1940)
Seltsame Lebens-Umwege, seltsame Seitenwege, besonders jene, die mich auf den Weg nach Bautzen oder Budyšin, nach Radibor oder Radwor, nach Kamenz alias Kamjenc, nach Nebelschütz alias Njebjelčicy, nach Räckelwitz oder Worklecy – ins Land der Sorben, in die Lausitz oder Łužica, und zu den sorbischen Schriften brachten. Wer erinnert sich an Wolfgang Ebert? Glossenschreiber, warmherzig-satirischer (das gibt es), vormals für Die Zeit, vor allem freilich Schöpfer des „Bellheim“, einer Slapstickfigur rein aus Sprache, ein jedes der mit diesem Bellheim dahertanzenden wie -stolpernden Prosastückchen eine würdige Parallele zu den Chaplin-Kurzfilmen und mehr noch denen des in den ärgsten Verwicklungen keine Miene, dafür aber sämtliche Gliedmaßen verziehenden Buster Keaton; Verfasser eines seiner herrisch-schussligen russischen Mutter gewidmeten Romans namens Warum ist das Porzellan so nervös? (oder: Das Porzellan war so nervös?). Kaum einen kindlicheren, nein, zutraulicheren Menschen konnte man sich vorstellen als diesen inzwischen seligen Wolfgang Ebert. Und so zutraulich und erwartungsvoll begegnete der um einiges Ältere auch (sogar) mir, gleichmäßig durch eine Jahrzehnte währende Bekanntschaft. Sämtliche seiner Liebsten und Gefährtinnen hatten demgemäß unsereinem, dem Bekanntenkreis, nahgebracht zu werden. Auf diese Weise fand ich mich, vor mehr als einem Vierteljahrhundert, in München war’s, erstmals mit einer Frau aus dem bis dahin eher legendären Sorbenland an einem Tisch. Ich sah jene Frau erst viel später einmal wieder – eben in der sorbischen „Kapirale“ Bautzen/Budyšin. Doch die kurze Begegnung verwandelte sich mir in ein nachhaltiges Zeichen, gab mir ja seinerzeit meine slawische Herkunft von der Mutter her, von der slowenischen Minderheit im „deutsch-österreichischen“ Kärnten, zunehmend zu denken (nein, sie hatte mir seit je – vielleicht weniger zu denken als zu sinnen gegeben).
Wieder ein Jahrzehnt danach begegnete ich erstmals einem Sorben-Autor; der jedenfalls seine Gedichte, zum Unterschied von der Prosa, in seiner sorbischen Sprache schrieb. Das war freilich nicht in seiner Stammgegend, sondern bei einem Schreibertreffen im slowenischen Karst um Lipica (oberhalb von Triest), damals noch Jugoslawien. Der Name des Dichters: Jurij Koch. Und als er dann tief unten in der Karsthöhle von Vilenica (in etwa: Feen- oder Weiße-Frau-Höhle) in der Reihe der tschechischen, polnischen, kroatischen, serbischen und einheimischen Poeten eins seiner Gedichte rezitierte, hörte ich erstmals Tonfall und Klang des Sorbischen. Die Sprache ließ sich so vertraut vernehmen, daß ich sie auf Anhieb zu verstehen glaubte. Das kam aber nicht vordringlich von der überraschenden phonetischen Ähnlichkeit mit dem örtlich-Slawischen des Karstes, dem Slowenischen. Zwar schienen die beiden Idiome in ihren Akzentuierungen, und insbesondere in ihrem Ausschwingenlassen der Vokale, etwas wie einem dunklen, ruhigen, wie privaten („unter vier Augen“) Dehnen – so im Gegensatz zum hellen Selbstlauteschmettern, einem eher wie öffentlichen, etwa des Italienischen –, einander entschieden vergleichbarer als jede Spielform sonst des Slawischen. Aber jene unmittelbare Vertrautheit der sorbischen Laute und Silbenfälle kam mehr noch von etwas Drittem. Von was? Dieses Dritte kann ich bis heute nicht bestimmen, jedenfalls nicht präzise. Beim näheren Hinhören damals wurden mir nämlich nur einzelne Wörter verständlich, und das freilich nicht, weil ich die dem Anschein nach so nahverwandte Sprache meiner mütterlichen Vorfahren nur gar mangelhaft innehatte: auch den eingeborenen Slowenen ging es wie mir, auch sie meinten bloß, zu verstehen, auch sie erahnten höchstens einen Zusammenhang. Jenes Vertrautklingen des Sorbischen in dem anderen Land rührte, das läßt sich immerhin vielleicht andeuten, von dem erwähnten Zimmer- oder Kammer- oder eher Kammerwinkelton her, welcher spürbar nicht allein die Eigenart des einzelnen Sprechers dort war. Solche Weise des Beiseitesprechens, zwischen Selbstgespräch und individueller Zuwendung, machte sich hörbar sozusagen als das Hauptohrenmerk, was das Sorbische betraf, und es unterschied sich auch darin von den anderen slawischen Sprachen, daß es mir für jede Art von Verlautbarung ungeeignet erschien. Es war ein Gedicht, das Jurij Koch seinerzeit unten in der Karstgrotte vortrug. Doch das Gedicht hatte in der ihm eigenen Sprache, selbst wenn es nichts erzählte, den Atem einer Erzählung. Und dieser Atem war es wohl, der uns auf einzelne verständliche Wörter beschränkten Zuhörern trotzdem den, einen anderen Zusammenhang hörbar machte, oder vielleicht auch bloß vorgaukelte – aber immerhin. Und immerhin habe ich solches nicht nur jenes eine Mal mit einem sorbischen „Sprecher“ erlebt, sondern dann auch in der Folgezeit, bis zuletzt ein Gedicht und/oder Sprachzeugnis aus der Lausitz (siehe das Buch hier), aus den Jahrhunderten vor Gutenberg bis zur Internetjetztzeit, mir Hand in Hand unter vier Augen etwas erzählten.
Das heißt nun freilich nicht, daß, bei aller Zurückgenommenheit der sorbischen Sprache, die Schriften der Sorben, der Dichter, der Naturkundler, der Linguisten sich begnügten mit gleichwelchem stillen Stuben- oder Sonstwo-Winkel. Zwar sind fast alle von ihnen „Stille im Land“ (muß das denn unbedingt eine Schmähformel sein?). Aber diese Stillen propagieren keineswegs das Stillbleiben, noch halten sie je still. Die so vielen und so mannigfaltigen sorbischen Schreiber sind durchweg, ebenso wie von der Stille (der Landschaft, der Sprache), bestimmt und bewegt von Zorn, von Aktionsbedürfnis, von Drang nach Rettung – und nicht allein des jeweiligen Ich-Selbst: bewegt von „Wir!“-Gefühl. Es gehört auch zum sorbischen Witz, daß sich der, na ja, Nationaldichter der Łužica („national“ im Sinne Herders) im 19. Jahrhundert, der ungestüme, quer durchs Land die Gedichtfackel wie keiner vor ihm (und aber einige nach ihm) schwingende Jakub Bart den Beinamen „Ćišinski“, der Stille, gegeben hat, und daß einer seiner Nachfahren Anfang des 20. Jahrhunderts, aus der Erfahrung des 1. Weltkriegs in allen Ländern Europas weniger fremd als in seinem Deutschland, – Jakub Lorenc (Großvater von Kito Lorenc) sich als Verfasser sorbischer Schriften „Zalěski“, etwa Hinterwäldler nennt – ein Hinterwäldler, der schreibend-aufschreit (das gibt es), der still-aufschreit (das gibt es): „Ich… hasse diejenigen…, die ihn [meinen Bruder] dazu zwangen, für ein falsches Vaterland zu kämpfen und zu sterben“, so wie: „Und allen Völkern Europas soll die Erlösung kommen!“ („A wšitkim narodam Europy njech přińdźe wumóženje!“)
Auch in Jurij Koch, dem ersten mir begegneten sorbischen Autor, sah ich dann ja, als ich dies und jenes, auf deutsch, von ihm las, mochten im Duktus selbst der Übersetzung auch die ursprüngliche Stille und Kammertonart fortbestehen, jemand so Zornigen wie Streitbaren. War er doch der wütend-sarkastische Wort- und Schriftführer derer, die, noch tief in den Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik, kämpften für die Erhaltung der niedersorbischen Dörfer, bedroht vom massiven Braunkohleabbau – ein Kampf, der heute, lang nach der Wiedervereinigung (siehe das Dorf Horno, dessen Bewohner allesamt freiwilligst zwangumgesiedelt wurden und werden), so ziemlich verloren erscheint. Und ebenso erwies sich, ein Jahrzehnt später, meine nächste Begegnung mit einem sorbischen Worttatmenschen, der Dichterin Róža Domašcyna, als eine, welche mir die mehr oder weniger typische, vielleicht auch täuschende sorbische Stille (nur auf den ersten Blick zu verwechseln mit den so oft träumerisch zurückgezogenen Gedichten der slowenischen Minderheit in Kärnten) als eine Spielart des Beharrens, ja der Unabhängigkeitserklärung nahebrachte. In der Erinnerung jetzt sehe ich die Poetin auftreten – in Weimar war es –, auftreten in der sorbischen Tracht, oder zumindest in einer Andeutung dessen, und wenn mein Gedächtnis mich trügt, soll mir das recht sein: die Folklore, und insbesondere wohl die sorbische, ist ja wohl auch noch anderes als „bloß Folklore“. Eine eigentümliche Souveränität strahlte dadurch, und nicht allein dadurch, von der Domašcyna aus, eine nicht gerade staatliche, aber auch nicht bloß individuelle; etwas wie eine ungezwungene, ruhige Repräsentanz, eher „undeutsch“. Und als ich danach im stillen einige ihrer Poeme las, fiel mir auch da als Hauptzug (oder, in ihrem Wort: „Hauptflöz“) das still und klar Widerständische, eine von einer starken Trauer betriebene Selbst- und Rechte-Beharrung auf. Die Kampfspielart der Róža Domašcyna, unterschieden von jener etwa des Jurij Koch: das beinahe herrische, oder eben souveräne Verteidigen und Ins-Licht-Halten der eigenen, der Landessprache, siehe vor allem das Gedicht, welches mit den entgegengesetzten Geschlechtern von sorbischen und deutschen Substantiva spielt – Existenz spielt: „Die tödin [sorb. „Tod“: smjerć, weiblich] kommt: die sprache verröchelt / ich benenne noch einmal die dinge / … die sonne gelegt in die wasser der flüssin… // jede sprache verendet mit einem menschen… / aber wortflöz ist erdflöz / ist das liegende und das hangende / an überhängen und bruchstellen / nistet die Füchsin…“ Und hier, im Sichneigen zur Landes- und, ja, Volkssprache trifft sie sich stillkämpferisch auch mit jenem ihrer poetischen Vorfahren, mit Jurij Chěžka, dessen Gedicht „Zelene Zet“ (Das grüne Zet) – als „Das grüne G“ übrigens von ihr ins Deutsche übertragen –, indem es allein aus dem speziellen sorbischen Konsonanten rhythmische Weltbilder, eben Dichtung, gewinnt, gleichsam für den Augenblick, die Drehscheibe der Łužica-Poesie, von den Anfängen bis jetzt, behauptet. Woher wohl solche sorbische Eigenständigkeit, ähnlich der eines von Anfang an Verwaisten, sehr früh auf sich selber Gestellten? Weil es für die Sorben, wieder anders als etwa für die Slowenen in Kärnten, nie ein Mutterland wie das Slowenien südlich der Karawanken, mit einer regelrechten Hauptstadt, Ljubljana, gab? (Das tschechische Prag, obwohl epochenweise eine Art Schutz- und/oder Leit-Macht, kam ebenso wie das polnische Warschau, allein durch die nichtidentische Sprache, als „Mutterland“ nie in Frage.) Weil das deutsche Meer rings um die sorbische Insel, fast allezeit alles andere als ein rechter, lebenlassender, fördernder Vormund war? Wie auch immer: Eigenständigkeit und, wie diese die Sorbenlyrik fast durchweg mitprägend, eine gewisse Jähheit, geradezu ein lyrischer Jähzorn, Gedichte immer wieder in der Form eines stillen, gegliederten Aufschreis (kein bloßes Wortspiel ist das): „Nur keine Einmischung!“ (meine Zeilen hier sind auf das Gegenteil einer Einmischung aus). Jähheit, die der Bedrängtheit eines kleinen Volks entspringt? Aber gibt es das, ein „kleines“ Volk? Inzwischen bin ich mehrere Male im Gebiet und im Land der Sorben gewesen. Keine Autorentreffen mehr waren der Anlaß, und wenn, dann nichtöffentliche, „unter vier Augen“, höchstens hier und dort ein kleiner Hund dabei. Im Weiler Horni Hajnk (etwa „Oberer Jäger“) habe ich mit Jurij Brězan aus seinem Waldrandhaus durch die mächtigen Gartenbäume durch auf eine Art Heidesteppe geschaut. In Budyšin hat Benedikt Dyrlich bedauert, nach der „Wende“ oder Wiedervereinigung für vier Jahre in den sächsischen Landtag gewählt, seine anfänglichen Gedichtaufbrüche so zaghaft weitergeführt zu haben. Ebenso in Budyšin hat mich Beno Budar, Vater ein unbekannter ukrainischer Soldat, durch den Dom St. Petri geführt, dessen Schiff zweigeteilt ist für die Katholiken und für die Protestanten. Und jüngst erst hat mir Kito Lorenc am Bach von Wuježk, seinem Wohndorf, mehr von der Struga, seinem Kindheitsbach, der ihn einst auf die Gedichtsprünge gebracht hatte, erzählt: „Die Prosa dazu steht mir noch bevor!“, und ich bin dann mit dem Herausgeber, Nachdichter und in erster Linie (oder Zeile) Dichter auf dem novemberdüsteren „Heiligen Berg der Sorben“, dem Granitrücken Richtung Böhmen, auf dem Czorneboh gewesen – eigentlich wohl „Schwarze Seite“, „Schwarze Flanke“, im Volkswillen aber „Schwarzer Gott“-Berg.
Und nicht wenig habe ich mich auch allein durch die Łužica bewegt. Die Oberlausitz ist ein zum Kreuz- und Quer- und vor allem Weitwandern verlockendes Täler- und Hügelland. (Die Niederlausitz steht noch bevor.) Führer: detaillierte Karten, usw., aber ebenso diese und jene sorbischen Schriften durch die Jahrhunderte, Schriftlichkeit, ohne welche die Lausitzer Sorben wie ihr einstiges Brudervolk in der Lüneburger Heide – der letzte Slawisch-Sprecher dort belegt im 18. Jahrhundert – längst im deutschen Meer untergegangen wären. Die Briefe der sorbischen Lehrerin Marja Grólmusec zum Beispiel, mit 48 Jahren 1944 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gestorben, haben mich auf den (Fuß)Weg nach Radibor/Radwor gebracht, das edle Dorf mit dem Weiße-Kreuze-Friedhof (und einem anders erbaulichen Gasthof), wo diese sorbische Schwester der Simone Weil sich zum Widerstand gegen das Hitlertum entschloß – aus ihren Gefängnisbriefen an die Schwester:
… der ganze holde Weihnachtszauber aller Völker und Länder gilt nur für die Glücklichen. Mir gilt er gar nichts mehr, wenn ich nicht mehr bei Dir und in unserem Dorf bin. Aber das Wort von der Verjüngung der greisenhaften Menschheit, das die missa in aurora so sehnsuchtsvoll spricht, das gilt für alle, ob sie daheim oder verbannt sind… und wird auch weitergehen, solange sich Menschen und Völker sehnen. Das semper et ubique der Messe hat nicht nur einen religiösen Sinn. Es hat darüber hinaus noch den Sinn, daß es uns immer wieder zum Ganzen führt…
Auszüge aus diesen herrlichen Briefen finden sich in jener anderen sorbischen Anthologie, welche Kito Lorenc schon 1981 unter dem Titel Serbska čitanka/Sorbisches Lesebuch im Verlag Philipp Reclam jun. zu Leipzig herausgegeben hat. Und mit ein Grund, daß ich hier daraus zitiere: der Wunsch oder das Bedürfnis nach einem Dritten, einem sorbischen Prosabuch, in dem, und das nicht bloß als Unter- und Beiton zu den Gedichten, auch die pěša rěř (sorb. für Prosa: zu-Fuß-, Fußgängersprache) aufspielt, etwa, als ein anderes Lesebuch-Beispiel hier noch, die Bienentheologie des sorbischen Priester-Gelehrten Hadam Bohachwal Šěrach aus dem 18. Jahrhundert:
Zu keiner Zeit kann man mehr verschiedene Töne hören als zur Schwarm-Zeit. Des Abends vor den Schwärmen hört man ein starkes Gesause, und viel helle durchdringende Töne. Das Gemurmele rührt von denen Arbeits-Bienen her, die… auf ewig voneinander Abschied nehmen; die hellen Töne aber von denen Königinnen, da die ältere die jüngere aus dem Stocke jagt…
Fragmentarisch ist alles, was ich im letzten Vierteljahrhundert vom Land der Sorben wie auch deren Schrifttum erfahren habe, und fragmentarisch wird es auch bleiben. So reich und vielfältig die von mir bis heute gelesenen Schriftzeugnisse sind: die Landschaft der Łužica, für den, der in ihr gegangen oder, sagen wir, als Osterreiter durch sie geritten ist (siehe „Folklore ist nicht nur Folklore“), rufe, vor allem in der Weite und Leere ihrer Bachtäler, noch nach mehr – nach unendlich mehr.
Die Lausitz ein Phantasieland? Ja; wenn auch nicht im Sinn des Phantastischen oder Sagenhaften, irgendeines schlafenden Königs oder Herrn der Ringe, vielmehr Phantasie als – an der Hand vielleicht gerade des Fragmentarischen – die wohl den stärksten Anstoß gebende, oder auch bloß („bloß“?) schubkräftigste, kräftigst anschubsende Stufe der Wirklichkeit; gewiß aber deren höchste wie hellste.
Peter Handke, Dezember 2003, Vorwort
Die erste und bisher einzige historisch angelegte deutsche Buchanthologie sorbischer Versdichtung, Jurij Brězans schmale Auswahl Sorbische Lyrik (Verlag Volk und Welt, Berlin 1954), liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Sie galt den Zeitgenossen nach dem Versuch der Nationalsozialisten, die sorbische Sprache endgültig auszutilgen, als „kulturpolitisches Geschehnis“ (F.C. Weiskopf). In den sechziger, siebziger Jahren erschienen umfangreichere polnische und tschechische Anthologien sorbischer Poesie, und die seit 1973 vom Bautzener Domowina-Verlag edierte Erbe- und Gegenwartsreihe Serbska poezija (bisher 50 Hefte) bietet schon einmal sorbischsprachigen Lesern einen sicheren Textfundus, aus dem bereits der Gedichtanteil des groß angelegten, zweisprachigen Sorbischen Lesebuchs (RUB, Leipzig 1981) schöpfen konnte. Jüngst erst publizierte Róža Domascyna, ebenfalls in sorbisch-deutscher Gegenüberstellung, einen Auswahlband zeitgenössischer sorbischer Lyrik (santera pantera, Edition Thanhäuser, Ottensheim an der Donau 2003), der auch Einblick in die zweisprachige Schreibpraxis heutiger sorbischer Autoren gewährt.
Zumindest einige unter ihnen verfassen „ein und dasselbe“ Gedicht sowohl in Sorbisch als auch auf Deutsch, wobei meist nicht schlechthin Nachdichtungen entstehen, sondern verschiedene „Autorfassungen“, und nicht immer läßt sich feststellen, welche die ursprüngliche war. Müßig wäre es demnach, solche deutschen Texte sorbischer Autoren (etwa durch einen Übersetzungsvermerk o.ä.) von ihren übrigen deutschen Originalen zu unterscheiden, die kein sorbischsprachiges Gegenstück haben und mit denen die Autoren ebenso wie mit den ersteren selbstverständlich auch der deutschen Literatur angehören.
Oft kommt es freilich selbst bei zweisprachig schreibenden Gegenwartsautoren noch vor, daß sie ihre sorbischen Gedichte ohne deutsche Entsprechung lassen, was bei Autoren der Vergangenheit zumindest seit der ,nationalen Wiedergeburt‘ die Regel war. Eher in der Minderzahl sind dagegen heute die ausschließlich sorbisch schreibenden Lyriker (im Gedichtteil und im Inhaltsverzeichnis der vorliegenden Anthologie an der Nennung von Übersetzern kenntlich). Indes gab es schon in früheren Zeiten stets einige sorbische Autoren, die ab und an auch deutsche Verse verfaßten, wie etwa Herta Wićazec, und daneben – als Sonderfälle – mit Wałtar und Surowin zwei Dichter deutscher Herkunft, die sich auch in die sorbischsprachige Literatur eingeschrieben haben. Wo es literarisch anging, sind solche Autoren in dieser Anthologie mit ihren deutschen Originalen vertreten, welche das Charakteristische dieser Dichter vor einer deutschen Lesermehrheit authentischer vermitteln als jede Nachdichtung.
Unter den lateinisch und/oder deutsch schreibenden Autoren aus Humanismus und Reformation kennt die sorbische Literaturgeschichte manch kräftigen Dichter, der ihr nach Geburt und Muttersprache zugehört. Einer von ihnen, der Pfarrer, Astronom und Naturforscher Albin Moller aus Straupitz bei Lübben, veröffentlichte 1574 in seinem „Wendischen Gesangbuch (…)“, dem ersten sorbischen Druck, auch „etliche Psalmen des Königs Davids“, auf Niedersorbisch „reimweise vertiret“.
Das Niedersorbische, von seinen Sprechern heute noch oder wieder gern „Wendisch“ genannt, war eine lange und unglückliche Geschichte hindurch stets der gefährdetere Sprachzweig und droht heute ganz wegzubrechen; so ist – die Anthologie verhehlt es nicht – eine Fortdauer und Verjüngung der niedersorbischen Poesie nach Mina Witkojc kaum noch zu gewärtigen, noch auch steht es dafür, eine (allenfalls beim Volks- und Kirchenlied vorhandene) äußere Parität gegenüber der reicheren, vielfältigeren obersorbischen Tradition zu behaupten. Gestalten wie der einer ausgestorbenen Lesart des Niedersorbischen angehörige K.F. Stempel, der wohl eine ganze obersorbische Dichterschule aufwiegt, mögen dafür entgelten. Er prägte 1863 das Wort von dem „wieder in etwas flott gewordenen Schifflein der Sprache“ und meinte damit sein Lehrgedicht von den „Drei tüchtigen Posaunen: Schall, Stimme und Sprache“, aus dem die Anthologie zwei unterschiedliche, mit einigem Zeitabstand unternommene Übersetzungsansätze von einer Hand vorstellt.
Der Quellen- und Rechtsnachweis im Anhang zeigt, wo ältere Nachdichtungen übernommen wurden, von denen die meisten dem o.g. Sorbischen Lesebuch entstammen. Wie auch die für die vorliegende Ausgabe sonderlich von Róža Domašcyna (oder gemeinsam mit ihr) erarbeiteten Übersetzungen waren sie dem Herausgeber wichtige Zugaben, auch als korrelate, ja korrektive Ergebnisse früherer oder andersartiger Übersetzungsweisen; wieder andere – so die von Leopold Haupt, Rudolf Mjeń oder Luise Hoffmann – dürften eher historisches Interesse beanspruchen.
Trotz der nicht geringen Vorleistungen und neben ihnen bot die neue Herausforderung genügend Anreiz und manchen Anlaß zu Selbstzweifel. Letzterer wollte auch überlistet sein, etwa beim Überdruß an hausgemachten literarhistorischen Zuordnungen und Wertungen: durch Aufreihung der einmal ausgewählten Autoren nach Geburtsjahren (siehe die Biographien im Anhang!). So stellen sich dar: neben den anonymen Sängern die fünfzig fleißigen Lehrer, Seelsorger und Studenten (wenig Frauen) aus den sieben Dörfern und fünf Städten, dazu das Dutzend Heutiger (mehr Frauen). Behutsame Gewichtungen immer noch möglich bei der Zuweisung von Gedichtplätzen, Unwägbarkeiten – nicht zuletzt übersetzerische – eingeschlossen, Überraschungen nicht ausgeschlossen. Harte Fügungen, Brüche riskiert, unvermeidliche Zeitvorgriffe und -rückgriffe bei einzelnen Gedichten manchmal befreiend wie Déjà-vu oder Prophetie (dort stehen dann die Entstehungsjahre bei den Texten).
Die Gedichte, möglichst vielgestaltig, sollten von der Insel berichten, die das Meer schluckt, sollten das Meer geschluckt haben und befahren, die Dichter sollten einander das Ruder übergeben, es voneinander nehmen.
Aber dann das anthologische Nachdichter-Schiffchen, zwischen dem einen und dem anderen Sprachufer: was immer es hinüberzubringen hofft – die Fracht entsteht während der Fahrt, ihr ,spezifisches Gewicht‘ erweist sich beim Übersetzen. Die Nachdichtung als Zeitmaschine zwischen den Raum-Zeiten der Literatursprachen. Manches Gedicht, dem es zuvor kaum anzusehen war, erlangt plötzlich Dichte, ein anderes verliert sie, wird gar über Bord geworfen. Wie weit sollte nachdichterische Freiheit gehen, um das Kontinuum Poesie zu wahren? (Ach, Nautik der Landratte, Physik des Reimschmieds!)
An einigen der Stellen, wo dies besonders frag-würdig erschien, stehen die Originale neben der Übersetzung, an anderen, wenigen, aus anderen Gründen der Dokumentation.
Der Herausgeber ist Hans Thill vom Verlag zu Dank verpflichtet, daß er der Suche Platz gab und ihr ein vorläufiges Ende bereiten half, aber auch weiteren, ungenannten Freunden und Förderern, sorbischen wie deutschen, für nützliche Einwände und Hinweise zu den Übersetzungen wie für technische Unterstützung bei der Herstellung des Manuskripts.
Kito Lorenc, August 2003, Vorwort
Das Schiff als Symbol der Reise durch Zeit und Raum gehört zu den ältesten Motiven der Weltliteratur. Auf der „navigatio vitae“ durchmisst der Mensch, so der Hl. Augustinus, das Meer des Lebens. Der angesteuerte Hafen wird dabei nicht immer erreicht: Zum Schiff gehört wie die glückliche Fahrt auch der Schiffbruch – umso wahrscheinlicher, je unfähiger die Steuerleute sind. Sebastian Brant sieht in seinem Narrenschiff (1494) die ganze Welt von Sittenlosigkeit und Verfall gezeichnet.
Schiffbrüchige landen, wenn sie Glück haben, bisweilen auf Inseln. Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) gelingt es dank seiner Rechtschaffenheit sogar, das düstere Schicksal des Gestrandeten in eine seltene Erfolgsgeschichte zu wandeln und nicht nur zu überleben, sondern als reicher und ehrenwerter Mann wieder nach Hause zurückzukehren. Zwischen Hesiods mythischer Idylle auf den „Inseln der Seligen“ und Franz Kafkas düsterer „Strafkolonie“ spannt sich ein weites Konnotationsfeld der ästhetischen Gestaltung menschlicher Existenz, zu deren Konstituenten schützende Geborgenheit ebenso zählt wie bedrückende Isolation.
Wie aber ist das Meer beschaffen, über das die metaphorischen Schiffe der vorgelegten Texte dahinziehen, aus dem die bildhaften Inseln ragen? Als Fundament für ein Koordinatensystem sorbischer Dichtung begründet es die Ambivalenz von Schiff und Insel als Modellen von Dynamik und Statik. Das Meer funktioniert als metaphorischer Austragungsort jener Konfrontation. Kaum eine Kultur ist um die Auseinandersetzung mit dem Meer herumgekommen – seit Shakespeares „Wintermärchen“ liegt bekanntlich sogar Böhmen am Meer. Gerade auf kleine Kulturen dürfte die Grenzenlosigkeit des Meeres besondere ästhetische Attraktivität ausüben, fügt sie doch der erhöhten Eindringlichkeit von Begrenztheit eine dringend benötigte topologische Opposition hinzu.
Die Tschechen erhielten in den 1950er Jahren mit dem Lipno-Stausee ihr „Südböhmisches Meer“ am Oberlauf der Moldau. In der nördlich an Böhmen angrenzenden Lausitz entstand – im Gefolge des intensivierten Braunkohletagebaus – ein „Oberlausitzer Meer“: das Speicherbecken Niedergurig/Burk. Die in der Lausitz ansässigen Sorben mussten die Metamorphose ihres Siedlungsraums in eine, nach der Auskohlung zunehmend touristisch genutzte, Seenlandschaft mit der fortgehenden Zerstörung ihrer traditionell dörflichen Lebensweise bezahlen: Auf dem Grund der zahlreichen künstlichen Seen liegen mitunter ganze Ortschaften – Wracks gleichsam, von denen bei Niedrigwasser bisweilen noch der Mast einer Kirchturmspitze hervorzulugen scheint. Das ästhetische Potential der Bildlichkeit von Meer, Insel und Schiff hat für die sorbische Kultur sehr konkreten und zunehmend existenziellen Charakter angenommen.
Sorbische Kultur als Exempel des Scheiterns und Zusammenbruchs zu zeigen wäre freilich völlig unangemessen – zeugt sie doch in seltener Transparenz vom Überlebenswillen und Beharrungsvermögen des westslawischen Volks, das sich schon im Mittelalter auf eindrucksvolle Weise dem Expansionsdrang der ostfränkischen bzw. deutschen Kolonisatoren widersetzt hat. Die Jahrhunderte langen Kämpfe zwischen Deutschen und Elbslawen, den Vorfahren der heutigen Sorben, haben sich in das kulturelle Gedächtnis beider Kontrahenten nachhaltig eingeschrieben. Der in Reissenberg personifizierten Dominanz der Macht wussten die Sorben bereits früh die Subversivität des Kleinen gegenüberzusetzen: Handrias ebnet die von dem Deutschen gezogenen Gräben der Unterdrückung Nacht für Nacht ein.
Sorbische Literatur ist seit ihren mündlichen, folkloristischen Anfängen vom Code des Antagonismus wesentlich geprägt. Dieser Code, der komplementär zur Abgrenzung nach außen maximale innere Einheitlichkeit verlangt, gewinnt seit der militärischen und politischen Unterwerfung der Sorben an Komplexität, da die deutschen Herrscher mit dem Christentum auch die Schriftlichkeit bringen. Der Antagonismus verlagert sich damit von der primären, gegenständlichen Ebene auf die sekundäre, vermittelte der Sprache. Das Bestehen sorbischer Kultur ist seit der Neuzeit an Erfolg oder Misserfolg im Bemühen um die Etablierung einer sorbischen Schriftsprache geknüpft, in der die Tradierung der überaus reichen mündlichen Literatur, aber auch die kreative Aufnahme neuer Impulse gesichert werden kann. Die sorbische Insel wird vor allem zur Sprach-Insel.
Die im 19. Jahrhundert fleißig gesammelten Zeugnisse weltlicher und religiöser sorbischer Dichtung dokumentieren – hierin der altpolnischen oder alttschechischen Literatur vergleichbar – die Integration des Menschen in die christlich überformte Natur. Maria besucht ihren eigenen Wallfahrtsort Rosenthal und kündigt im Gespräch mit Elisabeth die Geburt Christi für den Winter, jene des Johannes aber für den Sommer an. Der Winter sieht „die Meereswogen gerinnen“ und „die Vögel der Lüfte erfrieren“, der Sommer aber „die Meereswogen wallen“ und „die Vögel sich paaren“. Schon in der mündlichen sorbischen Kultur ist das Meeresmotiv deutlich zu sehen; als Symbol der Ewigkeit enthält es aber das differenzierende Moment der Insel noch nicht.
Im Humanismus entwickele sich, etwa bei italienischen und deutschen Autoren, der Nationalitätendiskurs auf gesamteuropäischer Ebene. Scholaren wie Jan Rak oder der auch für die slowakische Kulturgeschichte bedeutsame Jan Bok (Bocatius) prägen die lateinischsprachige Phase sorbischer Dichtung. Dem humanistischen Bildungsideal entsprechend zieht Caspar Peucer in seinem Idyllium Patria die Grenze zwischen Eigenem und fremdem entlang des „limes sorabicus“ zwischen christlicher und heidnischer Kultur: Bautzens Ritter stammen „zum Teil von deutschen, zum Teil von sorbischen Ahnen“ und verteidigen die Stadt gegen „wilder Sarmaten Schar“. Die Transzendierung des mythisch-folkloristischen Weltbildes mündet zunächst in die regionalspezifische, territoriale Identifikation mit der Lausitz.
Auf das 17. Jahrhundert datiert die Verstetigung sorbischer Anstrengungen um adäquate Ausdrucksmöglichkeiten in der eigenen Sprache. Autoren wie Jurij Ludovici, Michal und Abraham Frencel befördern mit Bibelübersetzungen, Grammatiken und kulturgeschichtlichen Forschungen nicht nur die Entstehung einer kodifizierten sorbischen Schriftsprache, sondern auch das Bewusstsein kultureller Identität. Ludovici rühmt Michal Frencels übersetzerisches Werk, dank dessen Jesus „zu uns armen Sündern spricht / sorbisch Wort, uns Sorben nun herrlich leuchtend übertragen.“ Bislang war dieses Wort ein lateinisches oder deutsches gewesen; nun hebt sich in der schriftlichen religiösen Literatur sorbische Kultur als sprachlich definierte zunehmend vom deutschen Hintergrund ab.
Die Aufklärung, die in der sorbischen Kultur stark vom Pietismus überlagert wird, bringt mit Jurij Mjeńs „Dichterlied“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den endgültigen Durchbruch: Das Sorbische ist nun hexametertauglich geworden und genügt – Mjeńs Klopstock-Übersetzungen demonstrieren es – sämtlichen Anforderungen an eine moderne Literatursprache. Flüssig und geschmeidig sei „diese herrliche Sprache“, so Mjeń, die man nicht „hülflos in Staub hin versinken“ lassen dürfe.
Für Mjeń leitet sich die Vollkommenheit des Sorbischen aus seiner Spendung durch Gott her. Neben der Folklore ist das zweite ideelle Zentrum sorbischer Dichtung im christlichen Weltmodell zu suchen. Die literarische Wiederentdeckung der Volksdichtung in Spätaufklärung und Romantik geschieht überwiegend aus der Perspektive des Geistlichen. Auch der Publizist Jan Dejka, Urheber des sorbischen Pressewesens, formuliert seinen Wunsch nach eigenständiger sorbischer Kulturentwicklung als Gebet: Gott soll wirken, „daß gut und wahrhaft aufgeklärt / der Sorbe fährt“. Kito Fryco Stempel, literarhistorisch als erratisches Phänomen in der sorbischen Dichtung des 19. Jahrhunderts erscheinend, erweist sich in seinen sprachphilosophischen Reflexionen als direkter Nachfahre der begeisterten Prediger vom Schlage Mjeńs. Das Sprachvermögen zeichnet den Menschen vor dem Tier aus. Kommunikation wird bei Stempel zum kulturellen Motor:
Wie viele Worte strömen doch am Tag
aus allen Mündern dieser Erde,
in Häusern, auf den Straßen und wo sonst
sich Menschen freundschaftlich begegnen!
Das erstarkte Sprachbewusstsein motiviert in Einzelfällen nun auch den Wechsel vom Deutschen zum Sorbischen. So entdeckt Johann Christian Koernig an seinem Studienort Leipzig die slawischen Wurzeln der Stadt. Er lässt in seiner „Elegie“ die Stadtgründer als Teil einer gewaltigen Woge namens Völkerwanderung nach Westen fließen und in einem Lindenwald, welcher der Stadt den Namen gibt, sesshaft werden. Sorbische Mythologie wird als distinktives Merkmal der Lausitz literaturfähig: Der heidnische Schwarze Gott, der sich im Mittelalter dem Christengott nur scheinbar geschlagen geben musste, waltet bei Hendrich Awgust Krygar wie ehedem über das Land.
In den Motivkreis sorbischer Dichtung rückt immer häufiger die Zeit in ihrer mythisch-zyklischen wie in ihrer rational-linearen Wahrnehmung. Das Jahrtausend sorbischer Existenz in der Lausitz soll die Fortdauer sorbischer Kultur in Gegenwart und Zukunft verbriefen. Ebensolche Strategien der Beschwörung von Dauer wählen zu Beginn des 19. Jahrhunderts tschechische und slowakische Autoren. Handrij Zejler, bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts der vielseitigste und produktivste sorbische Dichter, steht in Verbindung zu seinen slawischen Mitstreitern. Er führt die parallelen Stränge gelehrter und volkstümlicher Dichtung zu einer außerordentlich wirksamen Kombination zusammen. Nicht zufällig entstammt die sorbische Hymne „Auf die sorbische Lausitz“ seiner Feder. Dabei ist dem klassisch gebildeten Zejler die Fragilität zeitenthobenen Verharrens in der idyllischen Gegenwart durchaus bewusst: Dem lyrischen Ich in „Widerstände“ zerstört der „hungrige Vogel“ Zeit den noch nicht geflochtenen Blütenkranz. Zejler resigniert deshalb aber nicht; im „Sonett an mein Volk“, dem ersten sorbischen Sonett überhaupt, ermuntert er zur unverdrossenen, insbesondere literarischen Arbeit.
Der Aufruf zeigt Wirkung. Der Zejlerschen Generation entstammt eine ganze Gruppe literarisch tätiger sorbischer Intellektueller, die an die vereinzelten Zeugnisse sorbischer Kunstdichtung eine konstante, über die liedhafte Gestaltung weiterhin stark an Mündlichkeit orientierte Traditionslinie knüpfen. Ab jetzt ist die Rede von einem sorbischen literarischen Leben vollkommen angebracht. Es bedeutet in dieser Epoche des mutigen geistigen Aufbruchs einen umso herberen Rückschlag für die sorbische Kultur, wenn Jan Kilian und die mit ihm reisenden fünfhundert Menschen – für sorbische Verhältnisse eine ungemein große Zahl – das Stempelsche „Schifflein der Sprache“ ins Konkrete wenden und nach Texas auswandern, um dort wenige Jahrzehnte später zumindest sprachlich endgültig zu stranden. Beim Altlutheraner Kilian ist das Schiff nicht nur als augustinische Metapher zu verstehen. Aus materieller wie geistiger Not besteigen die Sorben das Schiff in der Hoffnung auf ein Gelobtes Land im Diesseits.
Die Daheimgebliebenen – es sind nach Zählungen des Sorabisten Arnost Muka gegen Ende des Jahrhunderts um die 160.000 – setzen die von Zejler begründete Linie sorbischer Dichtung fort. Während Julius Eduard Wjelan – der in lyrischer Prosa 1850 eine eigenartig anrührende Fassung des Motivs der Insel der Seligen vorstellt – das martialische Selbstopfer der Sorben im Toten Tal beschwört, akzentuiert neben Mikławš Jacsławk vor allem Jan Radyserb-Wjela mit seinen humoristischen Texten die in den politischen Verhältnissen der zweiten Jahrhunderthälfte besonders wichtige Fähigkeit sorbischer Kultur zu kritischer Distanz auch sich selbst gegenüber. Seinen „Prophezeiungen“ zufolge droht den Sorben durchaus nicht die Auslöschung, mögen auch ringsum die Erschütterungen groß sein:
Etliche Dampfer schluckt die See,
Vulkane platzen in die Höh’. (…)
In Zejlers Spur, auf lahmem Roß
erscheint der Epigonentroß…
Zu diesen emsigen, insgesamt jedoch wenig innovativen Epigonen zählen Koda Awgust Fiedler und Handrij Dučman. Letzterer sieht das Sorbenschiff bereits gestrandet, andere wie etwa Jan Ćěsla, der nach Zejler und Radyserb-Wjela wohl begabteste sorbische Dichter, schildern in Balladen oder Versepen wie „König Přibysław“ die historischen Niederlagen der elbslawischen Vorfahren. Zejlers Integration von Folklore und Kunstdichtung droht sich in formelhaft erstarrte Heldennostalgie einerseits, biedermeierliche Intimität andererseits zu spalten. Beides macht sorbische Kultur aber anfällig und schwächt die Dynamik ihres Zeichensystems angesichts des beständig wachsenden Germanisierungsdrucks. Die Zuversicht, die von Mjeń bis Zejler sorbische Dichtung ausgezeichnet hatte, bröckelt ab. Wjelan sieht mit Zejlers Todesjahr 1872 den sorbischen Frühling zu Ende gehen.
Repräsentativ für diesen Verlauf ist das Schicksal Mato Kosyks, der dreißig Jahre nach Jan Kilian den Weg in die Emigration wählt, nachdem ihm weder als Literat noch als Geistlicher die Etablierung in der niedersorbischen Heimat gelungen ist. Sein Bild des „Emigranten“ drückt den zeitgenössischen Zustand der sorbischen Kultur treffend aus:
O das Schiff, die Woge, die darüberschlug!
Wie sie bange überm Abgrund hingen!
Kosyks persönliche Rettung ist die Religion, in der seit jeher der Anker des sorbischen Schiffes vermutet wurde. Statt der – sehr beachtlichen – Hexameter aus seinem umfangreichen Frühwerk, meint Kosyk, werden seine Redaktionen niedersorbischer Kirchenlieder überdauern. Trost und Rettung aus der Verzagtheit bietet scheinbar nur die Hoffnung auf überirdischen Beistand.
Jakub Bart-Ćišinski, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein herausragendste sorbische Dichter, setzt jener Verzagtheit ein mutiges Selbstbekenntnis entgegen. Für ihn liegen die Entwicklungschancen sorbischer Literatur und Kultur in ästhetischer Perfektionierung und massivem gesellschaftlichem Engagement. Im Kampf um die Zukunft vom eigenen Rang fest überzeugt, ist der große Unbequeme sich sicher:
Leben wird der ,Unfug‘ meiner Lieder,
wenn viele Namen, die euch löblich klangen,
schon längst wie Schall und Rauch in Nichts vergangen.
Zejlers Grundlagenarbeit schätzt er, doch reicht sie ihm in der kulturellen und politischen Situation der Gegenwart nicht mehr hin. Von einer Nordseereise nachhaltig beeindruckt, formt er das Modell einer aktiven, bisweilen auch aggressiven sorbischen Kultur, die sich als wehrhafte Insel begreift und das Meer zu zähmen vermag. Der stummen, namenlosen Resignation seiner Zeitgenossen setzt Bart-Ćišinski in den – biblischen – Symbolen des Leuchtturms und des Felsens die Alternative einer selbstbewussten, auf ihre eigene Geschichte mit Recht stolzen Kultur entgegen, die autark Orientierungsfunktion übernimmt. Die sanfte Biegsamkeit, die Jurij Mjeń ein Jahrhundert zuvor am Sorbischen so gerühmt hatte, erscheint hier als metallische Härte:
Das Sorbenwort – heut schlägt es zu und geißelt,
und schlägt zurück und bricht sich stählern Bahn.
Bart-Ćišinski findet gewissermaßen eine hölzerne sorbische Dichtung vor und lässt eine eiserne zurück. Der sorbische Dichter stabilisiert innerhalb weniger Jahrzehnte das System der sorbischen Literatur so nachhaltig, dass diese ein ganzes weiteres Jahrhundert davon zehren kann. Der Verlust der inneren ideologischen Einheit scheint als Preis dafür nicht zu hoch, da die Opposition deutscher und sorbischer Kultur nun endlich eine ästhetische Formensprache gefunden hat. Sorbische Kultur erfährt in Bart-Ćišinskis Dichtung eine grundlegende Umcodierung hin zum auch konflikthaften inneren Dialog.
Zu den treuesten Anhängern Bart-Ćišinskis gehört mit Jan Wałtar der nach Koernig und Juro Surowin (Georg Sauerwein) dritte in der Anthologie vertretene sorbische Dichter deutscher Herkunft. Wendet Bart-Ćišinski den Blick nach Norden, so bietet Wałtar mit seinen Capri-Gedichten einen mediterranen Gegenpol zum schroffen Helgoland. Wałtar, der kurz nacheinander einen sorbischen und einen deutschen Gedichtband veröffentlicht, antizipiert am Ende des 19. Jahrhunderts die Option der Zweisprachigkeit sorbischer Dichtung, die im 20. Jahrhundert als kreative Verschmelzung die Eigenart sorbischer Kultur wesentlich mitbestimmt.
In symbolischen Welten bewegt sich die Dichtung Jakub Lorenc-Zalěskis, der mit dem lyrischen Prosatext „Die Insel der Vergessenen“ (1924), aber auch mit seinen Gedichten die Allegorie von Insel, Schiff und Meer in einer für die Moderne adäquaten Redaktion gestaltet. Das Gedicht „Die Insel der Vergessenen“ zeigt eine Eisscholle als seetaugliches Gefährt, auf welcher die Reise zur Heimstatt der aufgehobenen Differenz unternommen wird. Die „Lichtinsel ohne Schatten“ trägt in ihrer abstrakten, entgegenständlichten Anziehungskraft die Konturen einer neuen, ästhetischen Heimat sorbischer Kultur. Lorenc-Zalěskis dichterischer Zufluchtsort steht damit in krassem Gegensatz zu Jan Skalas „Verlassenem Hof“, dessen Brunnen verschmutzt ist, oder Marja Kubašec’ „Geschändetem Wald“, dessen Bäume als Galgen entwürdigt sind.
Mina Witkojc definiert, hierin Stempel aktualisierend, Kommunikation – besonders jene zwischen Dichtern – als Dynamisierung der Existenz:
Sprechen ist Fließen.
Die lautliche Ähnlichkeit von Sprache und Fluss im Sorbischen (bei Witkojc: rěc – rěcka) motiviert die Metamorphose der topographischen, in ihrer Regionalität begrenzten Insel zum ideographischen, über alle nur wünschbare Reichweite verfügenden Schiff. Bart-Ćišinski gilt dieser Prozess noch als verdächtig; das späte 19. Jahrhundert scheint die Befestigung der sorbischen Sprachinsel mit parnassischen Barrikaden als sinnvolle Alternative zuzulassen. Die Zwischenkriegszeit zeigt aber deutlich die Notwendigkeit zum flexiblen Einsatz des von Bart-Ćišinski geschaffenen Materials. Im 20. Jahrhundert wagt sorbische Dichtung den Schritt vom zunehmend bedrohten Land auf das Schiff; ihre literarhistorische Reise wird dadurch zu einem ungemein spannenden Vorgang. Jurij Chěžkas „grüne Untiefen“ treten an die Stelle des Traums vom ungestörten Leben auf der paradiesischen Insel.
Chěžka, dessen Dichtung außerordentlich stark vom tschechischen Poetismus beeinflusst ist, unterbreitet in seiner „Poesie der kleinen Kammer“ den Vorschlag eines unbehausten und dennoch nicht heimatlosen sorbischen Kulturmodells: Der Zeichenträger der sorbischen Sprache, im „grünen Zet“ repräsentiert, begleitet das lyrische Subjekt auf seiner irdischen Fahrt. Heimat ist „ein lebendiges Grab“, „schön wie im Mai die Nacht / ohne Sterne“. Die Sorben sind „Todessöhne“. Aus Bart-Ćišinskis radikaler Opposition von Eigenem und Fremdem erwächst in Chěžkas Werk die Paradoxie der Existenz der Sorben in der Moderne, die als Totgesagte sich doch nicht ins Grab legen wollen.
Die sorbische Dichtung der letzten Jahrzehnte kann aus einem vielfältigen Spektrum von Möglichkeiten wählen. Neben die traditionelle, auf den Code von volkstümlicher und religiöser Literatur bezogene Variante tritt jene der zeichenhaften Weltaneignung. In der kreativen Umdeutung von Verlusterfahrungen bleibt die eigene kulturelle Vergangenheit, deren Erschließung nach dem Zweiten Weltkrieg durch die erstmalige Institutionalisierung wissenschaftlicher Sorabistik eine ungemeine Beschleunigung erfährt, als unveräußerlicher Grundstock sorbischer kultureller Identität auf andere Weise als etwa in der deutschen Kultur erhalten. So können etwa Jurij Brězan, Jurij Młynk oder Jurij Koch an die Tradition sorbischer Naturlyrik anschließen. Kochs „Cereus grandiflorus“ verbindet dabei die Affirmation der Naturschönheit mit der nicht nur für die sorbische Kultur kennzeichnenden Angst vor dem Verschwinden. Sorbische Kultur ist, wenn sie wie die „Königin der Nacht“ nur einmal blüht, massiv gefährdet. Es ist an den Dichtern und – zunehmend – Dichterinnen, sie vor dem Schicksal des Momentanen zu bewahren.
Den entscheidenden Anteil am Gelingen dieses Unternehmens hat Kito Lorenc. In seinem Schaffen spiegelt sich praktisch die gesamte sorbische Kulturgeschichte von den Anfängen in der Folklore über religiös-metaphysische Gelehrtendichtung, den romantischen Aufbruch der Zejler-Generation, die „olympische Klarheit“ Bart-Ćišinskis und die spannungsgeladene Ästhetik Chezkas. Komplexität und künstlerischer Reiz seiner Dichtung wachsen zusätzlich durch die bislang nur in Ansätzen poetisch genutzte Herausforderung sorbisch-deutscher Zweisprachigkeit. Lorenc spielt in seinem Drama Die wendische Schiffahrt mit den Ambivalenzen der Metapherngruppe von Insel, Schiff und Meer. Dabei gelten die fixierten Zuordnungen von Subjekt und Objekt in ihrer landläufigen Voraussetzungslosigkeit nicht länger, wie er in seinem Essay „Die Insel schluckt das Meer“ demonstriert. Zur poetischen Grundfigur wird bei Lorenc die permanente Überschreitung. Aus Schleife (Slěpe) stammend, stößt er aus dem sprachlichen Zwischenraum zwischen schriftsprachlichem Ober- und Niedersorbisch und damit aus einem gleichsam unbesetzten Zentrum in die Randbereiche sorbischer Literatursprache vor. Mina Witkojc’ Sicht auf Sprache als Fluss setzt er in „Struga“ zum klanglichen Bild einer in konstanter Transformation befindlichen sorbischen Kultur fort:
Die Struga
in uns eine Saite, wie tönt sie. Ich geh
sie zu stimmen, heut
geh ich zur Quelle.
Mochte Bart-Ćišinskis Dichtung bisweilen geradezu den Eindruck des Draufgängertums vermitteln, so bietet sich für Lorenc’ Dichtung der Begriff der Furchtlosigkeit an. Dank deren geradezu sprachmagischer Fähigkeiten tritt die Gefahr der Sublimation in der deutschen Einsprachigkeit vor der Faszination der schillernden Buntheit eines mehrsprachigen poetischen Raumes zurück. Humor – eine häufig übersehene Qualität sorbischer Dichtung – überwindet das gewichtige Pathos des verordneten Patriotismus, der in seiner sozialistischen Fassung nicht selten in den „Massenauflagen (…) der fröhlich blöden zwei Silben zur jeweils schönen Maienzeit“ („Anonymer Schimpf“, aus dem Band Gegen den großen Popanz, 1990) lukrativ umgesetzt wurde. Lorenc hält sich an den nahrhafteren Buchweizen, der auf Sorbisch als „hejduška“ – als Grütze verzehrt und in der Verschmelzung von Deutsch und Sorbisch folgerichtig zur „Buchgrütze“ mit anthologischer Blumendekoration wird. „WORTSPIELE SIND NICHT ÜBERTRAGBAR“, da sie bei Lorenc allererst in der Verflechtung von deutscher und sorbischer Idiomatik Wirksamkeit zeigen. Lorenc’ Dichtung setzt in dieser Hinsicht das von Bart-Ćišinski so hartnäckig betriebene Projekt der Sicherung des Sorbischen in seiner Unentbehrlichkeit mit modernen Mitteln um: Die kleine Sprache bleibt in der großen enthalten, ja ermöglicht erst deren poetische Bereicherung um Metaphern wie den „weißen Tag“, der im Sorbischen ,bloß‘ hellicht ist. Auch Beno Budars „Weiße Trauer“ ruht auf dieser Prämisse: Sorbische Dichtung kehrt die unterstellte Nutzlosigkeit der Kleinsprache in offenkundig unerschöpflichen poetischen Mehrwert um.
Die Vernetzung des Sorbischen mit dem Deutschen bewahrt ihre Attraktivität, wenn sie nicht aus Not, sondern aus Fülle geboren ist. Die Expressivität sorbisch einsprachiger Dichtung nutzen Marja Krawcec oder Tomasz Nawka, während Benedikt Dyrlich das „Ende des Alleinseins inmitten der Landschaft“ als Neuanfang einer engagierten Dichtung im Sinne Bart-Ćišinskis begreife. Besonders in der Gegenwart ist der sorbische Mensch ein politischer Mensch – nicht zuletzt in Dyrlichs erotischen Gedichten führt diese Überzeugung zur klaren Stellungnahme auf Seiten der Kunst und gegen den Opportunismus der „hof- und heimatdichter“, denen „täglich / ihr mittagessen sowie hin und wieder etwas / gereimtes im bett in deutscher (oder auch sorbischer) sprache“ hinreicht.
Dyrlich beschreibt die sorbischen „ängste / um die insel“, deren Bewohner nach wie vor in idyllischen Unversehrtheitsphantasien befangen seien. Róža Domašcyna, deren Dichtung noch stärker als jene Dyrlichs von erotischer Bildlichkeit geprägt ist, wandelt die Opposition von Drohenden und Bedrohten zur pluralen Symbiose. Bei ihr weiß das lyrische Ich:
du brauchst mich, freund, denn ich bin gut für dich.
Teilung führt in Domašcynas Gedichten nicht zur Trennung, sondern zur Doppelung. Was „selbstredend“ beginnt und sich „selbzweit“ fortsetzt, wird im diachronen Blick zur Zukunftsgarantie „selbdritt“. Die dichterische Generationenfolge bleibt so erhalten. Der Tod der „verröchelnden“ Sprache ist poetisch ausgeschlossen, denn:
jede sprache verendet mit einem menschen
doch wenn du ihn nachahmst läßt du ihn
auferstehn in deiner person
Das kann im mutigen Experiment bis zur Schaffung einer „Drittsprache“ führen, in der sorbische Lexik mit dem deutschen Graphembestand verschmilzt, in der Fluss und Kopf getreu der sorbischen Grammatik zu Flüssin und Köpfin werden. Die Konzentration auf den lautlichen Aspekt des Wortes zeigt die in der sorbischen Dichtung manifeste Vorliebe für das Kling-Gedicht in neuen Formen. Domašcynas intensive Beschäftigung mit mündlicher sorbischer Folklore bewirkt auch die Transformation und Modernisierung romantischer Gattungen wie der Ballade.
Den kulturellen, sprachlichen und ästhetischen Spagat aus der reproduzierenden Gymnastikübung in eine innovative künstlerische Figur zu verwandeln, gelingt in der sorbischen Dichtung der Gegenwart überwiegend Frauen. Měrana Cuscyna lässt sich von Bart-Ćišinskis „tintengeistjubel“, seinen „federgedanken“ inspirieren, Lubina Hajduk-Veljkovićowa gestaltet energiegeladene Bilder der Körperlichkeit (das „kugelherz“ im „feuerbauch“), Hanka Jenčec inszeniert die Interaktion von Mensch und Natur im Austausch von Kirschen und Gedichten.
Das vorliegende Panorama umspannt die frühesten Anfänge und die aktuelle Gegenwart sorbischer Dichtung und zeigt ihren quasi amphibischen Charakter. Die Figur des Alfons Bauer verfügt in Lorenc’ Wendischer Schiffahrt über eine Hand mit Schwimmhäuten und plant, die Lausitz schiffbar zu machen. Der deutsch-sorbische Antagonismus löst sich in der poetischen Überwindung stereotyper Eigen- und Fremdbilder zugunsten einer symbiotischen Koexistenz auf. Das quantitativ übermächtige Meer, das der Insel Stück um Stück entreißt und sie in der totalen Assimilation zuletzt vernichtet, transformiert sich zur dienstbar gemachten Elementarnatur. In der Synopse mehrerer Jahrhunderte wird dieser erstaunliche Vorgang transparent: Der poetische Reichtum der Zeichen kompensiert die im Verlauf der politischen und sozialen Geschichte entstandenen Schäden. Schon in Lessings Drama Der junge Gelehrte weiß sich der sorbische Diener Anton seinem eitlen deutschen Herrn überlegen:
Ich kann Sorbisch, und das können Sie nicht.
Die Dichtung als wohl größter Speicher des sorbischen kulturellen Gedächtnisses ist sowohl Fahrzeug als auch Treibstoff, Modell und Praxis sorbischen Umgangs mit der Erfahrung von Endlichkeit. Wohl nur wenige Literaturen verfügen über eine so beachtliche epochenübergreifende Tradition des Nachdenkens über Dauer und Vergänglichkeit, der Verteidigung von Kleinheit als Wert um ihrer selbst willen, der Identitätssuche im Zwischenraum. In ihrer Dichtung besitzt die sorbische Kultur eine zukunftstaugliche ,Überlebensmaschine‘, deren Offenheit ihr ein Vorschlagsrecht für die Konzeption von Weltkultur, innerhalb derer perspektivabhängig letztlich alle Kulturen klein werden, einräumt. Es lohnt sich, an diesem in poetische Form gegossenen Erfahrungsvorsprung zu partizipieren.
Christian Prunitsch, Nachwort
Ulf Heise: Zwang zur Genauigkeit: Am Montag feiert Kito Lorenc seinen 75. Geburtstag
Leipziger Volkszeitung, 4.3.2013
Kito Lorenc und Miodrag Pavlovic erhalten den Petrarca-Preis 2012.
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