Klaus Baumgärtner: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Literatur wird durchforscht werden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Literatur wird durchforscht werden“ aus Bertolt Brecht: Hundert Gedichte. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Die Literatur wird durchforscht werden

1
Die auf die goldenen Stühle gesetzt sind, zu schreiben
Werden gefragt werden nach denen, die
Ihnen die Röcke webten.
Nicht nach ihren erhabenen Gedanken
Werden ihre Bücher durchforscht werden, sondern
Irgendein beiläufiger Satz, der schließen läßt
Auf eine Eigenart derer, die Röcke webten
Wird mit Interesse gelesen werden, denn hier mag es sich um Züge
Der berühmten Ahnen handeln.

Ganze Literaturen
In erlesenen Ausdrücken verfaßt
Werden durchsucht werden nach Anzeichen
Daß da auch Aufrührer gelebt haben, wo Unterdrückung war.
Flehentliche Anrufe überirdischer Wesen
Werden beweisen, daß da Irdische über Irdischen gesessen sind.
Köstliche Musik der Worte wird nur berichten
Daß da für viele kein Essen war.

2
Aber in jener Zeit werden gepriesen werden
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die unter den Niedrigen saßen
Die bei den Kämpfern saßen.

Die von den Leiden der Niedrigen berichteten
Die von den Taten der Kämpfer berichteten
Kunstvoll. In der edlen Sprache
Vordem reserviert
Der Verherrlichung der Könige.

Ihre Beschreibungen der Mißstände und ihre Aufrufe
Werden noch den Daumenabdruck
Der Niedrigen tragen. Denn diesen
Wurden sie übermittelt, diese
Trugen sie weiter unter dem durchschwitzten Hemd
Durch die Kordone der Polizisten
Zu ihresgleichen.

Ja, es wird eine Zeit geben, wo
Diese Klugen und Freundlichen
Zornigen und Hoffnungsvollen
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die umringt waren von Niedrigen und Kämpfern
Öffentlich gepriesen werden.

 

Interpretation und Analyse

1
Wer sich mit der Analyse poetischer Texte beschäftigen will, wird auf eine Verfahrensweise stoßen, die unter dem allgemeinen Begriff der literarischen Interpretation heute das Feld fast unumschränkt beherrscht. Gemeint ist hier nicht die aufschlußreiche Reduktion bestimmter Elemente eines Werks auf die biographischen Fakten des Autors, auf seine Haltung zur Wirklichkeit, im einzelnen wie im ganzen, oder auf die soziale Situation einer Werk-Entstehung. Gemeint ist auch nicht die philologische Anstrengung, gesonderte Bedeutungen ausfindig zu machen in der einen bestimmten Novelle oder Ballade und sie durch Vergleich genau zu bestimmen im Gesamtwerk ihres Autors oder im Gesamtgebrauch ihrer Zeit – was im Grenzfall hinauslaufen mag auf die schon gegebene Übersetzung von älterem „arbeit“ durch „Mühe“. Gemeint ist vielmehr jene verbreitete Technik der Interpretation, die trotz gelegentlicher historischer Argumente ihren Zweck nicht im Verständnis der Geschichte sieht, sondern allein im Verständnis des Kunstwerks selbst. Sie zielt auf die literarische Praxis und ist so die Technik des Kritikers und des Pädagogen. Sie ist mit großer Ernsthaftigkeit betrieben worden und hat sich in kurzer Zeit Feinheiten der Beschreibung angeeignet, die noch die kleinste Nuance aufzugreifen scheinen. Sie müßte allen heute möglichen Ansprüchen, die angemessene Deskription der Sache zu bieten, vollkommen genügen.
Daß sich aber dieses interpretatorische Verfahren allein auf den einen Text richtet und sich dabei keinem verbindlichen Maßstab unterwirft, hat ausgedehnte Folgen. Es kann zweckmäßig sein, daß einmal nicht danach gefragt wird, was der Autor zu sagen versuchte oder zu sagen vermeinte und was, nach allen vorhandenen Beweisstücken, vergangene Zeiten und Interessen darunter verstehen mußten. Anstelle dessen aber wird nur gefragt, was der Text dem Interpreten sagt, mit dem Anspruch des Jetzt und Immer. Und da es so keinen Gesichtspunkt gibt, unter dem die Bedeutungen und Elemente des Textes wichtig werden könnten, resultiert daraus der Zwang, sie nach Willkür einzeln zu behandeln oder ihnen allen den gleichen Rang zuzuerkennen und ihren einzigen Zusammenhang, eben den Text, als ein organisches Gebilde zu erklären, scheinbar vollkommen unabhängig. Die Interpretation, die heute in vielen Einzelstudien vorherrscht, bezahlt ihre schöne Stimmigkeit mit dem Verzicht auf die komplexen sozialen Zusammenhänge und also mit dem Verzicht auf solche Kategorien, die praktisch überprüfbar wären. Emil Staiger, der die Methode mit dem Ziel einer neuen Grundlegung verfolgt hat, war sich der Einsamkeit dieses interpretatorischen Prinzips durchaus bewußt. Zwar sperrt er die Interpretation nicht von allen historischen Aspekten ab und läßt deutliche Gegensätze erkennen zu denen, die sich auf ihn berufen, aber er begreift sie dennoch als ganz naturnotwendig so:

Ich sehe nämlich doch immer nur das, was mir persönlich zu sehen vergönnt, was mir in der ersten echten Begegnung am Kunstwerk aufgegangen ist… Ich habe mein Gefühl geprüft und habe den Nachweis erbracht, daß es stimmt. Nun mag ein anderer kommen, eine andere Auslegung versuchen und seinerseits den Nachweis erbringen, daß sein Gefühl ihn nicht getäuscht hat.1

Und Staiger gesteht ein und begründet:

Das allersubjektivste Gefühl gilt als Basis der wissenschaftlichen Arbeit! Ich kann und will es nicht leugnen. Ich glaube jedoch, dieses ,subjektive‘ Gefühl vertrage sich mit der Wissenschaft – der Literaturwissenschaft! – sehr wohl, ja sie komme nur so zu ihrem Recht. Wird uns nicht immer wieder versichert, das Dichterische entziehe sich dem Verstand und seinen allgemeingültigen Sätzen und bleibe jenseits kausaler Erklärung?2

Schon vorher hatte Wolfgang Kayser Konzepte wie dieses als unzulänglich kritisiert und den Versuch einer gültigen Bewertung gemacht, indem er an das literarische Werk Kriterien von außen legte: die Wirkungsdauer, die Breitenwirkung, die ästhetische Vollendung, die Weltanschauung, die Echtheit. Aber als dieser Versuch ihm ergebnislos erschien und er wieder den nüchternen Einsatz des hermeneutischen Prinzips vorschlug,3 blieb er dem Grundsatz der interpretatorischen Methode doch verhaftet: aller wirklichen Nachweise enthoben, gestattet sie so viele Deutungen zu einem Text, wie es Subjekte zu ihm gibt. Sie findet sehr unterschiedliches Bewußtsein in der Wirklichkeit vor, erhebt aber diese Ebene, den psychischen Relativismus, der selbst einzubeziehen wäre in die Untersuchung, zu einem wissenschaftlichen Verfahren gegenüber Literatur.
Verhielte die Interpretation sich wirklich so willkürlich, wie sie sich methodisch präsentiert, so müßte sie uns beispielsweise Brechts be  kannte Strophe aus dem Finale des „Dreigroschenfilms“

Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht

einmal anbieten können in der mitleidbewegten Ausdeutung eines Hetärenschicksals, dann vielleicht als Naturverwobenheit mit einem Blick auf den besonnten Apfelbaum, dann vielleicht als das Heroische im Bilde eines Alpenpanoramas; es kann der Nachweis erbracht werden, daß der bloße Text solche Vorstellungen zumindest nicht verbietet. Was an Interpretation begegnet, ist aber doch vor völliger Beliebigkeit geschützt durch die begrenzte Zahl der Standpunkte und Interessen, auf welche sich die vielen individuellen Meinungen gerade im literarischen Bereich zurückführen lassen. An sich selber könnte sie sehr leicht eine Tendenz wahrnehmen, die fehlenden Beweise auszuborgen beim Wort  und Bildschatz bestimmter Philosopheme. Aus einem Satz Kafkas wie dem der „Verwandlung“: „Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch“, im Kontext nachlesbar als kurzer erzählerischer Schritt in einer konkret fixierten Situation, wird jenes Bruchstück vom „allgemeinen Hellerwerden“ herausgegriffen, wird aufgetan als große Chiffre und ausgestattet mit einer fatalen Bedeutung für den Menschen schlechthin: „Gregors Tod ist das Bestehen seiner letzten Möglichkeit, das ihn zugleich vom In-der-Welt-Sein befreit… Der Schimmer des Lichtes trifft die verdorrte Hülle und mit ihr den durchlittenen Erdengang. Er kann offenbar nur da aufleuchten, wo der ausbrennt, dem das Scheinen gilt, weil es anderen Brandstoff nicht gibt“, worauf frei geschlossen wird:

Gregors Schwinden ist also sein Bekenntnis zum Reich des Geistes.4

Friedrich Beißner hat solches bunte Interpretieren gerade am Muster Kafka pariert, und das nicht im Versuch, Kafkas Haltungen und Texte seinerseits irgendeinem Philosophem zu unterwerfen, sondern vom Standort ihrer Wirkung aus.5 Auf den Aspekt der Wirkung jedoch sieht sich das interpretatorische Verfahren von selbst verwiesen, sobald nicht allein die Bedeutungen, sondern zugleich die poetischen Elemente interessieren sollen. Etwa Mörikes „Mir entstürzte, vor Lust zitternd, das meinige fast“, zweiter Vers des Gedichts „Am Rheinfall“, wird da phonetisch ausgedeutet:

Die freudige, lustvolle Bewegtheit der Zeile resultiert aus der hellen Vokalskala (i, ü, u, i, ei, a).

Diese dem Anschein nach exakte Aussage beachtet aber in keiner Weise die funktionale Eigenart der Phoneme einer Sprache. Und daß sie nicht weniger willkürlich und subjektiv entschieden wurde als alles gewichtig Philosophische, erweist sich sogleich an der Erläuterung des neunten und zehnten Verses, des letzten Distichons. Von „Angst umzieht dir den Busen mit eins, und, wie du es denkest, / Über das Haupt stürzt dir kramend das Himmelsgewölb!“ heißt es nämlich:

Das Bedrohliche dringt infolge des Wechsels zwischen hellen und dunklen Vokalen auf uns ein. Das Gefühl der Angst ist Sprache geworden.6

Ordnet man nun die drei zitierten Verse mit ihren betonten Vokalen zueinander, so erhält man dieses Schema:

i        ü        u        i        ei        a

a       i         u       ei        i         e

ü       au      ü       a        i         ö

Wer sollte davor Auskunft geben können, in welcher der Reihen die dunkle oder helle Bedeutung gelten muß und in welcher das Dunkle und Helle in einem sinnvollen Wechsel stehen? Und das verdeutlicht: die drei Reihen könnten unterschiedslos ebenso lustvoll wie auch bedrohlich und voller Angst sein, denn sie sind nichts von alledem. Was ihnen als Ausdruck aufgebürdet wird, ist bloße Wirkung der Semantik dieser Verse, und nur, da deren Bestimmung nicht systematisch gegeben ist, tritt ein Urteil ein von scheinbar nüchternster Systematik und Treue gegenüber dem poetischen Material.
Die literarische Interpretation kann zwar für sich in Anspruch nehmen, ihre Beliebtheit gründe sich auf ungemein breite pädagogische Effekte. In der Tat hat sie sich mit ihrer Methode den Grundzug restloser Plausibilität gesichert. Was aber an ihr vor aller Diskussion stutzig machen sollte, ist ihre Fraglosigkeit und Lückenlosigkeit, das Ausbleiben des Versuchs, der Hypothese, gerade der Diskussion. Sie rechnet an keiner Stelle mit den historisch bedingten Anschauungs-, Kenntnis- und Erkenntnisgrenzen. Das dem Subjekt Evidente ist eben wirklich nichts als da und braucht nicht erst durch anderes gestützt und überprüft, vielleicht geändert und dann bewiesen zu werden. Aber damit ist zugleich über seine Fähigkeit geurteilt, Maßstäbe abzugeben. Könnte und wollte man der Interpretation als einzigen Zweck einräumen, demjenigen, der nicht vermag oder nicht möchte, beliebige Empfindung und Einstellung gegenüber einem Kunstwerk behutsam vorzuschießen, dann allerdings wäre sie ganz im Recht und hätte ihre Ziele längst erreicht.

So wird man bei der Analyse poetischer Texte, will man sie nicht allein auf unmittelbare Erfahrungen stellen, der interpretatorischen Methode mißtrauen müssen und sich erneut die Kategorien historischer Methodik zunutze machen. Gerade an diesem Punkt jedoch ist man gezwungen, ein Scheitern als eine Frage anzusehen. Denn nach wie vor besteht die Absicht, den Text nicht nur zu erforschen als einen wichtigen Beleg für die Geschichte der Gesellschaft, sondern innerhalb dieser Geschichte in seiner Qualität als Poesie. Notwendig ist dazu, jede willkürliche Deutung – etwa der isolierten Strophe aus Brechts „Dreigroschenfilm“ – so weit wie möglich auszuschließen. Man kann, um im Beispiel zu bleiben, feststellen, aus welchem Zusammenhang diese Strophe stammt, mit welchen Intentionen Brecht sich an die Arbeit gemacht und auf wen er diese Intentionen gerichtet hatte, nach Möglichkeit sogar, warum Brecht da gerade diese und keine anderen Intentionen haben konnte oder mußte. (Das allein ist schon ein Studium sehr verwickelter Beziehungen.) Die historische Analyse wird dann den Versuch machen, die Wirkung dieser Strophe zu bestimmen, die auftrat bei den einen und bei den anderen nicht, und sie wird dabei nach den sozialen Gründen fragen. (Das kann erklären helfen, warum die „einen“ und die „andern“ des Textes nicht identisch waren mit den einen und den anderen des Erfolgs.) Weiter wäre zu verfolgen, wie sich die Wirkung änderte auf Grund sich ändernder sozialer Situationen, sozialer Interessen und damit – wahrscheinlich – auch in ihrer Intensität. So wird im ganzen zu konstatieren sein, welche sich wandelnde Funktion der Text bis heute besessen hat; aber hier endlich stellt sich die Frage, was gerade diesen poetischen Text zu dieser Funktion befähigt hat im Unterschied zu irgendeiner anderen Äußerung des gleichen Sinnes, einer politischen, einer philosophischen, einer gleichfalls poetischen und so fort. Die Antwort wird lauten müssen: diese oder jene soziale Wirkung mußte sich nicht allein ergeben infolge der prägnanten und einschlagenden Bedeutung „es gibt zwei Arten von Leuten, von denen die eine in Erscheinung tritt, aber die andere nicht“ – sondern die Wirkung dieser Bedeutung in einer solchen bestimmten Weise und Stärke ergab sich vor allem aus der Benutzung von Mitteln der Poetik, durch den Kontrast und die Wiederholung von Begriffen einer bestimmten Deutlichkeit an gleicher Stelle im syntaktischen Muster (was optisch ihrer Stellung in der Zeile entspricht), dies alles rhythmisch organisiert und durch den Reim gebunden. Es muß somit zweierlei geklärt werden: erstens die Funktion eines Textes und zweitens die Form seines Funktionierens. Diese beiden Ebenen sind als komplementär aufzufassen, und ihre Entsprechung ist zu vergleichen mit dem Verhältnis, das bei einem Wirtschaftssystem zwischen der Beschreibung seiner besonderen Rolle in der Geschichte der Gesellschaft und der Beschreibung seiner inneren Faktoren und Gesetze existiert. Das läßt sich gleichfalls wiedererkennen in dem Verhältnis der deutschen Lautgeschichte zum deutschen Lautsystem etwa der Gegenwart oder in dem Verhältnis, das zwischen der Geschichte des Rechts und der Darstellung eines bürgerlichen Rechtssystems besteht. Die Beziehung beider Aspekte, des diachronischen zum synchronischen, läßt sich aber nicht als einseitige Hierarchie, sondern nur als wechselseitige Abhängigkeit auffassen: die Darstellung der einen Ebene erklärt und stützt die Darstellung der anderen.
In solchem Verhältnis gesehen, bedarf die Analyse eines poetischen Textes eines ganzen Systems poetischer Faktoren und Bezugsgesetze. Daß dieses System selbst den historischen Veränderungen unterliegt, versteht sich dabei von selbst; es kann nur das enthalten, was an poetischen Faktoren und Beziehungen zu einer bestimmten Zeit soziale Konvention ist. Eine solche Analyse wäre dann aber nicht, wie noch die Interpretation, die Aufzeichnung von Wirkungen auf mich allein, sondern sie könnte die Beschreibung darstellen aller realen Wirkungselemente in ihrem Zusammenhang, bezogen auf das in diesem Stadium sozial gegebene System.
So abstrakt und vielleicht neuartig sich dieser Gedanke darstellen mag, so wenig ist er heute etwas vollständig Neues. In den vielen gründlichen Katalogen stilistischer Modelle, in den Darstellungen des Stils bestimmter Dichter, in den Versschulen und Poetiken ruht ungemein reiches Material, vielfach  schon so  aufgeordnet, daß es nur  in Beziehung gesetzt zu werden brauchte unter diesem Gesichtspunkt totaler Systematisierung. Und der Gesichtspunkt selbst wird immer mehr zum Ausgangspunkt der Forschung. Schließlich verlangt die auf einigen Gebieten der Praxis schon verwirklichte Theorie der Übersetzungsautomaten gerade nach einem solchen poetischen System, das man dem sprachlichen System zuordnen könnte, um belletristische Texte gleichwertig wiederzugeben. I.K. Belskaya von der Moskauer Arbeitsstelle für Maschinenübersetzung hat die Notwendigkeit und Möglichkeit solcher Formalisierungen deutlich bestätigt:

In this light, the supposed ,principal informalizability‘ of poetry should be rejected. Contrary to this supposition, poetry, as indeed any piece of literary art where formal elements are of no minor importance, is particularly susceptible to machine translation, in this sense.7

Anforderungen von so praktischer Bedeutung wird man die Arbeit an der Poetik unterwerfen müssen. Sie wird damit nicht verengt werden in ihrem Bereich, und sie wird auch nicht abgeschnitten werden von dem, was sowieso zu tun gewesen wäre.
Die Richtung des Vorgehens ist schon angedeutet: die Analyse poetischer Beziehungen kann nicht betrieben werden, ohne sie durch die Analyse der Sprache zu fundieren oder sie ganz und gar als einen Teilaspekt sprachlicher Analyse anzusehen. Tatsächlich funktionieren diese Beziehungen nicht als Dreingabe nur zu einem künstlerischen Text, wie es der Anschein zeigen könnte. Sie funktionieren vielmehr als bestimmte Form, sprachliche Äußerungen auf die eine oder andere Art zu ordnen. Von Roman Jakobson konnte beschrieben werden: was Werbetexte und Gedächtnisverse, Formeln und Wendungen und selbst noch einfache Sätze aus der Rede des Alltags so deutlich und merkbar macht, beruht auf Wirkungen poetischer Natur.8

Der guote man, swaz der in guot
und niwan der werlt ze guote tuot,
swer daz iht anders wan in guot
vernemen wil, der missetuot.

Trotz aller Schwierigkeiten des Verstehens kann diese Strophe sehr aktuelle poetische Effekte haben, weil eben die Methode ihrer Ordnung der von Brechts „Dreigroschen“-Strophe fast entspricht. Doch ist andererseits die Ordnung seihst bei beiden ziemlich unterschiedlich: beruht die Wirkung Gottfrieds vor allem auf der rein phonologischen Entsprechung des „guot“ und „tuot“, so steht bei Brecht der semantische Gegensatz der „einen“ und der „andern“ und der von „Dunkel“ und „Licht“ im Vordergrund. So werden sich poetische Beziehungen zwar abstrakt formulieren lassen jenseits bestimmter Elemente ihrer Sprache, aber sie werden sich konkret auffinden und beschreiben lassen allein eben an diesen Elementen, an den Phonemen, Morphemen, den Mustern der Syntax, an ihnen auch in Hinblick auf den Rhythmus, und schließlich an den Elementen der Semantik, die dabei sicherlich die meisten Fragen stellen wird. Um diese Problematik im ganzen aufzuklären, hat beispielsweise Svend Johansen versucht, dem einfachen denotativen Zeichen der Sprache ein connotatives zuzuordnen, das die poetischen Funktionen repräsentieren könnte.[footnote]Svend Johansen in: Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague V, 1949, S. 228ff./footnote]In anderer Richtung hat sich Roman Jakobson bewegt. Er stützt sich auf den schon physiologisch gegebenen Befund, wonach die sprachlichen Äußerungen vom Sprecher aufgebaut werden durch Selektion (des günstigsten Bezeichnungselements aus einer Anzahl günstiger) und durch Kombination (dieser gewählten Elemente). Bei der Anwendung dieses Befunds auf sein umfassendes Material aus kunstvoller und alltäglicher Sprache stößt nun Jakobson auf einen durchweg realisierten Grundsatz:

The selection is produced on the base of equivalence, similarity and dissimilarity, synonymity and antonymity, while the combination – the build-up of the sequence – is based on contiguity. The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination. Equivalence is promoted to the constitutive device of the sequence.[footnote]Roman Jakobson, S. 15

Derartig wird man die Ähnlichkeit von „guot“ und „tuot“ und auch den Gegensatz von „Dunkel“ und „Licht“ erklären müssen: als Äquivalente einer Äußerung, die dem Bewußtsein des Sprechers bei der Auswahl und dem des Hörers bei der Einordnung stets präsent sein können. Dieser besondere Grundzug sprachlichen Verhaltens kann mit großer Sicherheit als allgemeinstes Gesetz poetischer Beziehungen begriffen werden. Er beruht auf den materiellen Gegebenheiten des Sprechens und wird formuliert als die besondere Möglichkeit, die diese Gegebenheiten dem Sprecher offenhalten. Ob man in ihrer Benutzung nur die Absicht auf Wirkung erkennen möchte oder diese Wirkung vorrangig mit der Ästhetik verbindet, ist die Frage einer anderen Ebene. Nicht einbezogen ist hier auch, welche verschiedenen Effekte der von einem Sprecher nun „poetisch“ geordneten Äußerung die verschiedenen Hörer wirklich erreichen. Was an der Interpretationstechnik zu kritisieren war, weil es dort als wissenschaftliche Methode auftritt, ist ja im übrigen ein sehr realer Sachverhalt: daß nämlich eine Äußerung in unterschiedlichem Sinne auszulegen ist. Tatsächlich ist mit dem für unbegrenzte viele Gegebenheiten genormten Mittel der Sprache Eindeutigkeit nur unter bestimmten Bedingungen zu bewirken. Ganz allgemein kann dafür gelten, daß der Sprecher kein Element seiner beabsichtigten Mitteilung unausgesprochen der Situation überlassen darf und daß der Hörer die Mitteilungssituation des Sprechers selbst ganz überblicken muß. Trifft dies nicht zu, kann nach dem bloßen Text der Äußerung oft gerade das verstanden werden, was mit ihm nicht gemeint war. Hier liegen die Schwierigkeiten für die historische Erforschung der Literatur begründet. Und zudem erlaubte das gerade der Interpretation, die Texte willkürlich zu behandeln.
Dieser reale Sachverhalt wird sprachwissenschaftlich als die Funktion des Kontexts mitberechnet. Der Kontext müßte bei einer informationstheoretischen Definition des Textes als wichtigster Faktor vorangestellt werden. Er kann nur dann bewältigt werden, wenn er in die Untersuchung so einbezogen wird, daß er alle nur zufälligen, einmalig individuellen Momente radikal verliert. Technisch wird dabei derart verfahren, daß man von einem Element des sprachlichen Systems alle wichtigen Vorkommen miteinander in Vergleich bringt. Auf diese Art zeigt beispielsweise das Grimmsche Wörterbuch die Bedeutung seiner Formen. Und über die Genauigkeit der gemachten Angaben entscheidet allein die Perfektion dieser statistischen Aufarbeit. Man kann sie stützen durch die Beobachtung, welche Veränderungen sich durch den Austausch und die Umstellung gewisser Elemente in einer Äußerung ergeben. Man kann auch konstatieren, durch welche Formen eine bekannte, eigens experimentell gestörte Stelle einer Äußerung wieder ergänzt wird von einer großen Anzahl von Personen. Diese Verfahren können maschinell verbessert und miteinander verknüpft werden, und es ist möglich, daß sich auf diesem Wege noch weitere Verfahrensweisen finden lassen.
Im groben Umriß sind so die Bedingungen und Fragen bezeichnet, unter denen das Studium eines poetischen Systems stehen müßte. Der Verfechter der Interpretation wird das Zugeständnis machen müssen, daß diese Art der Analyse als festen Maßstab die sozialen Zwecke anlegt und daß sie deshalb praktisch beweisbar und von anderen überprüfbar ist. Aber er wird zum Vorwurf machen wollen, das sei abstrakte Arbeit, die für die große Verbreitung ihrer Ergebnisse nichts abwerfe. Ihm kann entgegengehalten werden, ohne Kenntnisse von solcher Verbindlichkeit müsse auch jegliche Pädagogik ohne Basis bleiben. Wer die Analyse einzelner poetischer Texte zu betreiben versucht, wer dazu die Konzepte anerkennen kann, die ihm der fortgeschrittene Stand der Linguistik vorschreibt, wird pädagogisch auf nichts zu sehen haben als auf die Verständlichkeit seiner Erläuterungen. Er wird, soweit er schon über das System oder gewisse Teile verfügt, am Text darstellen müssen, welche grundsätzlichen Möglichkeiten der Bedeutung und Wirkung er besitzt. Die poetische Analyse besteht im Auffinden und im Beschreiben der Wirkungsmöglichkeiten eines Textes in jenem historischen Stadium, auf das man sich bezieht. Sie stellt fest, welche Kontexte er grundsätzlich erlaubt, und, vielleicht wegen des Kontrasts, welche er unter anderem verbietet. Man wird außerdem beschreiben können, auf welchen Kontext des Autors die gefundenen Wirkungsmöglichkeiten sich wahrscheinlich zurückbeziehen lassen. Man vermag und man braucht für die aktuelle Praxis nicht alle individuellen Kontexte zu nennen. Aber man wird möglicherweise diejenigen Kontexte, für die divergierende soziale Interessen bekannt sind, zum Text in Beziehung setzen. In einer solchen pädagogischen Erklärung wird das Verfahren der Interpretation, gefaßt als Ausdeutbarkeit, selbst der Kontrolle unterworfen. Und der Hörer oder Leser, der unter den faktischen Möglichkeiten des Textes seine Entscheidungen zu treffen hat, wird auf seine eigenen Interessen festgelegt.

2
Man wird auch ohne zureichende Systematisierungen versuchen können, an einem Einzeltext zu zeigen, was theoretisch gemeint ist. Genommen sei hierzu Brechts Gedicht „Die Literatur wird durchforscht werden“, weil es seinem Bau nach gegenüber anderen die Analyse erleichtert. Wir benutzen als Grundlage den Text der „Hundert Gedichte“9 und ziehen im übrigen die vom Bertolt Brecht-Archiv ausgewiesenen ersten vier Entwicklungsstufen (Handschriften) des Textes hinzu.10
Zur historischen Fixierung des Gedichts muß Brechts Zusatz in der Handschrift 3 berücksichtigt werden:

martin andersen nexö zum 26. juni 1939.

Da die Widmung in den vorangehenden Handschriften fehlt, ist es wahrscheinlich, daß das Gedicht nicht auf dieses Datum hin konzipiert worden ist. In die erste Hälfte des Jahres 1939 verlegt, gehört es jedenfalls neben die Abfassung der „Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung“, die das Interesse der „Unzufriedenen auf den niederen Bänken“11 beschreibt, und neben die Publikation der Svendborger Gedichte, deren „Fragen eines lesenden Arbeiters“ auf die Geschichte der arbeitenden Massen gerichtet sind. Für unser Gedicht lassen sich aber nicht nur solche thematischen Beziehungen, sondern auch konkrete Erfahrungen Brechts vorweisen. Das Arbeitsbuch berichtet unter dem 26. Februar 1939 davon, daß Brecht selber seinen Cäsar-Roman für unverständlich halten wollte, nachdem ihn Sternberg und Benjamin als unverständlich beurteilt und mehr „menschliches Interesse, mehr von altem Roman“ verlangt hatten – daß er sich aber zur Weiterarbeit entschließt, nachdem ihm die Frau eines deutschen Arbeiters bei einem Besuch in Dänemark ihr Interesse und ihr Verständnis gerade für diese Darstellung der gesellschaftlichen Verflechtungen bezeugt hat.12 Im übrigen liegt dem Gedicht eine durchaus generelle Konzeption Brechts von der Geschichte und von der Literatur zugrunde. In dem Gespräch „Die Dialektik auf dem Theater“ aus dem Jahr 1953, das die Inszenierung des Coriolan zum Gegenstand hat, bemerkt B. zu einem Satz des Plutarch programmatisch: „Nun, dann werden wir, die wir alles über die Plebejer ausfindig machen wollen, diesen Satz mit größerem Interesse lesen“, was nahezu wörtlich dem Vers 8 des Gedichts entspricht und seinen Gesprächspartner sofort zu dem weiterführenden Zitat veranlaßt:

Denn hier mag es sich um Züge
Der berühmten Ahnen handeln.
13

Historisch und in seiner möglichen Intention ist das Gedicht mit diesen Angaben annähernd fixiert. Über historische Wandlungen seiner Wirkung kann nichts gesagt werden, weil überhaupt kein Zeugnis seiner Wirkung existiert. Bei der Analyse müssen wir uns auf das Bewußtsein der Gegenwart verlassen, auf das System der deutschen Gegenwartssprache und das ihm zugehörige, aber erst auszuführende poetische System. In jedem Fall kann man sich auf die von Roman Jakobson gegebene Formel poetischer Beziehungen stützen. In ihrer allgemeinen Gültigkeit muß sie die von Volker Klotz und Reinhold Grimm beschriebenen speziellen und typischen Anwendungsweisen Brechts einschließen: seine Formen des Parallelismus, der Kontrastierung und so fort.14

Der erste Satz enthält eine Annahme, und das Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall ausgedrückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat.[footnote]Schriften zum Theater, Berlin und Frankfurt (1957), S. 252. – Versuche Heft 12, S. 144

Die andere Verfahrens  weise wird, gleichfalls im Aufsatz „Über reimlose Lyrik“, so beschrieben: die Versordnung „Wie werde ich es im Sommer kühl haben / Mit so viel Schnee“ sei gestisch ärmer als diese „Wie werde ich es im Sommer kühl haben mit / So viel Schnee“.15 Zu erläutern ist: die in die enge Gruppe „mit so viel Schnee“ durch den Verswechsel gelegte Pause kann zur Akzentuierung zweier Gestus zwingen statt des üblichen einen. Aber dieses Gefüge ließe sich unter Anwendung des ersten Prinzips nochmals gestisch verteilen durch Umstellung zu „Wie werde ich es kühl haben im Sommer mit / So viel Schnee“.
Beide Verfahren, das syntaktische wie das graphisch-visuelle, realisieren die gestische Zerlegung und Spannung der Aussage. Sie sind durchaus noch nicht in allen Bedingungen erfaßt. Sie gelten aber nicht nur für die Arbeiten Brechts, die ihre sehr bewußte Benutzung zeigen, sondern für poetische Anordnungen insgesamt. Im Bau unseres Textes sind sie durchgängig aufzufinden.

DIE LITERATUR WIRD DURCHFORSCHT WERDEN

1
Die auf die goldenen Stühle gesetzt sind, zu schreiben
Werden gefragt werden nach denen, die
Ihnen die Röcke webten.
Nicht nach ihren erhabenen Gedanken
Werden ihre Bücher durchforscht werden, sondern
Irgendein beiläufiger Satz, der schließen läßt
Auf eine Eigenart derer, die Röcke webten
Wird mit Interesse gelesen werden, denn hier mag es sich um Züge
Der berühmten Ahnen handeln.

Ganze Literaturen
In erlesenen Ausdrücken verfaßt
Werden durchsucht werden nach Anzeichen
Daß da auch Aufrührer gelebt haben, wo Unterdrückung war.
Flehentliche Anrufe überirdischer Wesen
Werden beweisen, daß da Irdische über Irdischen gesessen sind.
Köstliche Musik der Worte wird nur berichten
Daß da für viele kein Essen war.

2
Aber in jener Zeit werden gepriesen werden
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die unter den Niedrigen saßen
Die bei den Kämpfern saßen.

Die von den Leiden der Niedrigen berichteten
Die von den Taten der Kämpfer berichteten
Kunstvoll. In der edlen Sprache
Vordem reserviert
Der Verherrlichung der Könige.

Ihre Beschreibungen der Mißstände und ihre Aufrufe
Werden noch den Daumenabdruck
Der Niedrigen tragen. Denn diesen
Wurden sie übermittelt, diese
Trugen sie weiter unter dem durchschwitzten Hemd
Durch die Kordone der Polizisten
Zu ihresgleichen.

Ja, es wird eine Zeit geben, wo
Diese Klugen und Freundlichen
Zornigen und Hoffnungsvollen
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die umringt waren von Niedrigen und Kämpfern
Öffentlich gepriesen werden.

Die beiden gestischen Prinzipien treten allerdings zurück, wenn wir die poetischen Wirkungsmöglichkeiten dieses Textes nach ihrem Vorrang beschreiben wollen. Zu dominieren scheint die bezifferte Zweiteilung des Gedichts und der mit ihr gegebene Kontrast der Aussagen, der in den Anfängen der beiden Teile besonders auffällig ist, weil er in parallelen syntaktischen Mustern entgegentritt. Dem schon seiner eigenen Bedeutung nach kontrastierenden „Aber in jener Zeit“ (18) folgt „gepriesen“ als Kontrast gegen „gefragt“, „nackten Boden“ gegen „goldene Stühle“ und „saßen“ gegen „gesetzt sind“. Dieser Kontrast ist durch die beiden Strophen hindurch zu verfolgen. Er haut zwei differente Verhaltensweisen des Schreibenden als soziale Antinomien poetisch auf.
Zu dominieren scheint weiterhin ein Element, das vom Leser kaum so gründlich reflektiert zu werden braucht, wie wir es zu kennzeichnen haben. Das verbale Muster im Titel „wird durchforscht werden“ tritt nämlich wiederholt auf: „Werden gefragt werden“ (2), „Werden… durchforscht werden“ (5), „Wird… gelesen werden“ (8), „Werden durchsucht werden“ (12), „werden gepriesen werden“ (18), „es wird eine Zeit geben, wo… gepriesen werden“ (34.39), teilweise in dem veränderten Muster „Werden beweisen“ (15), „wird… berichten“ (16) und „Werden… tragen“ (28.29). Alle anderen finiten Verben sind von einer dieser Formen abhängig. Selbst die freien Gruppen „mag es sich… handeln“ (8.9) und „Wurden sie übermittelt… Trugen sie weiter“ (30.31) sind durch „denn“ kausal auf sie bezogen. Also beruht der Text ausschließlich auf diesen Futurformen. Zu definieren ist ihr besonderer Wert in diesem besonderen Zusammenhang. Als Situationskontexte ließen sich beide Varianten denken, die bloße Vermutung und die sichere Gewißheit einer nicht gegebenen Wirklichkeit. Diejenige Haltung aber, die hier als Bedeutung bloße Vermutung erkennen möchte, wird durch den sprachlichen Kontext selbst zurückgewiesen: das bestimmende Muster ist nicht nur Futur, sondern zugleich Passiv.
Nun ist aber an keiner Stelle des Textes zu diesem Passiv ein veranlassendes Subjekt gestellt, das hinsichtlich seiner Haltung (,Vermutung‘ oder ,Gewißheit‘) kritisierbar und dann hinsichtlich seines Vermögens beurteilbar wäre; es heißt nicht etwa ,wird von uns durchforscht werden‘. Da der Text die Frage ,von wem?‘ unbeantwortet läßt, benutzt er die äußerste sprachliche Form, den schlichten Gestus ,es wird sein‘, eine nicht gegebene Wirklichkeit als unbezweifelbare Gewißheit zu bezeichnen. Er stellt dabei frei, für die Frage ,von wem?‘ alles zwischen sich selbst und dem notwendigen Gang der Geschichte als Antwort zu suchen. Die veränderten, aktivischen Muster „Werden beweisen“ oder „Werden… tragen“ schließen sich hier an. Sie lassen jetzt die Fragen ,wem?‘ oder ,für wen?‘ offen; es heißt nicht ,werden uns beweisen‘. Dem gleichen Prinzip ist übrigens ,das abhängige „gesetzt sind“ (1) unterworfen: das ,Schreiben‘ ist seinerseits als veranlaßt gekennzeichnet. In der „Grabschrift für Gorki“ heißt es entsprechend passivisch „Der auf den Universitäten der Landstraßen ausgebildet wurde“.16
Im übrigen kann sich bei den Futurformen das zweite der besprochenen gestischen Prinzipien auswirken. Der Verswechsel „zu schreiben / Werden gefragt werden“ akzentuiert „schreiben“ und „Werden“. Das akzentuierte „Werden“ kann beim Leser selektionsnahe Begriffe wie ,dürfen‘ oder ,müssen‘ hervorrufen und als ausgeschlossen kennzeichnen; das gleiche trifft für „schreiben“ zu, während bei einer möglichen Verschiebung und Akzentuierung von ,… / Gefragt‘ Begriffe bereits assoziiert würden, die später selbst begegnen: „durchforscht“ und so weiter.
Folglich kann die Bedeutung der Futurformen beim Leser dadurch gestützt sein, daß das „Werden“ stets amVersbeginn oder aber an Zäsuren auftritt, die ohne Sinnänderung sogar einem Verswechsel weichen könnten, etwa „Köstliche Musik der Worte / Wird nur berichten“ (16) oder etwa „Aber in jener Zeit / Werden gepriesen werden“ (18).
Das durchgängige Auftreten des Musters „wird durchforscht werden“ legt nahe, das Objekt dieses Durchforschens, „Die Literatur“, dem Muster zuzurechnen. Tatsächlich muß es mit der Verbgruppe stets zusammen vorkommen. Zu Beginn findet sich an seiner Stelle „Die auf die goldenen Stühle gesetzt sind, zu schreiben“, die eine soziale Klassifikation, finden sich sodann Begriffe für die veranlaßten Produkte „ihre Bücher“ (5), „Irgendein beiläufiger Satz,…“ (6), „Ganze Literaturen / In erlesenen Ausdrücken verfaßt“ (10.11), „Flehentliche Anrufe über  irdischer Wesen“ (14) und „Köstliche Musik der Worte“ (16). Zu Beginn des Teils 2 steht entsprechend und antithetisch als Objekt des Preisens die andere soziale Klassifikation „Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben“ (19). Das ist hier erweitert durch die parallelen Verse 20 bis 23, die alle vier von oben das beginnende „Die“ mitnehmen, wobei die ersten zwei den Kontrast von „unter den Niedrigen“ und „bei den Kämpfern“ kombinieren und von oben das „saßen“ mitnehmen, die letzten zwei den erweiterten Kontrast von „Leiden der Niedrigen“ und „Taten der Kämpfer“ kombinieren und zudem durch das neue „berichteten“ parallelisiert sind, das nun durch die vier gestischen Schritte ergänzt ist:

Kunstvoll, in der edlen Sprache
Vordem reserviert
Der Verherrlichung der Könige
(24.26).

Wie in Teil 1 finden sich sodann, aber nun gleichfalls antithetisch, die Produkte des Schreibens „Ihre Beschreibungen der Mißstände und ihre Aufrufe“ (27), wozu die ganze Strophe Ergänzung ist. Sie ist wiederum geschlossen durch parallele, gestisch gespannte Glieder:

unter dem durchschwitzten Hemd
Durch die Kordone der Polizisten
Zu ihresgleichen
(31.33).

Die Schlußstrophe zeigt als Objekt des Preisens nochmals die soziale Klassifikation, neue begriffliche Kontraste, kombiniert in den parallelen Versen „Diese Klugen und Freundlichen / Zornigen und Hoffnungsvollen“, sodann die wortgetreue Wiederholung „Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben“ und unter Mitnahme des „Die“ den wiederaufgenommenen Kontrast „Die umringt waren von Niedrigen und Kämpfern“. Der Vers „Aber in jener Zeit werden gepriesen werden“ tritt hier als Klammer der ganzen Strophe entgegen, jedoch semantisch erweitert durch „wird… gehen“ und vor allem durch das akzentuierte „Öffentlich“. Die Schlußstrophe läßt somit nicht nur einen deutlichen Bezug auf den Beginn von Teil 2, sondern auf den Beginn des ganzen Gedichts wirksam werden. Sie greift unmittelbar auf das Muster des Anfangs zurück.
In Teil 1 ist aber das von uns als Muster verwendete Syntagma des Titels in noch anderer Hinsicht verändert. Es ist durch das eigentliche Objekt des Durchforschens ergänzt, oder das ,Fragen‘ richtet sich über die ,Zu Befragenden‘ auf die ,Zu Erfragenden‘: „nach denen, die / Ihnen die Röcke wehten“ (2.3), negativ „Nicht nach ihren erhabenen Gedanken“ (4), entsprechend mit parallelisiertem „daß“ die drei Glieder „nach Anzeichen / Daß da auch Aufrührer gelebt haben, wo Unterdrückung war“ (12.13), „,daß da Irdische über Irdischen gesessen sind“ (15) und „Daß da für viele kein Essen war“ (17). Das veränderte Muster enthält somit zwei aufeinander bezogene Gruppen: die zur Herstellung von Literatur Bestimmten („gesetzt sind“) und die darunter zur Herstellung von Röcken Bestimmten („Ihnen“). Das könnte anders gefaßt sein:

Die … werden nach denen, die ihnen die Röcke wehten, gefragt werden.

Da aber die beiden Gruppen zwischen die akzentuierte Korrelation „Die… die“ eingespannt und durch die verbale Gruppe getrennt sind, stehen sie syntaktisch parallelisiert. Sie betonen mit gestischen Mitteln die Antithese der Aussage. Die Wirkung des Satzes ist in seinem Plan begründbar. Entsprechend ist das nächste Gefüge zwischen die Korrelation „Nicht… sondern“ (4.5) eingespannt, und seine Teile sind gestisch angeordnet auf die Wiederaufnahme des akzentuierten „die Röcke wehten“; es heißt nicht:

wird irgendein beiläufiger Satz, der auf eine Eigenheit derer, die Röcke wehten, schließen läßt…

In der nächsten Strophe ist die Antithese zwischen dem literarischen Überbau und den realen Widersprüchen gleichfalls durch die gestische Ordnung der Syntax gegeben: „erlesene Ausdrücke“ zu „Aufrührer“ und „Unterdrückung“, „überirdische Wesen“ zu „Irdische“ und „Irdischen“ und zuletzt „Köstliche Musik“ und „kein Essen“ als Widerspruch auf der semantischen Beziehung von ,Kost‘ und ,Essen‘.
Das Gedicht, dessen Aussagen auf eine ihm gesicherte Zukunft gerichtet sind, baut mit poetischen Mitteln die soziale Antinomie zwischen zwei Verhaltensweisen des Schreibenden auf, zugleich aber die soziale Antinomie zwischen den einen Schreibenden und den sozial unter ihnen lebenden ,Niedrigen‘, von denen die anderen Schreibenden ,umringt‘ sind. Sie setzen gegen das ,Verfassen‘ von Literatur, ohne dabei die ,edle Sprache‘ zu verwerfen, ihr ,Berichten‘, ,Beschreiben‘ und ,Aufrufen‘. Der Widerspruch zwischen den beiden Schreibenden ist identisch mit dem als fundamental gezeigten Widerspruch ,Irdische über Irdischen‘.

Im ganzen sind damit die Wirkungsmöglichkeiten des Textes beschrieben. Man kann noch darauf verweisen, daß gestisches Prinzip auch solchen Trennungen wie „Züge / Der berühmten Ahnen“ (8.9) oder „Daumenabdruck / Der Niedrigen“ (28.29) oder auch solchen Stellungen wie „diesen / … diese /“ (29.30) zugrunde liegt und daß auch benachbarte Gruppen wie „Verherrlichung der Könige“ (26) und „Beschreibungen der Mißstände“ (27) als antithetischer Parallelismus erkannt werden können. In einigen schematischen Darstellungen ohne Kommentar wären die vorhandenen Beziehungen wahrscheinlich vollständig und günstiger zu geben. Ohne weiteres könnte auch der Versuch ausgedehnt werden, für einzelne Textabschnitte alternative Fassungen zu suchen und mit den auftretenden Änderungen die Bedeutung und Funktion der originalen Fassung zu beurteilen. Unter diesem Aspekt ist es interessant zu sehen, welche Veränderungen Brecht selbst vorgenommen hat, bevor er den Druck zuließ, in welcher Weise und mit welchen möglichen Gründen er also die poetischen Beziehungen herstellte, die wir jetzt vorfinden.
Zu Beginn der Arbeit, in der Handschrift 1, zeigen die ersten Verse den Text:

die auf die goldenen stühle gesetzt sind
werden gefragt werden nach denen
die ihnen in der küche ihr essen kochten

und der Vers „auf eine eigenheit derer, die solche stühle machten“ (7) zeigt den entsprechenden Rückverweis. Brecht versucht, den Ausdruck „gesetzt sind“ in „sitzen“ zu verändern, läßt das aber fallen und ergänzt von Vers 1 zu Vers 2 „zu schreiben / mit goldener feder“, tilgt jedoch diesen letzten Ausdruck und ändert nun den folgenden Vers um in „die ihnen in der küche das essen kochten“. Gerade dieser Vers wird sogleich wieder geändert. In der Handschrift 2 führt Brecht nämlich den Rückverweis auf die „goldenen stühle“ ganz durch, so daß die Verse nun heißen:

die auf die goldenen stühle gesetzt sind, zu schreiben
werden gefragt werden nach denen
die stühle machten

in Parallele zu „auf eine eigenheit derer, die stühle machten“ (7). Und erst in der Handschrift 3 trägt er an beiden Stellen (3 und 7) den Ausdruck „die röcke webten“ als Änderung ein. Diese Korrekturen konservieren einen aufschlußreichen Vorgang: ist zunächst der enge Bezug zwischen den Versen 1 und 7 gegeben, so wird beim nächsten Schritt der Vers 3 in diesen Bezug hereingenommen, schließlich aber für 3 und 7 ein eigener Bezug hergestellt, so daß Vers 1 für sich steht. Die unter rein poetischem Aspekt komplexeste und damit beste Beziehung wird nicht leicht erreicht und wird doch aufgegeben. Am Ende ist mit dem „die röcke webten“ ein Ausdruck gefunden, der mit dem anfänglichen „in der küche das essen kochten“ auf gleicher Bezugsebene steht, dennoch aber eine Arbeit von anderer sozialer Organisation bezeichnen kann.
In der zweiten Strophe fehlt zunächst der antithetische Parallelismus „wo unterdrückung war“ (13), ist aber bereits in Handschrift 2 ergänzt, während die Verse „in erlesener sprache geschrieben“ (11) und „gebete, an überirdische wesen gerichtet“ (14) erst in Handschrift 3 zu ihrer jetzigen Fassung kommen. Dort entsteht auch aus „kunstvolle musik“ das zu „essen“ antithetische „köstliche musik“ (16).
In der Handschrift 1 umfaßt das Gedicht unter dem Titel „lied von den richtern“ zunächst nur den unbezifferten ersten Teil; eine dritte Strophe

manches bescheidene schriftstück aber
in kunstloser sprache verfasst, wird hoch geschätzt werden
weil es erzählt von denen, die
dem altertum ein ende bereiteten

bietet nur einen Ansatz zum antithetischen zweiten Teil. Sie steht mit ihrem „in kunstloser sprache verfasst“ zu dem hier vorangehenden „in erlesener sprache geschrieben“ (11) in einem starken parallelistischen Kontrast; erst mit der Ausweitung des zweiten Teils kann er aufgegeben und kann daher verändert werden zu „in erlesenen ausdrücken verfasst“. Die Ausweitung erfolgt in Handschrift 2. Hier fallen auch noch die erste und die zweite Strophe von Teil 2 in eine zusammen:

aber in jener zeit werden gepriesen werden
die auf dem nackten boden sassen, zu schreiben
und kunstvoll wie die taten von königen
die der niedrigen leute berichteten, der kämpfer
umringt von niedrigen selber und kämpfern.

Anstelle der späteren engen und fortschreitenden Parallelismen enthält diese Strophe als Abschluß noch die getreue Parallele zu dem unten folgenden Vers „und umringt waren von niedrigen und kämpfern“ (38); er erweckt später, nachdem die Parallele getilgt ist, den ganz anderen Eindruck einer schließenden Zusammenfassung.
Der Vers „tragen noch die spuren“, sofort verändert zu „tragen noch den daumenabdruck / der berühmten ahnen“, verändert zu „tragen noch den daumenabdruck / der niedrigen“, endlich verändert zum jetzigen „werden… tragen“ (28.29), läßt den Versuch erkennen, zuerst den Ausdruck „züge / der berühmten ahnen“ (8.9) aus Teil 1 aufzunehmen, bevor der direkte Bezug auf die vorangehende Strophe hergestellt wird.
Im Schluß des Gedichts wird nun der Versbeginn „und umringt waren“ von Brecht in die Parallele „die umringt waren“ (38) gebracht, und zu allerletzt wird die bloße Aufnahme „gepriesen werden“ semantisch erweitert und akzentuiert zu „öffentlich gepriesen werden“ (39). In der folgenden Handschrift 3, die wie Handschrift 2 versehen ist mit dem Titel „wie künftige zeiten unsere schriftsteller beurteilen werden“, bietet sich der Text nach der Korrektur schließlich so dar, wie er jetzt aufzufinden ist. Sie trägt nun auch die Widmung an den Dichter Andersen-Nexö und kennzeichnet ihn damit als einen der Schreibenden, deren schwierige und preisenswerte Arbeit im zweiten Teil vorgestellt ist. In der Handschrift 4 endlich wird sichtbar, wie der heutige Titel, den wir als syntaktisches Muster verwenden konnten, dem Text selbst entstammt: das den Versen 10 bis 12 entnommene „Ganze Literaturen werden durchsucht werden“ wird verändert zu „Die Literatur wird durchsucht werden“.
Ein Beschreibungsversuch wie der eben gegebene, der auf die Wirkungsmöglichkeiten bestimmt geordneter Inhalte gerichtet ist, kann pädagogisch benutzbar gemacht werden. Ausreichende Ergebnisse kann er nur bringen, wenn seine Methode sozial bezogen ist. Aber in seiner Absicht, das künstlerisch „Gemachte“ an einem Text herauszustellen, berührt er sich sogar mit dem Anspruch der literarischen Interpretation. Es würde allerdings nur wenig Nutzen abwerfen, ohne bestimmte Zwecke, etwa pädagogische, eine größere Anzahl einzelner Texte auf diese Art zu beschreiben. Die Darstellung und Aufrechnung poetischer Beziehungen sollte sich vor allem auf die jeweils in der Sprache insgesamt vorhandenen Mittel richten und daher in großem Umfang mit dem Vergleich differenter Texte arbeiten. Schon Aufgaben wie die elektronische Übersetzung auch dichterischer Texte verlangen das. Im übrigen stellt Brecht selbst der Analyse von Poetik eine Aufgabe von weitreichender praktischer Bedeutung, sobald man seine Forderung an die Musik auf die Kunst des Schreibens überträgt:

Tatsächlich würde das Theater sehr viel gewinnen, wenn die Musiker imstande wären, Musik zu liefern, die einigermaßen exakt bestimmbare Wirkungen auf den Zuschauer ausüben würde.17

Klaus Baumgärtner, Sinn und Form, Heft 3, 1960

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