SHORT STORY
Ich habe heute
Hemingway gelesen
begreife nun gut
dass er seine Flinte
nicht entlud
bevor er sie putzte.
Aber es erstaunt mich
dass er so lange
zuwarten konnte
mit der Reinigung
seiner Waffe:
Er liebte doch
seine Gewehre.
Die Lamellen stehen offen. – Band 1 der vorliegenden Werkausgabe versammelt die frühe Lyrik von Klaus Merz, jene Gedichte, die aus den Jahren 1963–1991 stammen. Erstmals veröffentlicht werden unter dem Titel „Weiße Gedanken“ Gedichte, die noch von Merz’ Debütband Mit gesammelter Blindheit (1967) entstanden sind. Im Vorlass des Autors (hinterlegt im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern) tauchte zudem eine zweite Abteilung unveröffentlichter Gedichte auf, die unmittelbar an das Typoskript zum Band Landleben (1982) anschließt; auch diese Abteilung wird nun erstmals publiziert unter dem Titel „Zugewachsene Gärten“. die Auswahl für diese beiden Abteilungen wurden in enger Zusammenarbeit von Autor und Herausgeber getroffen. Bei jenen Gedichten, die bereits in unterschiedlichen Fassungen veröffentlicht worden sind, wurde in der Regel auf die Erstfassung zurückgegriffen. Aus den Büchern Bootsvermietung (1985) und Nachricht vom aufrechten Gang (1991) wurden lediglich die Gedichte in diesen Band mitaufgenommen; die in den Büchern enthaltenen Prosatexte finden sich in Band 3 der Werkausgabe. Orthografie und Interpunktion wurden behutsam angepasst.
mit untrüglichem Gespür seine Themen, sein Personal, seinen Ton“, schrieb Werner Morlang zu den Gedichten der frühen Achtzigerjahre, als Klaus Merz, nachdem er während zehn Jahren ausschließlich Prosa und Theatertexte geschrieben hatte, die Lyrik wieder aufnahm. Der erste Band der Werkausgabe vollzieht diesen lyrischen Bogen von den Anfängen Mitte der Sechziger- bis in die frühen Neunzigerjahre hinein nach. Dabei werden zahlreiche Gedichte aus dem Frühwerk von Klaus Merz, die zum größten Teil noch vor seinem Buch-Debüt 1967 entstanden sind, erstmals abgedruckt. Unter dem Titel „Zugewachsene Gärten“ enthält dieser Band ebenso ein bislang unveröffentlichtes, in den 1980er Jahren entstandenes Lyrik-Manuskript aus dem Vorlass von Klaus Merz im Schweizerischen Literaturarchiv.
Haymon Verlag, Ankündigung
− Werkausgabe des Schriftstellers Klaus Merz mit den ersten drei Bänden. −
Die kleine Form liebt der Autor Klaus Merz, selten ist ein Buch länger als 100 Seiten. Ihm ist die Wahrnehmung und ihre Umformung in Schrift alles. Die ersten drei Bände einer Werksausgabe über ihn sind erschienen.
Klaus Merz ist ein Meister der kleinen Form. Er schreibt kurze Gedichte, kurze Prosa, sogar kurze Romane. Haben die mehr als 100 Seiten, ist es eine Ausnahme, er verdichtet seine Texte aufs Äußerste. Dennoch wirken sie nie karg, im Gegenteil, sie sind reich an Bildern, Klängen, Rhythmen und Farben. Merz schreibt ernst und melancholisch, doch auch humorvoll, mit einem erfrischenden Sinn für Groteske.
Es geht bei mir häufig um den Versuch, in der Balance zu bleiben. Und sich aber nicht zu fürchten vor den ganz abrupten Wechseln, ins Tiefschwarze, aber auch ins heiter Helle. Ich denke, die „Umlenkrolle“ dabei ist nicht nur Ironie, sondern Humor. Ich glaube, ohne schafft man’s gar nicht auf der Welt.
Trotz der Präzision, mit der Merz die Wörter setzt, bleiben seine Texte offen: Sie sind einfach und klar, zugleich rätselhaft und poetisch. Nachzulesen jetzt in den ersten drei Bänden einer auf sieben Bände geplanten Werkausgabe im Haymon-Verlag, herausgegeben von Markus Bundi. Der erste Band heißt Die Lamellen stehen offen, im Untertitel „Frühe Lyrik 1963–91“. Donnerwetter, denkt man, Merz schrieb fast 30 Jahre lang „frühe Lyrik“!
War er 1963, mit 18, ein junger Autor, war er es mit 46 immer noch. Aber so absurd rechnet der Literaturbetrieb ja. Bis 50 gilt man als „jung“, zehn Jahre später beginnt das „Alterswerk“. Bleiben wir beim ganz jungen Klaus Merz. Was hat er geschrieben? Das hier zum Beispiel:
WINTER
Der Himmel flockt aus
ich gehe auf Eis.
Kein offenes Haus
die Nächte sind weiß.
Die Liebe ein Hund
treibt mich fort.
Schneesterne im Mund
halte ich Wort.
Was für ein Gedicht für einen 18-Jährigen! Einfach, liedhaft, anschaulich. Schon mit 16 hatte Merz Lyrik von Benn, Bachmann und Celan gelesen, eine Überwältigung durch Sprache. Wenig später begegnete er der großen Schweizer Dichterin Erika Burkart, die ihn förderte. Und doch fand der 18-Jährige einen eigenen Ton, eine eigene Haltung. Seine frühesten Gedichte, in der Werkausgabe erstmals gedruckt, waren ein poetisches Versprechen – und Merz hat ja, wie man an den späteren Büchern sieht, Wort gehalten.
Für mich war das der Ausgangspunkt des Schreibens: Dass ich mich schreibend des Lebens versichern und auch vor allem Fremdheit abbauen kann – auch lesend ein bisschen weniger fremd und allein bin auf der Welt. Die Welt begreifen, in dem man sie sich gegenüber hält, in Zeichen, in Bildern, in Buchstaben.
Vor sechs Jahren gab Merz seinen literarischen Vorlass an das Schweizer Bundesarchiv, ein „kleines Lastwägelchen voll Manuskripten und Briefen“, wie er sagt. Darin hat Markus Bundi nicht nur die ganz frühen Gedichte, sondern auch sonst gutes Ungedrucktes gefunden, und nach Absprache mit dem Autor in die Ausgabe aufgenommen.
(…)
Klaus Merz ist ein Meister der kleinen Form. Und doch summieren sich die Texte mit den Jahrzehnten beachtlich. Die ersten drei Bände der Werkausgabe haben zusammen rund 850 Seiten. Vier weitere werden folgen, die auch späte Prosa und Lyrik, Romane, Essays und Texte zur Kunst enthalten. Ein Fest für Merz-Leser, jedoch kaum für Germanisten.
Autor, Herausgeber und Verlag entschieden sich für eine reine Leseausgabe, die auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet. Die Texte in den drei gelben Bänden sprechen für sich – und das passt zu ihrem Autor, diesem Enkel Flauberts, dem Wahrnehmung und ihre Umformung in Schrift alles ist:
Über die Baulücken zieht blauer Himmel, die Schönheit der Brandmauern tritt schonungslos hervor. Eine Jakobinerin mit Einkaufstasche und Hund erobert die Ladenstraße, der Marktfahrer singt sein Auberginenlied. An der Ecke bleibt ein Dreijähriger stehen, er notiert alles, was er hört und sieht, in sein gelbes Heft, die Mutter wartet. Sie weiß, die Wirklichkeit lässt sich nicht begreifen. Außer vielleicht mit einem Bleistift in der Hand.
die die Gedichte von Klaus Merz kennzeichnen, keine lauten Stimmen, eher verhaltene Töne zwischen den Zeilen, von leiser Melancholie getragen. Skizzen aus dem gewöhnlichen Alltag, Zwischenmenschliches, das in die eine oder andere Richtung kippt, Beobachtungen, die mitunter auch nichts an Schärfe vermissen lassen, dann wieder fatalistische Bemerkungen über Situationen und das Leben, dass es eben so sei, das Leben… In diesen Gedichten lassen sich Stimmungen und Atmosphären wiederfinden, die jedem schon begegnet sind, in Worte gefasst behalten sie ihren Aktualitätswert.
„Alles ist da“, können wir in einem Gedicht von Klaus Merz lesen, „das Meer / die Skyline, dein Herz- / schlag am Ohr.“ Und in einem anderen: „Manchmal vor Tag / wird mir das Leben / zugänglich bis tief / in die Kindheit hinab // Narben glimmen auf / ein Vers kühlt sie ab / mit Regen, mit Schnee.“ Es ist schön zu sehen, wie hier in wenigen Zeilen die Welt gleichsam kondensiert erscheint. Und doch ist alles da: das Wahrnehmen und das Denken, die Erinnerung und der Augenblick – und die Zukunft, auch wenn sie flüchtig bleibt. Das Geheimnis „weisser Gedanken“ hat Klaus Merz von jeher angezogen. Es ist eine rechte Winterdichtung, die wir in den frühen Gedichten entdecken können. Es lässt sich in diesen ersten beiden Bänden der Werkausgabe gut nachverfolgen, wie Klaus Merz die Metaphorik seiner Anfänge aufgibt und zu einer durchlässigen Sprache findet, „mit Regen, mit Schnee“. Das Kühle bleibt nicht für sich, es wird bald schon angewärmt mit einem Blick für die Phänomene der Welt – und noch tiefer, zurück in die Kindheit. Manchmal erscheinen die Erinnerungen wie aus dem Album geschnittene Bilder, die verstreut auf dem Stubentisch liegen. Doch die Erinnerung zu fassen, ist alles andere als einfach, denn die Bilder drohen immer wieder zu entgleiten. So enthalten die Texte beides: das Glück der Wahrnehmung, aber auch den Zweifel, ob sich das Leben je in Sprache übersetzen lasse. Wenn überhaupt, dann nur jenseits der Ausführlichkeit. Die Unlust, „Geschichten zu erzählen“, hat Klaus Merz nicht verloren. So wie der Fotograf aus der Erzählung „Latentes Material“ mag er am liebsten jene Bilder, die noch als unentwickelte Möglichkeiten im Film oder im Notizbuch stecken. Was entsteht, erlaubt nicht weniger als dies: „Wahrnehmen, was / durch Vorzeigen nicht / sichtbar wird.“
Jürgen Brôcan: Flugschneisen über zugewachsenen Gärten
fixpoetry.com, 6.3.2012
Er kartographiert seit über vierzig Jahren Seelenlandschaften aus dem Aargauer Wynental heraus und nähert sich in Gedichten und Prosatexten mit keinem Wort zu viel den Grundfragen menschlicher Existenz. Eine Begegnung mit dem Schweizer Schriftsteller Klaus Merz, für den politisches Denken Bürgerpflicht ist.
In Unterkulm, da ist Klaus Merz, unterbrochen durch längere Auslandaufenthalte, seit vierzig Jahren daheim. Dort werden wir den Schweizer Schriftsteller besuchen. Ende Januar erhält er den Basler Lyrikpreis 2012, für den die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige 10.000 Franken freistellt.
Wie wenige Dichter bringe er das Kunststück fertig, lyrische Prinzipien auch in seiner Prosa umzusetzen, schreibt die Jury, die aus gestandenen Mitgliedern der Basler Lyrikgruppe besteht. Die Schauplätze seiner Texte seien „stets unspektakuläre Orte, an denen Merz mit wenigen Strichen und rhythmischen Lenkungen Charaktere und die rätselhafte Welt der Empfindungen aufscheinen läßt“.
Abenteuer am Tisch
Unterkulm im Dezember. Klaus Merz kommt uns auf dem Perron der Wynen- und Suhrentalbahn abholen, ein knatschgelber Schirm in der Hand. Gestern noch las er in Berlin und davor war er beruflich in London. Aber jetzt stellt er sich wieder den zahlreichen Medienanfragen in diesen Tagen. Denn sein österreichischer Verlag hat die ersten zwei von sieben geplanten Bänden seines Gesamtwerks veröffentlicht: frühe Lyrik und Prosa, darunter längst vergriffene und noch unveröffentlichte Texte aus seinem „Vorlass“ im Schweizerischen Literaturarchiv.
Editor der Werkausgabe ist Markus Bundi. Auf den Umschlägen wiederum schlichte Vignetten von Heinz Egger. Klaus Merz arbeitet seit den frühen achtziger Jahren mit dem Kunstmaler aus Burgdorf zusammen. „Wir nähren, jeder in seiner Art, ein ähnliches Seelenklima“, so Merz zu dieser „Arbeitsfreundschaft“. „Bilder bedeuten mir viel“, fährt er fort:
Sie sind Fenster in die Welt, durch die man mehr sieht als nur den sichtbaren Ausschnitt.
Und schon sind wir bei seiner Poetik angelangt, die sich bereits in der programmatischen Erzählung „Latentes Material“ von 1978 manifestiert (bei der Veröffentlichung war Merz 33 Jahre alt). So hat sein Alter Ego Alfred A. vor seinem mysteriösen Tod auf dem Tonband festgehalten:
Als Fotograf muss man sich ja meist aus den Dingen heraushalten, um an sie heranzukommen.
Und weiter:
Viele meiner eigenen Fotografien entwickle ich nicht. Es genügt mir zu wissen, dass meine Filme nicht leer sind. So steckt auch in meinen schriftlichen Notizen vor allem ,latentes Material‘.
Im Gespräch sagt Merz:
Ich grapsche nicht nach Stoffen. Ich warte zu, bis meine Geschichten zu mir finden.
Wenn man dies möglichst absichtslos tue, bestehe man auch „Abenteuer am Tisch“.
Schöne, starke Unterrichtszeit
Doch zurück zu Unterkulm: Klaus Merz wohnt mit seiner Frau, einer Psychotherapeutin, in einem funktionalen Pultdachhaus am Steilhang. Ihre beiden erwachsenen Kinder – die Tochter arbeitet als Fachfrau für Kinder- und Jugendhilfe und der Sohn ist Filmemacher – sind längst ausgezogen. Ein gemeinsamer Freund hatte den schlichten Terrassenbau entworfen, nachdem aus dem kollektiven Traum einer Gemeinschaftssiedlung nichts geworden war. „Es ist gäbig für Schreibende, wenn man nicht zu teuer wohnt“, so Merz.
Eine Anstellung als Lehrer war der Grund, weshalb er ins Dorf gekommen war, später stiess auch seine Frau dazu. Nach der Sekundarlehrerausbildung in Lausanne unterrichtete er sechs weitere Jahre. Als das Haus am Hang bezugsbereit war, kündigte er seine Stelle: „Es war eine sehr schöne, starke Unterrichtszeit.“ Später, als Lehrbeauftragter für Sprache und Kultur an der Schweizerischen Bauschule Aarau, sollte er das Schulegeben nie mehr so intensiv erleben. „Die Schriftstellerei nahm immer mehr überhand“, erzählt er. Mehr als 30 Titel – Lyrik, Prosa, Hörspiele, Theaterstücke, Kinder- und Künstlerbücher – sowie Kolumnen und Essays sind bis heute veröffentlicht worden.
Ob er ans Aufhören denkt? „Manchmal schon, dennoch arbeite ich jeden Tag.“ Seine Frau sei seine „Primärleserin“, so der Autor: „Sie hat die Gabe und das Gespür, den Finger dorthin zu legen, wo es weh tut.“ Weh tue es, wenn man zum Beispiel eine Formulierung weg- oder loslassen müsse, in die man sich verliebt habe, die aber überflüssig sei, sagt Merz, der wenn immer möglich so lange über seinen Texten brütet, „bis sie bei sich selber angelangt sind“.
Vom „Jakobsland“ in die Luft
Wir stehen in der Stube und haben uns soeben mit der Aktion „Jeder Rappen zählt“ kurz nach Bangladesch gezappt – Merz’ Sohn führt in jener Aussenstation Regie. Dann zeigt der Dichter aus dem Fenster hinaus ins graue Nass dieses Tages. Dort am Rand, im Grenzland zwischen dem Reformierten und dem Katholischen, schon „fast im Luzernischen“, sei er aufgewachsen, erzählt er. Sei die Sicht klar, sehe man die Zentralschweizer Bergzacken leuchten.
Im oberen Wynental, nur ein paar Dörfer weiter, ist auch die Erzählung „Jakob schläft“ von 1997 angesiedelt. Diese kleine feine „Vermessung einer Welt“, so Merz über diesen autobiografischen Text, der auch an der Ostsee oder in Wien verstanden werde, bescherte dem Autor den internationalen Durchbruch. Wie sehr er diesem Fleck im Mittelland verhaftet ist, hat er erst mit der Zeit erkannt.
Als in den siebziger Jahren Otto F. Walter sein fiktives Jammers schuf, Gerhard Meier sein Amrein und Hermann Burger sein Schilten, habe er sich bewusst gegen einen solchen dichterischen Ausgangspunkt entschieden, erzählt er: „Ich dachte immer: Ich will nicht so verortet sein. Mir genügt es zu wissen, woher man abstösst, wenn man in die Luft kommen will.“ Später habe er dann gemerkt, dass der Ort seiner Kindheit in den fünfziger Jahren dennoch ein „Epizentrum“ für sein Schreiben war und ist.
Ein Widerstandsnest aus Wärme
Klaus Merz wuchs in Menziken auf. Seinem Vater, der im Dorf eine Bäckerei-Konditorei führte, sei immer das tägliche Brot am wichtigsten gewesen, erklärt der Schriftsteller. Dies habe sich wohl literarisch auf ihn selber niedergeschlagen:
Ich mache keine Pralinés. Ich möchte Seelenbrot backen, das nährt.
Wenn er mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Martin (1950–83) damals durchs Dorf gegangen sei, habe das schon Kraft gekostet, erinnert sich Klaus Merz. Martin litt an einem „Wasserkopf“, wie es im Volksmund heisst, und konnte nicht gehen, schrieb später aber auch Gedichte. Und da waren zudem noch die epileptischen Anfälle des Vaters, die zunehmende Schwermut der Mutter. „Wir mussten ein innerfamiliäres Widerstandsnest bilden, um zu bestehen“, erinnert er sich. Dafür sei eine warme Backstube gar nicht so schlecht gewesen. Er habe die so genannt Abnormalen oft als die Normaleren erlebt als die sogenannt Normalen, sagte Merz in einer Radiosendung an seinem 65. Geburtstag. Daran habe sich eigentlich bis heute nicht viel verändert.
Die Welt auf Grund gelaufen
„Wir leben auf wankendem Grund“, sagt der Schriftsteller, als wir auf die heutige Zeit zu sprechen kommen. Das Leben in dieser Welt sei ja oft „unheimlich ruppig“. „Dass wir trotzdem miteinander auskommen, ist erstaunlich.“ In Merz’ Texten sucht ein Ich darum oft nach einem Du, zum Beispiel im Gedicht „Zusammen“ in der Sammlung Aus dem Staub von 2010:
Das Brot geteilt, die Nacht
den Blick ins dunkle
Gewässer.
Und wie jeden Morgen
die Einsamkeiten
neu vertäut.
Der Text entspringt einem liebenden, aber auch unverstellten Blick.
Manchmal ist es biografisches Material, das mehrere Jahre ruht, um sich dann unerwartet zu melden. So berührt die mit dem Schweizerischen Schillerpreis bedachte verstörende, betörende Erzählung LOS von 2005 über den verschollenen Gymnasiallehrer Peter Thaler („einer, der erst im Tod bei sich selber ankommt“) auf einem traurigen Vorfall in Merz’ Freundeskreis. Und auch den Stoff für die Novelle Der Argentinier von 2009 über einen gewissen Johann Zeiter, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Südamerika „abgedampft“ ist, „um wegzukommen aus der alten, auf Grund gelaufenen Welt“, hatte der Autor längere Zeit bei sich ruhen, bis die Geschichte nach Jahren danach verlangte, erzählt, also in Sprache verwandelt zu werden.
Den Alltag mit dem All-Tag verbinden
Klaus Merz reagiert das erste und einzige Mal während des Gesprächs genervt, als wir ihn fragen, ob er sich als einen politischen Autor verstehe. Es ärgere ihn, wenn Schreibende gebetsmühlenartig vorgeworfen werde, sie würden sich nicht mehr politisch äussern.
„Ich habe nie auf Befehl gebellt“, so Merz, der aus Neid auf seine beruflichen Meriten und/oder unliebsamen politischen Aussagen schon verschiedentlich zur Zielscheibe diffamierender Attacken von „journalierenden Rechtsauslegern“, wie er sagt, geworden ist. Im Übrigen seien an die Stelle einzelner exklusiver „Moralposthalter“ zum Glück längst breiter abgestützte, gesellschaftskritische Organisationen wie zum Beispiel Greenpeace, WWF oder Amnesty International getreten und, so Merz: „Politisches Denken – nicht Lärmen – verstehe ich nach wie vor als Bürgerpflicht.“
Aber die Aufgabe der Kunst bestehe ja viel mehr darin, „das Wesen der Dinge erfahrbar zu machen“, sagt Merz, und andere Lesarten der vermeintlichen Realität vorzuschlagen. Dabei könne dann der Alltag auch unverhofft zum All-Tag werden, wie ihm der Maler Hugo Suter einmal geschrieben habe. Oder wie er im Gedicht „Milchstrasse“ aus der Sammlung Nachricht vom aufrechten Gang von 1991 selber schreibt:
Die Nachricht vom auf-
rechten Gang
verbreitet sich langsam
im All.
Du legst den Kopf
ins Genick
in der Küche löscht
die Tochter das Licht.
Da wird in starker Verdichtung das Fernste und das Nächste zusammengeführt: „Pneuma. Atem. Föhn.“ Es müsse eben in der Kunst wie bei Henri Matisse zu- und hergehen, erklärt Merz, dem das Museum Strauhof in Zürich 2007 die Ausstellung Der gestillte Blick. Der Schriftsteller Klaus Merz und die Bilder gewidmet hat. Matisse mache in einem „Ausschnitt“ stets das Wesen des Ganzen sichtbar. Gerade durch die späten „Scherenschnitte“ des alten Meisters habe er die „wirkliche“ Natur noch besser sehen gelernt, so der Autor: „Sogar das Erlebte will zuerst beschrieben sein“, hält er im Gedichtband Garn aus dem Jahr 2000 dazu aphoristisch fest.
Zum Bleistift geworden
Klaus Merz könnte vermutlich ohne das Schreiben gar nicht leben: „Im Lauf der Zeit selber / zum Bleistift geworden / der auch ein Bleistift bleibt / wenn er nicht schreibt.“, heisst es im Gedicht „Biographie“ (in Aus dem Staub). Es ergeht ihm wohl wie seinem Fotografen Alfred A., der meint, es sei zwar anstrengend, „sich jeden Tag aufs Neue Boden unter die Füsse fotografieren, denken oder schreiben zu müssen. Dafür bleibt man aber bei dieser Art zu leben wahrscheinlich offener, schutzloser natürlich auch, als wenn man sich auf die Verteidigung eines Lebensplanes, fester Prinzipien eingestellt hat“ Unterkulm im Dezember. Klaus Merz bringt uns zurück zur Bahnstation. Es hat aufgehört zu regnen. Der knatschgelbe Schirm bleibt zu. Aber unsere Sinne haben sich ganz weit geöffnet.
− Klaus Merz als Lyriker. −
1
Wer sich die schönsten Orte der Schweiz ins Album kleben will, braucht nicht nach Menziken AG zu fahren. Nicht dass der Ort hässlich wäre, das nicht. Wie harmonisch er zwischen den sanften Hügeln des aargauischen Wynentals liegt, das geht einem allerdings erst auf, wenn man von einem dieser Hügel aus (von der Terrasse des legendären Gasthofs Waldegg zum Beispiel) hinunter ins Tal und hinüber ins Luzernische sieht. Der reiche Baumbestand fällt auch von oben auf, hinter den Bäumen verstecken sich diskret die Villen der einstigen Tabaksfürsten. Besonders schön und offen sichtbar ist die Fassade des Elternhauses von Hermann Burger, der so gerne einer echten Tabaksfamilie angehört hätte. Besser als das dreizehnstöckige Hochhaus aus den sechziger Jahren (ein frühes Bekenntnis zu Modernität und Fortschritt) gefällt mir der neue Bahnhof aus Glas, in dessen Halle in diesen Tagen ein Stück von Klaus Merz aufgeführt wird. Der Autor kann von hier aus einen Blick auf das Haus werfen, in dem er aufwuchs. Die Sehnsucht nach einer Tabaksherren-Verwandtschaft hat den Bäckerssohn meines Wissens nie heimgesucht.
Auch das gehört zu Menziken. Der Ort mag auf einer Touristenreise nicht einmal einen Umweg verdienen – aber er ist eine erste Adresse (vaut le voyage), wenn es um eine Lesereise sei’s in der Realität oder im Kopf – geht. Zwar wimmelt es in Menziken gewiss nicht von Literaten; aber beachtlich viele unter den anerkannten, ja berühmten Autoren der Gegenwart sind hier aufgewachsen: neben Burger und Merz ist sicher noch Martin R. Dean zu nennen, dessen Vater aus der Karibik nach Menziken kam – dazu, selbst für Kenner immer noch eine Überraschung, Martin Merz (der jüngere Bruder von Klaus), der seiner schweren Behinderung unvergleichliche Gedichte abgewann, so einleuchtend und fremd wie Träume.
„Menzenmang“ hat Hermann Burger seinen Kindheitsort getauft – und ihn dadurch gleichsam annektiert. Menzenmang: wo man Mangel leidet, wo man in die Mangel genommen wird? Anders als Burger, dieser Benennungssüchtige, hat Klaus Merz seinen Lebensorten keinen eigenen Namen gegeben, es wohl nicht einmal in Erwägung gezogen. Seine Haltung den Dingen, Menschen, Landschaften gegenüber ist, auch wenn er sie beschreibt, nicht besitzergreifend, er will die Welt, will gerade das, was ihm nahe ist, lieber öffnen als festlegen, lieber hinweisen und fragen als eingrenzen. Auf diese Art, fast nur zeichenhaft, hat er in einem Interview jene Region evoziert, der er sich auf besondere Art nahe fühlt: „Zwischen Schwarzenbach und Erlosen, mit Blick in die Alpen und den Jura, zum Landessender Beromünster und zu den Rauchfahnen von Gösgen und Leibstadt“, dort sei sein „Epizentrum“.
Zwischen Schwarzenbach und Erlosen: die Wortkombination könnte von Merz erfunden sein, aber er hat sie in der Landschaft gefunden. Vielleicht sind diese Namen und deren Magie (wer würde bei „Erlosen“ nicht unwillkürlich Umlautzeichen mitdenken!), vielleicht sind sie der Grund, dass ich jetzt unterwegs bin, zusammen mit dem Autor durch Menziken fahre und ein kleines Stück weiter, hügelaufwärts. Als wir die kleine Hochebene begehen, auf die er anspielt, fährt gerade ein Junge (mir scheint er viel zu klein für diese Arbeit) eine Heuwendmaschine, und er dreht den Riesen so souverän, dass das „zu klein“ mir nicht über die Lippen kommt. Ich lerne, dass „Erlosen“ kein Ortsname ist (deshalb konnte ich ihn auf der Schweizerkarte nicht finden), sondern den Wald meint, der da tatsächlich schwarz und schweigend vor uns steht. Und dass Schwarzenbach sich bereits ennet der Grenze, im Luzernischen befindet. Nur kurz reden wir darüber, dass zwei der schönsten, eigentlich die mir liebsten Erzählungen von Merz sich in diesem kleinen Landschaftsraum bewegen: „Tremolo Trümmer“ und „Im Schläfengebiet“ (der Unfall eines leidenschaftlichen Amateurfliegers ist das Thema der einen, der fiktive Todesweg des Vaters das der anderen Erzählung). Über die Magie der beiden Namen, zwischen denen der Junge sein Ungetüm immer noch steuert, hin und zurück zwischen Schwarzenbach und Erlosen, Dunkelheit und Helle, Hölle und Himmel, darüber haben wir uns schon am Telefon verständigt. Auf dem Rückweg zeigt Klaus mir die kleine Barockkirche, in der, ganz aus schwarzem Marmor gefertigt, die Statue des Schutzpatrons der Epileptiker steht. Der Horizont ist immer noch verschleiert, Alpen und Jura nur als Silhouette sichtbar, der Turm von Beromünster als ein zartes Gitterwerk. Der Eindruck von Weite, von einer grossen Offenheit wird dadurch noch stärker.
2
Dass ich Wörter und Bilder der Offenheit und Weite an den Anfang dieses Porträts stelle, mag überraschen. Denn Merz ist kein Liebhaber der grossen Literaturformen, mit denen man gerne Weite assoziiert. Wie die um eine Generation älteren Kollegen Kurt Marti und Peter Bichsel ist er eingeschworen auf kleine und zunehmend auch kleinste Formen. Je grösser, unbestrittener die Geltung gerade des redundanten Romans im Literaturbetrieb ist, je dominanter sich dessen Vertreter und Verteidiger gebärden, desto unwiderstehlicher scheint es Autoren wie Merz zur Kürze, zum sparsam-bewussten Umgang mit dem Wort zu drängen.
Wohl deshalb wird er mit einer schon verdächtigen Selbstverständlichkeit als „Lakoniker“ bezeichnet. Das ist aber höchstens zur Hälfte richtig. „Lakonismus“, so will es mein Lexikon, sei eine „kurzbündige und treffende, dabei objektiv unbeteiligte Sprechweise.“ Aber so sparsam Merz sich formuliert, er schreibt weder kurzbündig noch objektiv unbeteiligt. Und wenn er ein Lakoniker ist, dann einer, der auch dem Lakonismus misstraut. Seine Texte engen nicht ein, nageln nicht fest, eher öffnen sie den Blick und lassen ihn ins Weite gehen, nicht anders, als es die Landschaft bei Schwarzenbach und Erlosen tut. Nur im Konjunktiv und abgesichert durch Formeln des Zweifels, ist für diesen Autor Erkenntnis denkbar. Und Erkenntnis, das ist bei ihm kein rationaler Prozess, sondern, so will es ein sehr knappes Gedicht, etwas sehr Konkretes, dennoch Geheimnisvolles: ein Sich Öffnen, ein „Auf-Gehen“ im Wortsinn:
WUNSCH
Vielleicht,
dass uns
etwas aufginge.
Einmal.
Per Zufall.
Für immer.
Die kurzen, scheinbar so kompakten Texte – Gedichte wie Prosastücke – sind nicht statisch, sondern innerlich voll Bewegung. So klein sie sind, es ist ihnen eine Art Sprengkraft eigen – vielleicht die im folgenden Prosatext evozierte Sprengkraft der Wicke:
Gegenwart
Unmittelbar nach einer fernen heftigen Detonation explodierte am nahen Gartenzaun die reife Hülsenfrucht einer Wicke. Laut & deutlich verstreut sie ihre Samen in die Welt. Auch meine Nachbarin tritt wieder hinter ihre getrocknete Wäsche zurück und nimmt sie ab.
3
Von früh an, schon als Gymnasiast hat Klaus Merz Gedichte geschrieben, ermutigt, wohl auch inspiriert durch Erika Burkart, die im Aargau als ein Schutzgeist der Poesie wirkt, wie man ihn jeder Region wünscht. Seine ersten Bändchen hat Merz gleichsam in die Achtundsechziger-Zeit hinein publiziert – in eine Zeit also, in der sich gesellschaftliche Detonationen mittlerer Grösse dicht aufeinander folgten, während die stille Explosion einer Wicke oder eines Gedichts kaum mehr zur Kenntnis genommen wurde. Merz stand nicht einfach in Gegnerschaft zu dieser Zeit, er hat manche ihrer Impulse aufgenommen und weitergeführt, aber auf seine Art. Tiefer als die gesellschaftskritischen Impulse wirkte auf ihn die Grunderfahrung, die ihm schon als Kind durch seine Familie zuteil wurde: dass Leiden und Tod – und auch das plötzliche Aufscheinen von Glück – unauflösbar zur condition humaine gehören.
Nicht die politische Lyrik hat den Autor in seinen Anfängen beeinflusst, sondern Dichter wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Erika Burkart, und, noch in den jüngsten Texten spürbar, Günter Eich, mit dem er auch den Sinn für das Absurde teilt – und den Humor, diesen verlässlichsten Schutz gegen die Verzweiflung. Früh hat sich Merz der Prosa zugewandt, sogar ein volles Jahrzehnt die Lyrik beiseite gelassen und sich auf die Entwicklung seiner Erzählungen konzentriert, für die ihm schliesslich der „verdiente“ Erfolg zufiel.
Seine lange Lyrik-Abstinenz ist nicht folgenlos geblieben. Veränderung und Entwicklung zeigen sich allerdings zunächst weniger an den Gedichten selbst, als an deren Anordnung und Präsentation. Von der Mitte der achtziger Jahre an hat er in keinem Buch mehr ausschliesslich Lyrik publiziert, sondern ausnahmslos Kombinationen oder Mischungen von Gedichten und Kürzestprosa. Man könnte sagen, es gebe seither keinen „reinen“ Lyriker Merz mehr; dafür gibt es einen Autor, der Lyrik und Prosa auf besondere, ja einmalige Art verbindet, so dass Poesie nicht nur im Gedicht, sondern ebenso sehr in Prosatexten aufscheint. Er verstehe sich heute vor allem als Prosaautor, sagte er vor kurzem, aber seine Wurzeln seien immer noch „auf der anderen Seite“, eben bei der Lyrik. Diese Feststellung lässt die konsequente Verbindung der beiden Genres begreiflich werden: der Prosaist vergewissert sich dabei seiner lyrischen Ursprünge, und der Lyriker des eingeschlagenen Wegs als Erzähler. Ob ein Einfall zu einem Gedicht oder einem Prosastück führt, entscheidet sich erst im Prozess der Arbeit, nicht vor ihrem Beginn.
4
Man könnte sagen, viele Figuren im Werk von Klaus Merz, und wohl auch der Autor, litten am „Binnenlandgefühl“ – eine Worterfindung aus der Erzählung „Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein?“. Diese Trouvaille ersetzt wunderbar das strapazierte Wort „Enge“ und evoziert die Sehnsucht nach dem Meer, die das Werk von Merz durchzieht – allerdings verhalten, wie alle seine wichtigen Motive. Eigentliche Meergedichte sind denn auch überaus selten; Zeichen, im Halbschlaf wahrgenommene, müssen genügen, die erlösende Meergegenwart zu evozieren:
Salzgeruch hängt herein,
das Meer drängt ins Zimmer,
die Schneeschleudern ziehen ab
Vielleicht noch wichtiger als der Traum vom Meer ist aber der Traum vom Fliegen, und das heisst, die Befreiung aus der Bodenhaftung. Diesem Flugtraum ist eines der schönsten Gedichte gewidmet:
FLUG
Nur mit den Armen rudernd
fliegen wir nächtelang
durch die Gegend.
Die Sternwarten
leuchten.
Aus der Neandertalzeit
hat man das Grab eines Kindes entdeckt
das auf einen Schwanenflügel
gebettet lag.
Dieser Flug setzt uns fort.
Es entspricht der Abneigung des Autors gegen das Ungefähre und Ungenaue, wenn dieser zauberhafte Flug sich nicht in einer unbestimmten Weite verliert, sondern in der Gegend bleibt; und gerne stellt man sich vor, es sei dies die Gegend von Schwarzenbach/Erlosen. Etwas Kindliches liegt über diesem Flug-Traum, und so darf auch ein Kind vorkommen, dessen vorzeitlicher Flug auf dem Flügel eines Schwanes „uns fortsetzt“, vielleicht in die Transzendenz hinein. Eine zyklische Bewegung der Zeit tritt in diesem Gedicht eindrücklich an die Stelle der linearen; die Vorzeit darf an die Gegenwart anschliessen und ein Kreisen einleiten, das die Chronologie ausser Kraft setzt.
Wer die Dinge so sieht, wie es in diesem Gedicht geschieht, den nennt man einen Träumer. Und tatsächlich ist Klaus Merz ein Träumer, aber auf eine spezielle, nicht auf eine verblasen-romantische Art. Man könnte geradezu sagen, er fühle nur dann verlässlichen Grund unter den Füssen, wenn er träume. Wie die Wahrnehmungen des Tages, wie die Erinnerung, gehören Träume gleichsam zu seinem Arbeitsmaterial; sie erlauben ihm, die Wirklichkeit auszumessen nach der Dimension des Absurden – ja, sie dienen, darüber hinaus, sogar als eine Art Vorbild, als Leitvorstellung, wie ein Text aussehen sollte. Mehr als einmal weist der Autor selbst darauf hin: „Texte müssen den Lesenden so entgegenkommen, wie einem Träume entgegenkommen, in dieser Gradlinigkeit und eigenartigen Unwiderlegbarkeit“. Die Träume, die als Ganzes oder in Bruchstücken in den Gedichten aufscheinen, entsprechen auf eigenartige Weise den literarischen Vorstellungen des Dichters. Sie unterliegen dem Gesetz der Kürze und der Auslassung, folgen der Abneigung des Autors gegen alle Redundanz, seiner Vorliebe für das Alltägliche, ja Banale, das in Träumen so häufig vorkommt.
Im Inneren einer Kuh, nicht eines Fabeltiers fliegt das Ich einmal zusammen mit vielen Leuten, auch Kinder sind dabei, durch die Gegend („Morgengrauen“). Und ein nasser Handschuh wird zum entscheidenden Requisit in einem Gedicht über den Frieden:
IM FRIEDEN LEBEN
Ins Erwachen hinein
warf mir ein Mann
seinen nassen Handschuh vor die Füsse
Ich hob ihn auf und
legte ihn zum Trocknen
auf den Radiator.
Wer wollte das nicht: dem Titelwort gehorchen und im Frieden leben! Aber wie soll einer davon reden, der die Phrase scheut? Da kommt ein Traum zu Hilfe; er dreht durch seine absurde Logik den Ernst ins Komische, das Komische wieder zurück in den Ernst. Der Fehdehandschuh ist ein Requisit aus einer feudalen Zeit; doch ist eine heroische Haltung schwer durchzuziehen, wenn die Banalität sich einmischt! Ein nasser Fehdehandschuh ist keiner mehr: das erlaubt dem Träumer – im Wachse in oder in einem neuen Traum −, das zu tun, was der gesunde Menschenverstand gebietet: den Handschuh zu trocknen. Das Nächstliegende tun, die Herausforderung zum Kampf ignorieren, das heisst – im Alphabet dieses Gedichts – im Frieden leben.
5
Nicht alle Verse können oder müssen aufgeschlüsselt und „verstanden“ werden. „Mode sei eine Variante des Einsamseins, behauptet beharrlich die Schneiderin“ – an einem solchen Satz kann man lange herumrätseln. Um wie viel mehr an einem kurzen Gedicht wie dem folgenden, das ein Höhepunkt des Bandes ist; ein poetologisches Schlüsselgedicht, das geheimnisvoll bleibt. Ein Gedankengedicht über die Beziehung von Kunst und Leben, die notwendige Distanz zwischen beiden, das (man kann nur staunen) durch den genial-absurden Einfall des Anfangs sicher im Konkreten verankert wird:
SCHRIFT
Wenn die Wirklichkeit selber
Sätze machte, nichts
bliebe uns mehr
zu erzählen. Und
was zu leben wäre,
wäre erlebt.
Ein Kapitel für sich sind die Titel. Nicht alle führen so direkt zum Gedicht wie die Titel „Schrift“ oder „Flug“. Nicht selten spielt der Titel ein geistvolles Versteckspiel mit dem Leser und mit dem Inhalt, am verwirrendsten, wie mir scheint, wenn das Thema ernst, der Tod die versteckte Hauptfigur ist. Er wird nie vorgezeigt und ist doch immer da. Wie er in der Kindheit von Merz omnipräsent und zugleich halb verborgen war – schon in Gestalt des totgeborenen ältesten Bruders, der dem Roman Jakob schläft den Titel gegeben hat und der dort wie ein dunkler Gott und zugleich als helfender Bruder über der kleinen Familie thront.
Aber so allgegenwärtig der Tod ist, so viele Todeszeichen gesetzt sind, die Gedichte von Merz sind keine Todesgedichte, seine Werke ganz allgemein keine Todesbücher. Anders als Hermann Burger, sein Kollege, Schulkamerad, Freund, ist Klaus Merz kein Todessüchtiger, aber auch kein von Todesangst Gejagter. Der Tod ist hineinverwoben in den Lebensstoff, in den Text, als ein selbstverständlicher, schmerzhafter und unvermeidlicher Teil des Lebens. Deshalb sind da auch Gespräche mit den Toten möglich (aus dem Wasser rufen die Ertrunkenen den Fischern „Petri Heil“ zu), und deshalb kann der Tod als Adressat des Gedichtes „Kartengruss“ um Rat gefragt werden: darüber, wie die Menschen den flüchtigen Maskenzug, der Leben heisst, bestehen.
Ach Tod,
du Luder,
Liebster,
woher nur
nehmen die Menschen
ihre Gesichter
beim Vorübergehen?
Elsbeth Pulver 2002, aus: Elsbeth Pulver: Tagebuch mit Büchern. Essays zur Gegenwartsliteratur, Theologischer Verlag Zürich, 2005
Joachim Leitner: Sie haben kürzlich den renommierten Hölderlin-Preis erhalten. Was verbinden Sie mit dem Dichter?
Klaus Merz: In meiner Jugend hat mich Hölderlins Werk sehr beschäftigt. Ich war ihm beinahe verfallen. Später löste ich mich schrittweise von seinem Einfluss. Die hohen Ideale, der hymnische Ton machte mich schwindlig. Ich wandte mich ab, betrieb literarischen „Kahlschlag“ und musste doch erkennen, dass die Wurzeln aller „neuen“ Meister, denen ich mich zuwandte, ebenfalls zurück zu den alten, unter anderem zu Hölderlin und ins existenzielle Fundament dieser Dichtung führten.
Leitner: Arno Geiger hat mit Blick auf Ihr Werk gesagt, dass große Erzähler nichts Bestimmtes zu sagen haben…
Merz: Alles Erzählen kreist um die immer gleichen Themen. Es geht um Liebe, Tod, ums Zweifeln und Verzweifeln, um die menschlichen Grundgebrechen. Davon wird immer wieder erzählt, immer ein bisschen neu, immer ein bisschen anders. Um diese Verschiebungen geht es mir.
Leitner: Sie gelten als Meister kürzerer Formen. Manche Ihrer Erzählungen sind nicht länger als ein Satz.
Merz: Mich interessiert das Konzentrat, die Reduktion. Ich liebe das Verdichten. Mir ist es lieber, wenn Leser nach 100 Seiten das Gefühl haben, einen 300-Seiten-Roman gelesen zu haben als umgekehrt.
Leitner: Ein Kritiker meinte über Sie, dass in einem Ihrer Sätze, die ganze Welt steckt.
Merz: Das ist ein schöner, schmeichelhafter Satz. Aber grundsätzlich finde ich schon, dass jeder Schriftsteller den Willen haben muss, Sätze zu schreiben, die sitzen.
Leitner: Wie viel Arbeit steckt in solchen Sätzen?
Merz: Es ist ein Prozess. Manchen Sätzen muss man Zeit geben. Gewisses Material muss ruhen, bis es an Aktualität verliert und seine dauerhafte Seite zeigt.
Leitner: Im Gedicht „Befehlsgewalt“ sprechen Sie von „Wunderschuhen“, die einer Erzählung lauschende Kinder „über alle Berge“ bringt. Ist das eine Aufgabe der Literatur: Den Leser mitzunehmen in das Unbekannte?
Merz: Es gilt den Leser zu verwundern, ihn einen Moment lang zu irritieren. Ihn aus der Verstocktheit des Tagesgeschehens rauszunehmen. Es gibt auch andere Dimensionen. Man muss nicht immer in schweren Schuhen durch die Berge, sondern man kann die Wirklichkeit auch erzählen oder sie erzählen lassen.
Leitner: Trotzdem treibt Ihr Schreiben gerade das vermeintlich Alltägliche an.
Merz: Wir haben nichts anderes zur Verfügung als den Alltag. Auch das Spektakuläre ist im Grunde Alltag.
Leitner: „Sogar das Erlebte will zuerst / beschrieben sein“ heißt es in einem Ihrer Gedichte.
Merz: Ja, das ist mir wichtig. Erst das Formulierte wird lesbar, es wird anders und neu erfahrbar. Das ist eine große Aufgabe. Nicht nur der Literatur, sondern auch der Malerei.
Leitner: Malerei spielt in ihren Texten immer wieder eine Rolle. Was fasziniert sie an Bildern?
Merz: Bilder sind gut abgehangene Wirklichkeit, die über singuläre Erfahrungen hinausgeht. In einem Bild verdichtet sich die Weltsicht des Malers, alles was er kennt und zu kennen glaubt und die Erfahrung des Betrachters.
Leitner: Viele Ihrer Bücher werden von Heinz Egger illustriert.
Merz: Das verbindet uns seit bald dreißig Jahren. Er reagiert auf meine Texte und malt Paraphrasen, Zusätze.
Leitner: Der Innsbrucker Haymon Verlag gibt seit 2011 eine Gesamtausgabe Ihrer Werke heraus. Eine Ehre, die nicht jedem Autor zuteilwird…
Merz: Anfangs war ich von dem Projekt nicht überzeugt. Mir wäre lieber gewesen, mein Verlag hätte das gemacht, wenn es mich nicht mehr gibt. Aber Verleger Markus Hatzer und mein Freund Markus Bundi, der die Bände herausgibt, haben mich überredet – und, was soll ich sagen, ich bin sehr dankbar.
Schreiben, übersetzen, übersetzt werden – Ein Lyrikabend mit Donata Berra und Klaus Merz. Die von Pietro De Marchi moderierte Veranstaltung fand am 7. März 2013 am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Zürich statt.
Poesiegespräch mit Klaus Merz in der literaturwerkstatt berlin am 13.12.2011.
Klaus Merz: In den Diensten des Dichters. Dankrede zum Friedrich-Hölderlin-Preis 2012.
Klaus Merz liest als Laureat des Basler Lyrikpreises 2012.
Klaus Merz liest beim Internationalen Festival der Poesie von Medellín am 10.7.2009.
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