FORTGANG
1
Aus allen Schuhen ge-
kippt. Und wo noch einer
am Fuß steckt, gibt’s
wunde Stellen.
2
Der Himmel leckt. Barfuss
wie in den Filmen
geht Jesus übers Wasser.
Wir hinken.
über den Mauerfall bis zur Finanzkrise und der Fußballweltmeisterschaft
Verdichtet im Mikrokosmos einer Firmengeschichte entfaltet Klaus Merz die Kulisse der letzten fünf Jahrzehnte und erzählt wie beiläufig auch vom eigenen „In der Welt Sein“. In großer poetischer Anschaulichkeit gibt er dabei weit mehr preis als manch beflissener Lebensbericht. Es klingt alles ein wenig anders und doch vertraut in der „firma“ – in diesem Eindruck wandert man an der Hand des Autors in den zweiten Teil des Buches. In Form von Gedichten führt Merz darin hoch „Über den Zaun hinaus“: ins Tiefe, ins Weite.
Vielfach ausgezeichnete Kunst der Verdichtung von Klaus Merz
Mit einem Augenzwinkern verdichtet der vielfach ausgezeichnete Lyriker und Romancier Klaus Merz die eigene Autobiographie zu einer Firmensaga. Die großen Umbrüche unserer Zeit spiegeln sich darin ebenso wider wie die kleinen menschlichen Tragödien des Alltags. Mühelos lässt Merz in manch unscheinbarer Episode das Wesen des Zwischenmenschlichen durchschimmern – und zeigt wieder, wie aufregend es sein kann, die Welt mit dem Blick des Lyrikers, des Verdichters wahrzunehmen. Eine besondere Schule der Wahrnehmung, veredelt mit acht eigens angefertigten Pinselzeichnungen von Heinz Egger.
– Neue Zusammenhänge und alte Widersprüche. Wie drei neue Lyrikbände aufs sprachliche Reduzieren setzen und gerade damit an die herrliche Komplexität von Gesellschaft, Natur und Liebe erinnern. –
(…)
Noch einen Schritt weiter geht ein anderer Meister des lyrischen Minimalismus, nämlich der Schweizer Dichter Klaus Merz, dem Schwärmerei, mag sie noch so vertiefend vieldeutig sein, völlig fremd ist. In seinem neuen Werk firma zeichnet der vielfach ausgezeichnete Autor die Geschichte eines Betriebes nach, beginnend im Juli 1968, endend im Dezember 2018. Dazwischen gibt es Neueinstellungen, gute und schlechtere Bilanzen, Firmenfeste, Weltpolitik und auch die Liebe:
Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offen-
sichtlich in geschäftseigenen Räumen
vollzogen worden, wir hätten darüber hin-
wegsehen können: Die beiden Beteiligten
zeigen ihre erhitzten Gemüter, dahinter
unscharf das Firmenlogo.
Ein anonymer Fotograf hat das Bild, so erfahren wir, ans Schwarze Brett gepinnt, doch der Denunziant hat wenig Erfolg:
Wir haben Stellung beziehen müssen und
halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen
der gesamten Belegschaft verlässt das
Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoff-
nung die Kirche.
Die gebundene Kurzprosa, die auf eine Genrebezeichnung verzichtet und in der mit dem Enjambement ähnlich virtuos umgegangen wird wie in Falkners Landschaftspoesie, wartet mit einer elementaren Botschaft auf. Selbst wenn nun wirklich jede Form von sprachlichem Schnörkel entfällt, wenn also ein nahezu ökonomisches Gerüst des Erzählens beziehungsweise Dichtens übrigbleibt, gibt es noch ein Festhalten an Nachsicht und Liebe. Womit der Text sehr subtil Form und autobiografischen Inhalt verschränkt.
Denn das geheimnisvolle Unternehmen, das vom Beglaubigen und Bezeugen lebt und das unter kapitalistischen Marktbedingungen keine Chance hat, lässt sich auch als Firmengeschichte des Schriftstellers Klaus Merz lesen. Der konnte vom Dichten nicht leben, wurde Lehrer und schuf ein lyrisches Werk, dessen viel gelobte Kunst nicht zuletzt darin bestand, in der größtmöglichen Verdichtung eine glaubhafte Schönheit zu veranschaulichen.
„Alles wird gut“ heißt ein Dreizeiler aus dem zweiten Teil des Bandes, in dem der Dichter das Firmengelände verlässt und „über den Zaun“ hinausgehen möchte:
Von den Schläfen
fällt Schorf auf deine Schultern.
Als Zeichen der Heilung.
Und am Ende dann ein „Geständnis“:
Nichts geht
ohne den Beistand
der Wörter.
Wer indes nicht auf die Wörter hören will und dem wortwörtlichen Beistand der Sprache nichts abgewinnen kann, wird nur Propaganda verfassen. Die wird vielleicht kurzfristig auf der politischen Bühne erfolgreich sein, aber auf lange Sicht vor allem Ödnis hinterlassen. Insofern können die Gedichtbände von Chana, Merz und Falkner auch als Heilmittel für eine verschorfte Öffentlichkeit gelten, in der prägnante Sätze vor allem als Hasstirade oder Belanglosigkeit vorkommen.
– Es ist ein Werden und Vergehen in dem Gedichtband firma von Klaus Merz. Nie war der Tod gegenwärtiger, nie war dessen Antlitz freundlicher. –
Ein phantastisches Bild eröffnet Klaus Merz’ neuen Gedichtband. So beiläufig und überraschend ist es zwischen die Verse gestreut, dass man erst den eigenen Ohren und Augen nicht recht traut, dann ein wenig erschrickt, aber wirklich nur ein wenig, um schliesslich beglückt weiterzulesen. Seit dem Morgen sassen die Freunde in der Badeanstalt, vor sich einen Mietvertrag, unter den sie nun, da es schon fast dämmert, entschlossen ihre Unterschriften setzen: Es ist das Gründungsdokument ihrer Firma.
Und so lauten denn die ersten drei grandiosen Verse dieses Auftaktgedichts:
Fast dämmert es schon unter den hohen
Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit
den nahen Friedhofsbäumen verschränken.
Kommt in diesem schlichten Bild und in diesen Zeilen nicht schon alles zusammen, wovon Dichtung immer handelt? Das Leben, gewiss, aber vor allem der Tod. Im Leben seien wir vom Tod umgeben, heisst es: Den Badegästen muss es unter den hohen Bäumen, deren Kronen sich mit den Nachbarn verschwistern, eine Selbstverständlichkeit gewesen sein.
Und ein Schritt nur soll es darum sein vom Einmeterbrett hinüber ins Grab? Ja, gewiss, wo wir doch jeden Tag ein wenig sterben. Bereits die allerersten Wörter in diesem Band zeigen also ganz unverkrampft, wie der Hase hier läuft:
Fast dämmert es schon.
Das zögerliche „fast“ täuscht ja keinen darüber hinweg, dass es mit dem Tag – wie dereinst mit allem – zu Ende gehen soll. Jeder Anfang ist darum ein Fanal. Und mögen die Freunde eine Unterschrift unter einen Vertrag setzen und damit zu Neuem aufbrechen, so besiegeln sie doch zugleich ihr Schicksal.
Klaus Merz ist der Zenmeister des Beiläufigen und Unauffälligen. Schöner und eindringlicher zeigt er es trotzdem selten als in diesen ersten Zeilen seines neuen Gedichtbandes. Wir hören kein auftrumpfendes Wort und sehen keine überflüssige Geste. Ein klassisches Understatement könnte man es nur dann nennen, wenn diese Zurückhaltung etwas Demonstratives hätte: aber nichts von alledem.
Diese Poesie findet ihre Gegenstände nicht unter Anstrengung und nicht im Abseitigen, sie muss nichts verstecken oder verrätseln und auch nichts hervorheben. Sie zeigt schlicht, was ist: Bäume hüben und drüben, ein Einmeterbrett, ein Mietvertrag, die Dämmerung. Es ist das ganze Leben. Von seinem Anfang bis zum Ende, alles in den einfachsten Dingen aufgehoben und auf kleinstem Raum versammelt.
Das geht natürlich nicht immer gut, denn das Simple kann auch eine Masche sein, ein Markenzeichen, und dann klingt es schnell hohl, weil die innere und darum zwingende Notwendigkeit fehlt. Das geschieht gelegentlich in dem ersten grossen Gedichtzyklus, der eigentlich aus rund fünfzig Poèmes en prose besteht, die nach dem Gründungsakt in der Badeanstalt mit mehr oder weniger jährlichen Einträgen fünfzig Jahre Firmengeschichte erzählen: vom Sommer 1968 nämlich bis zur Liquidation des Unternehmens an Weihnachten 2018.
Das ist allerdings mehr als eine Firmengeschichte mit wechselndem Personal. Es spiegelt sich darin auch die Zeitgeschichte, die da und dort, bald subtil, bald offenkundiger, aufscheint. Klaus Merz notiert alles Disparate aus der Firmenkantine bis zur Buchhaltung in einem Beiläufigkeitsstil, der immer dann traumwandlerisch glückt, wenn ein Gedanke sich in einem präzisen und gleichwohl überraschend naheliegenden Bild kristallisiert.
Etwa in dem Eintrag von 1972, als die ganze Belegschaft, erst die Männer, dann die Frauen, in einer mobilen Röntgenanlage ein Schirmbild anfertigen lassen muss. Das Bild vom Inneren des Körpers, wo der Tod sich vielleicht bereits in der Lunge eingenistet hat, enthüllt zugleich einen Blick in die Zukunft. Plötzlich ist der Gedanke an die Sterblichkeit ganz gegenwärtig, und auch wenn die robusten Männer ihre Witze rissen, so hört man doch gerade aus ihrem Frotzeln die Angst vor dem Ende heraus.
Die Kunst solcher Verknappung besteht nun darin, dass der Dichter all dies gar nicht auszusprechen braucht. Er zeigt lediglich die forcierte Heiterkeit der Männer und Frauen und lässt höchstens einen kleinen falschen Nebenton anklingen in ihren Gesprächen, und gleich bricht da in den Alltag das Bedrohliche ein, das einen Augenblick später auch schon wieder vergessen ist.
Solche Eindrücke bleiben erhalten, sie prägen sich den Gedichten ein, gleichsam unter der sichtbaren Oberfläche. Und zugleich zieht eine Tonspur des Sterbens durch die Jahresringe dieser Firmengeschichte, nicht nur da, wo einer Hiob Schwarz heisst und verschwindet oder einer mit Namen Graber ins Grab geht. Das wirkt dann etwas platt. Atemberaubend wird es erst, wenn Frau Ampferer, die neue Telefonistin, warnend sagt, sie befinde sich im Vorraum, ehe sie einen epileptischen Anfall erleidet. Und man begreift: Es muss sich anfühlen, als sei sie im Vorhof des Todes.
In ihren besten Momenten passiert in diesen Texten, was ein Gedicht aus den vier Zyklen des zweiten Teils dieses Bandes so beschreibt:
Eine Sprache finden,
Worte, die (…) Reibung
erzeugen
Darum geht es: mit der Sprache Konstellationen herbeizuführen, die uns Widerhaken ins Denken und in die Wahrnehmung pflanzen. Seltsamerweise nimmt ein Nachsatz in diesem Gedicht den Gedanken gleich wieder in die Harmlosigkeit zurück. Es endet so:
… Reibung
erzeugen, Wärme,
Licht.
Nein, um Wärme oder Licht geht es zuletzt und zum Glück fast nie in diesen Gedichten. Aber um jenen Punkt, da unversehens das Ungewisse ins Leben einbricht: irritierend und aufwühlend. Etwa in dem Gedicht „Über den Zaun hinaus“. Man besucht mit den Kindern die Gräber von Grosseltern, Eltern und Bruder, und beim Weggehen fliegt vom nahen Tennisplatz ein Ball vor die Füsse:
Wir
steckten ihn ein. Als Zeichen von drüben.
Sofort glaubt man zu verstehen, was mit „drüben“ gemeint ist. Aber steht denn hier am eisernen Friedhofstor fest, ob es ein Zeichen der Verstorbenen oder der Lebenden sei? Den Kindern jedenfalls wird der Ball anderes bedeuten als den Erwachsenen.
Eine Schwelle hinüber zum Drüben markiert auch das listig mit „Am Azonas“ überschriebene Gedicht. Das Ich treibt dahin „auf dem breiten Strom“. Nur das Dämmerlicht lässt uns ahnen, dass es der Fluss ist hin zu den Toten. Und fast gehört auch das Ich bereits zu ihnen:
Hinter geschlossenen Augen
überliess ich mich dösend
dem dunklen Kurs.
Schlichter kann man sich ein Bild nicht denken, das von der Einübung ins Sterben erzählt. Aber sagt denn einer, dass es hier ans Sterben gehe? Keiner. Das macht die Kunst dieser Gedichte aus: Klaus Merz hält sie in der Schwebe, zwischen dem Hüben und dem Drüben.
Ein fürwahr ungewöhnliches Büchlein, ein ungewohnte Lektüre. Von der Form, vom Inhalt, von der Sprache, von der Komposition her. Zahlreiche Gedankensplitter in Gedichtform im zweiten Teil. Eine am Beginn gar nicht so sichtbare Zeitreise, ein kurzes Aufblitzen historischer Ereignisse in Teil Nummer eins. Durchaus humorvoll, dann wieder nachdenklich oder bewusst offen gelassen. Zuweilen bleibt auch Ratlosigkeit zurück. Gibt es eine Botschaft, vielleicht die Vergänglichkeit, oder ist die Botschaft die spielerisch-unterhaltsame Beschäftigung mit der Sprache.
Lukas Tonetto: Dem Nichts dieser Welt setzt Klaus Merz das Gedicht entgegen.
literarischermonat.ch, März 2019
Florian Bissig: Neues vom grossen Lyriker Klaus Merz: Mit firma legt er zwei Werke in einem vor
tagblatt.ch, 7.2.2019
Hans Ulrich Probst: Die kleinen Barrikaden der Schrift
WOZ, 7.2.2019
Schreiben, übersetzen, übersetzt werden – Ein Lyrikabend mit Donata Berra und Klaus Merz. Die von Pietro De Marchi moderierte Veranstaltung fand am 7. März 2013 am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Zürich statt.
Poesiegespräch mit Klaus Merz in der literaturwerkstatt berlin am 13.12.2011.
Klaus Merz: In den Diensten des Dichters. Dankrede zum Friedrich-Hölderlin-Preis 2012.
Klaus Merz liest als Laureat des Basler Lyrikpreises 2012.
Klaus Merz liest beim Internationalen Festival der Poesie von Medellín am 10.7.2009.
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