DAS ERSCHEINEN EINES JEDEN IN DER MENGE
Ist es eine Wohltat allein zu sein
im Gelage der Gedanken ohne Augenzeugen
ohne das Auge des Entdeckers das sieht wie’s
aaaaaschmeckt
ohne das geübte Ohr der Menge?
Was ist eine Tatsache wert die unteilbar ist
was ist ein Universum ohne dein Beben
ohne dein Erscheinen vor leeren Sitzreihen?
Die Menge geht auf der Erde
und nichts vergeht in der Menge
auf den Rücken summender Webstühle
erreichen wir den großen Widerspruch:
das Erscheinen eines jeden in der Menge
Nicolas Born
DAS GEDICHT IM HANDGEMENGE
– Bemerkungen zu einigen Tendenzen in der westdeutschen Lyrik . –
Der Tod von Paul Celan im April 1970 markiert nicht nur das Ende einer Epoche des westdeutschen Gedichts. Mit ihm verstummte der vorläufig letzte Lyriker deutscher Sprache, der, wie auch immer bestimmt vom Zweifel an dieser Mission, vom Drang, neue Wortzusammensetzungen zu schaffen sich als dichterischer Seher verstanden hat. Die jüngeren Lyriker scheint diese Auffassung von ihrer Arbeit nicht sonderlich zu reizen. Sprachmagie, ein Zauberwort aus den fünfziger Jahren, wollen sie ebensowenig erzeugen, wie sie den Weg ins progressive Verstummen weitergehen, ins Schweigen, ins Schattenreich der Worte, um andere zentrale Begriffe zu nennen, mit denen man sich in der Nachkriegszeit Gedichten in der entsprechenden Ehrfurcht genähert hat, die einem diese Begriffe nahelegen.
So muß das, was wie die einzig mögliche Entwicklung der Lyrik von Baudelaire über Mallarmé bis hin zu Celan erschienen ist, mittlerweile als historisch abgeschlossene Phase genommen werden. Das Nachkriegsgedicht hatte das Einverständnis mit dem Leser aufgekündigt, das bei Baudelaire, selbst bei den Dadaisten und den Surrealisten, noch vorausgesetzt war, und sei es nur negativ in der Rebellion gegen ein Publikum, das von verlotterten klassisch-bürgerlichen Idealen geprägt war, oder positiv als Vorwegnahme eines Zustands, in dem alle Menschen unter dem Diktat des Unbewußten Gedichte schreiben. Das hermetische Gedicht der Nachkriegsjahre dagegen, hergestellt im „Labor der Träume“ (Poethen), war an niemanden mehr gerichtet. Mit Gottfried Benn verstanden sich die Lyriker als einsame, gesellschaftlich uninteressante Existenzen, die ihre Gedichte einem imaginären Bereich von Kunst überantworteten, der in Wahrheit doch gesellschaftlich produziert war und ist. Die Betonung der Form bei dem gleichzeitigen Versuch, Inhalte als außerkünstlerisch zu tilgen, ja zu denunzieren, hatte ein fortschrittliches Moment. Es bedeutete das endgültige Ende einer lyrischen Tradition, die sich über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg als Bewahrer christlich-abendländischen Geistesguts begriffen hatte und in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Trostspender sofort wieder präsent gewesen war.
Dieses Verständnis von Lyrik gründlich erschüttert, den Anschluß an die internationale Moderne wieder erreicht zu haben, ist ein Verdienst der hermetischen Lyrik in den fünfziger Jahren. Aber mit der Absage an historisch obsolet gewordene Inhalte war auch die Absage an das – mehr moralisch als politisch fundierte – Protestgedicht verbunden, das es unmittelbar nach dem Krieg als sogenannte Trümmerlyrik auch gegeben hat. Und es erscheint nicht zufällig, wenn der späte Ruhm Gottfried Benns mit der Restaurierung der politisch-ökonomischen Verhältnisse in Westdeutschland einsetzt. Sowohl die Hoffnungen auf ein sozialistisches Deutschland als auch jene auf die Verwirklichung eines „dritten Wegs” zwischen Kapitalismus und Kommunismus waren Ende der vierziger Jahre schon weitgehend begraben, der Wille zu einer radikalen politischen Veränderung bereits so abgeschwächt worden, daß das starke Interesse an der Lyrik unter anderem auch als eine kompensatorische Reaktion erklärt werden muß, innerhalb derer sich die Lyrik selber zum Gegenstand nahm. Das monologische, das absolute Gedicht, gereinigt von den Schlacken des Trivialen, signalisierte zwar die Weigerung der Lyriker, an der allgemeinen Wiederaufbau-Euphorie teilzunehmen, aber es ließ auch Raum für eine Vielzahl einander widersprechender Motive, von denen gar nicht wenige aus dem überkommenen Lyrikbegriff stammten. Ihm zufolge waren Gedichte im Rückzug aus dem Alltag, fernab der Wirklichkeit, zu schreiben und vielleicht, das war neu, überhaupt nicht mehr zu lesen. Benns Vortrag über die „Probleme der Lyrik“ von 1951, eher die Summe vorangegangener, außerhalb Deutschlands aufgestellter Dichtungstheorien als ein originaler neuer Ansatz, wurde ernst genug genommen, um keinem Lyriker mehr einen Wie-Vergleich im Gedicht zu erlauben, ohne daß nicht soundso viele andere Lyriker, Germanistikprofessoren und Kritiker sofort ihre Finger drauflegten und ein „Unmöglich“ hauchten. Historisch war dieser Rückzug auf Formprobleme, auf Selbstreflexion für eine Gattung notwendig, die durch den Nationalsozialismus, so abrupt ihrer Weiterentwicklung beschnitten worden war. Dennoch blieb trotz alternativer Ansätze in den Fünfzigern selbst, im Werk von Rühmkorf und Enzensberger, im „Gelegenheitsgedicht“ von Günter Grass, das hermetische Gedicht im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit das moderne Gedicht schlechthin, auch oder gerade weil es immer weniger gelesen wurde.
Diese Haltung gegenüber der Nachkriegslyrik hat deren wichtigste formale Errungenschaften, die verabsolutierte Metapher und die Chiffre, letztlich zerschlissen. Die Lyrik und ihre mehr oder weniger wissenschaftliche Rezeption haben sich gegenseitig erstickt; Gedichte wurden in einer für sie herausgebildeten Fachsprache besprochen, die selber hermetische, auch normative Züge gewann, bis Lyrik nur mehr für Germanisten, darunter nur für spezialisierte, aufnehmbar erschien und anscheinend allenfalls für sie geschrieben wurde. Was sich wie ein absoluter Gipfelpunkt ausnahm und zu gewährleisten schien, für die Lyrik wenigstens habe das Goldene Zeitalter begonnen, das ist von der Geschichte eingeholt und überholt worden. Der Gestus des dunklen Dichters mußte sich zur modischen Pose abschleifen, wenn als ein Ziel des Schreibens der vorderste Platz in der Literaturgeschichte angestrebt und ein möglicher Gebrauchswert von Gedichten völlig außer acht gelassen wurde. Insofern entwickelte sich diese Art von Lyrik immer stärker zu einer akademischen. Sie verlor jene Authentizität existentieller Erfahrungen, von denen Günter Eichs und Paul Celans Gedichte durchdrungen waren. Ein esoterischer Code war verfügbar geworden, und je länger in ihm geschrieben wurde, desto fragwürdiger mußte seine Eignung werden, adäquater Ausdruck von wirklichen geschichtlichen Erfahrungen zu sein.
In der Tat bestimmten auch die meisten Lyriker ihr Selbst- und Werkverständnis nicht im Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern zur vorangegangenen Literatur und bauten ihre Ahnengalerien von Mallarmé bis Gertrude Stein auf. Aber hierbei konnten sie sich nur auf die halbe Wahrheit berufen, auf die halbe Tradition der Moderne. Um sie mit moderner Lyrik schlechthin gleichzusetzen, isolierte man eine bestimmte Entwicklungslinie, die, von Baudelaire ausgehend, über Mallarmé und Valéry in das „reine“, das „absolute“ Gedicht mündet, nah am Verstummen und, so muß man hinzufügen, fern allem Stofflichen, allem Gegenständlichen. Wissenschaftlich sanktioniert wurde diese dogmatische Sicht durch Hugo Friedrichs Buch über die Struktur der modernen Lyrik, das seit 1956 ständig neu aufgelegt wird. Abstraktion, Entpersönlichung, Enthumanisierung, Sprachmagie, leerer Idealismus und leere Transzendenz – das sind die wichtigsten Begriffe, mit denen Friedrich die moderne Lyrik zu fassen suchte. Da war kein Platz für Brecht und W.H. Auden, keiner für Majakowski, Attila József, Nazım Hikmet und Vítežslav Nezval; auch Neruda und Vallejo, Cummings und W.C. Williams werden nicht einmal erwähnt.
Wo die Kritik die Stagnation dieser Lyrik nicht zur Kenntnis nahm, lobte sie das Mühelose, das Schwere- und das Absichtslose; sie registrierte beifällig das Zarte und das Schlichte und pries die schönen Funde, die sie mit silbernem Löffel aus den Gedichtbänden hob. So lösten lyrische Gefälligkeiten eine gefällige Aufnahme aus; dem Status quo der bundesrepublikanischen Gesellschaft um die Mitte der sechziger Jahre schien ein Status quo in der Lyrik zu entsprechen. Das gilt sowohl im Hinblick auf ästhetische Neuerungen, die ja immer zugleich eine neue Sehweise von Gesellschaft im weitesten Sinn, von Wirklichkeit bedeuten als auch im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit, mit der sich diese Lyrik auf die konkreten Verhältnisse einließ. Die Lyrik den Zeitläufen zu entziehen, das hieß sich selbst mit vielen Zugeständnissen kaum mehr als sublimierte Rebellion bezeichnen. Eher entsprach das politisch wenig reflektierte Beharren auf der Autonomie des Gedichts, wo es ohnehin nicht angegriffen wurde, der Ideologie von der Freiheit der westlichen Welt gegenüber der Knechtschaft m der östlichen. Darauf hat Peter Rühmkorf schon sehr früh hingewiesen.
Spät, beinahe erst im nachhinein, sind den Fortsetzern der hermetischen Lyrik von der Kritik schließlich elitäre Züge bescheinigt worden. Das Prädikat „artistisch“, in Benns Poetik noch ganz zentral, wich dem von „hochgezüchtet“ mit dem entsprechend polemischen Unterton. Der Bruch, durch den das absolute Gedicht die Kommunikation mit dem Leser gesprengt hatte, schockierte, und das heißt: interessierte kaum mehr. Zuletzt hat man aus dieser Not eine Tugend machen wollen. Die schwindenden Auflagen, die minimale Verbreitung unter dem literarisch interessierten Publikum sollte als Indiz für Qualität herhalten. Das war nicht ohne Konsequenz. Hatte das moderne Gedicht etliche Jahre nach Benns Tod immer noch monologischen Charakter zu tragen, hielt die Lyrik weiterhin „mittlere Geister davon ab, sich mit sprachlicher Zauberei zu beschäftigen“ (Piontek), so konnte die sinkende Zahl der Leser Theorie und Praxis dieser Lyrik nur bestätigen. Ein paar Verweise auf die Entwicklung des Fernsehens, der Massenmedien überhaupt, auf die geistige Starrheit des sogenannten Wohlstandsbürgers, meist im Kontext einer konservativen Kulturkritik, rundeten das Bild vom Lyriker als einem exquisiten Außenseiter eher ab, als es anzukratzen.
Im Herbst 1967 stellte dann Günter Herburger, den Aufwind der außerparlamentarischen Opposition im Rücken, mit der notwendigen Unverfrorenheit ein paar folgenschwere Fragen. ,,Was sind das für Leute, die Gedichte machen“, schrieb er, ,,leben sie noch, sind sie schon lange tot, benützen sie, wenn sie arbeiten, reinen Sauerstoff zum Atmen oder ist es ihnen gelungen, auf Schneeflocken heimisch zu werden oder in der Bernsteinstruktur ihrer Schreibtischgarnituren oder was?“
Diese Fragen machten Schluß mit der eher demütigen Haltung, in der ein Großteil des Publikums und der Kritiker Gedichte als „Geschenke für die Aufmerksamen“ (Celan) entgegennahm. Sie enthielten die Weigerung, Lyrik länger als „irgend etwas Höheres“ zu akzeptieren, das man nicht mehr zu hinterfragen wagte, weil man den Kopf kaum hoch genug heben konnte, um es zu entziffern. Und wenn Paul Celan 1960 in einem Brief zustimmend vermerkte, daß der Dichter, ,,sobald das Gedicht wirklich da sei, aus seiner ursprünglichen Mitwisserschaft wieder entlassen“ werde, so kehrte Herburger 1967 diese tendenziell mythische Auffassung vom Gedichteschreiben zu ihrer Kritik um:
Es ist, als habe ein Gedicht in dem Augenblick, wenn es geschrieben, gemacht wird, nichts mehr mit uns zu tun.
Er forderte „wenigstens Erlebnisgedichte“, von denen es zu diesem Zeitpunkt in der westdeutschen Lyrik nur wenige gab. Die Lyriker sollten ihre Gedichte wieder hineinnehmen ins alltägliche Leben, das die meisten doch leben, sie sollten die Gedichte wieder heranführen an die scheinbar profanen Probleme, die daraus entspringen, an die Gegenstände, die sie Tag und Nacht umgeben; die Lyriker sollten das Augenmerk wieder davon abwenden, was sie ohnehin nur selten sehen, auf Reisen vielleicht, im Urlaub, sofern sie ihn sich überhaupt leisten können:
Vergleichsweise habe ich tausendmal öfter die Geländerbänder von Rolltreppen oder die Haltestangen von Omnibussen angefaßt als Baumrinde oder gar Flechten.
Vor allem aber setzte Herburgers Kritik bei jener Kluft an, die er zwischen Lyrik und Leben konstatierte, zwischen den Flaschenbier trinkenden Dichtern und ihren „blattvergoldeten Worten“. Es liegt nahe, hinter dieser Kluft jene tiefere, zwischen privater und öffentlicher Existenz zu vermuten, die innerhalb der bürgerlichen Demokratien politisch und ökonomisch institutionalisiert ist. Demnach hatten jene Lyriker, von denen Herburger spricht, als Spezialisten der Sprache, die Trennung von ihrem privaten Bereich so weit verinnerlicht, daß kaum eine erkennbare Beziehung mehr zwischen ihren freien Stunden mit Flaschenbier und ihren Gedichten bestand, ihren „fremden Körpern“ (Krolow). Ihre Lyrik ist eher als Folge dieser Entfremdung zu verstehen, denn als bewußte Negation der herrschenden Zustände im Bestreben, eine davon losgelöste, autonome Lyrik zu schreiben. Wo sie von diesen Widersprüchen sich reinhalten will, ist sie uns, so meine ich, deshalb so fern, weil wir mit ihnen leben, in uns und um uns herum, weil unsere Empfindlichkeit für diese Widersprüche durch die politische Entwicklung seit Ende der sechziger Jahre geschärft worden ist.
Wie aber war die von Herburger und wenig später auch von Rolf Dieter Brinkmann als nicht mehr länger erträglich benannte Kluft zwischen Gedicht und Leben zu verringern, ohne hinter die Errungenschaften der lyrischen Moderne zurückzufallen? Einmal mehr das eigene Leben zum Kunstwerk zu erklären brächte nur neue Unverbindlichkeiten hervor, außerdem geht es den meisten Lyrikern, die ich kenne, dafür zu schlecht. Vielmehr kommt es darauf an, dem Gedicht soviel wie nur irgend möglich vom wirklichen Leben mitzugeben, dem es letztlich entstammt. Es kommt darauf an, in die Gedichte alle unsere unreinen Träume und Ängste einzulassen, unsere alltäglichen Gedanken und Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle, unsere „gewöhnlichen Schrecken“ (Handke). Die jüngeren Lyriker sind mit ihren Gedichten ins Handgemenge gegangen, sie bleiben beweglich, sie lassen sich nicht darauf ein, ihre Gedichte, leicht und glatt wie Luftballons, in esoterische Höhen zu schicken, wo nur mehr schlaffe Hüllen übrigbleiben, ha, die Form an sich! Die ästhetische Differenz zwischen dem Gedicht und den Erfahrungen, die ihm zugrunde liegen, wird nicht mehr bis ins Schweigen zu vergrößern gesucht, sondern auf jenes Minimum reduziert, das gerade, noch notwendig ist, um das Gedicht von allen anderen schriftlichen Ausdrucksformen zu unterscheiden. So kann es sich vollsaugen mit den Widersprüchen, Konflikten und Problemen, die uns heute, Juni 1975, beschäftigen. Der Lyriker schafft sich den Raum für seine Angriffe und Finten, für Wut und Sentimentalität, für Trauer und für Witz. Et schafft sich den Raum für Pathos ebenso wie für das Understatement der Alltagssprache; eine Hochschulausbildung, um seine Gedichte zu verstehen, zu genießen und mit ihnen zu lernen, ist überflüssig. Der Lyriker schafft sich den Raum für die kleinen Hoffnungen morgens beim Frühstück, wenn die Sonne durch das Fenster fällt und die Schreie der Kinder vom Schulhof gegenüber ins Zimmer dringen. Der Krach der Mülltonnen, die die Müllfahrer durch den Hausflur rollen, hat in seinen Gedichten ebenso Platz wie die zwitschernden Vögel im Baum vorm Fenster, die schreienden Bremsen der Autos vor der Ampel am Ende der Straße, die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Radio oder der Ruf aus der Küche:
Wo ist das Salz?
Ah, das Salz ist im Gedicht! Adorno ist tot, und sein Satz davon, daß „alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe… bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen“ sei, ist es auch. Angesichts der mühevollen Siege und der grauenhaften Rückschläge, auf die die Völker der Dritten Welt und jene an Europas südlicher Peripherie täglich reagieren müssen, läßt sich darauf keine ästhetische Position mehr gründen. Ja, „es gibt kein richtiges Leben im falschen“, aber ob es ein ewiges falsches Leben gibt, muß erst noch bewiesen werden. Bis dahin bleibt im Gedicht auch Raum für unerfüllte Sehnsüchte, für die Erinnerungen an die Zukunft, wie sie einmal für uns als Kinder zu bestehen schien, für einen „Traum aus China“ (Delius), für die Möglichkeiten, die verkümmern und als verkümmerte immer noch da sind.
Jeder ist eine gefährliche Utopie, wenn er seine Wünsche, Sehnsüchte und Imaginationen wiederentdeckt unter dem eingepaukten Wirklichkeitskatalog. (Born)
Das fertige Gedicht kann das Ergebnis dieser zur Sprache gekommenen Entdeckung sein, und es wäre gut, wenn die im Arbeitsprozeß ausgeschiedenen Alternativen, die verworfenen Wörter und was sie an Bedeutung zulassen, darin noch mitschwingen. Schließlich besteht die gegenwärtige Gesellschaft nicht nur aus Ding gewordener Arbeit, aus den herrschenden Gedanken und Verträgen, sondern auch aus den nicht realisierten Gegenvorschlägen, den winzigen Ansätzen, Leben und Arbeit anders zu organisieren. Wenn davon etwas im Gedicht aufgehoben wird, so vermag es, ohne seine Abkunft aus ihr verheimlichen zu wollen, der Gesellschaft gegenüberzutreten, nicht als ihre völlige Negation, sondern als etwas, das auf ihre unterschlagenen besseren Möglichkeiten verweist.
Ebensowenig braucht der Lyriker zu verheimlichen, wer sein Gedicht geschrieben hat. Viele der neueren Gedichte sind, ohne daß das Ich des Schreibers darin vorkommt, gar nicht denkbar. Hier ist verschiedentlich eingewendet oder beruhigt festgestellt worden, daß sich die Lyriker nach dem Zerfall der außerparlamentarischen Opposition wieder ins Privatleben zurückgezogen hätten. Jedoch versteht sich das Ich in diesen neuen Gedichten gar nicht als privates, das auf die Kammerdiener-Neugier von Lesern spekuliert, auf das zweifelhafte Bedürfnis nach Skandalgeschichten oder Künstleranekdoten, wie es die Massenmedien ständig wachhalten. Nein, der Lyriker setzt seine Person ein, legt die sinnlich erfahrenen Nöte offen, auch als Voraussetzung für gesellschaftliche Umwälzungen, die schließlich nicht deshalb stattfinden sollen, damit sich ein paar marxistisch-leninistische Lehrsätze empirisch beweisen lassen. Zum einen sind die individuellen Bedürfnisse spätestens nach der Auflösung der außerparlamentarischen Opposition in die verschiedensten Gruppen und Grüppchen von diesen für „irrelevant“ erklärt worden. Zum anderen hat gerade jene Protestbewegung politisch bewußten Lyrikern die Dringlichkeit deutlich gemacht, ihre Gedichte mit sinnlicher Erfahrung anzureichern, nachdem das politisch engagierte Gedicht einen bestimmten rational aufklärerischen, aber sehr kühlen Sprachgestus gepachtet zu haben schien, dem Zeitungsstil so angenähert, daß bald kurze Artikel und Meldungen ohne jede Bearbeitung zu Gedichten gemacht wurden. Das war natürlich nicht verboten, aber meistens wurden dabei doch recht dürre Früchte geerntet.
Im Agitprop als der äußersten Zuspitzung dieser Tendenz reduzierte sich das Gedicht auf eine einzige Funktion, sein Adressat auf so etwas wie „den Politiker im Menschen“. Das hatte und hat im entsprechenden Kontext einer politischen Bewegung, als Vortrag auf einer Versammlung oder als Spruch an einer Mauer, seine Wirkung. Zwischen zwei Buchdeckeln jedoch, und dort sollten sie ja auch nicht stehen, haben die Agitpropgedichte, die Ende der sechziger Jahre entstanden, heute nur mehr dokumentarischen Wert. Tatsächlich räumen die meisten theoretischen Äußerungen hierzu ein, daß es sich bei Agitprop nicht mehr um Lyrik handelt und handeln soll. Hier berührt sich diese Art von Text mit seinem Antipoden, der konkreten Poesie, wo mit der verabsolutierten Eigenschaft von Sprache als einem Material die Einschränkung ihrer Wirkungsmöglichkeiten einhergeht, der Leser wiederum auf einen Spezialisten reduziert wird.
Nun soll hier nicht über alle gewonnenen Einsichten hinweg das freie, voll entfaltete Individuum als Schreiber und als Leser vorausgesetzt werden. Poesie als Widerstand, als Gegenwehr gegen nivellierende gesellschaftliche Zwänge wird mit dem Rücken zur Wand geschrieben, was auch einen gewissen Schutz, was Verteidigung und Angriff ermöglicht. Hierbei sein eigenes Ich miteinzubringen ist bescheiden, insofern der Lyriker sich nicht anmaßt, für andere zu sprechen. Es kann großmäulig sein, wenn dem Lyriker danach ist, auf jeden Fall ist es authentisch. Das Ich kann sich verraten, wenn es in geborgte Sprachmuster, zum Beispiel aus dem amerikanischen Underground, flieht, wenn es sich im Gefolge der Pop-Lyrik auf unverbindliche Späße zurückzieht oder durch die perspektivlose Beschränkung auf Banalstes und Trivialstes hindurch noch einmal das zweck- und absichtslose Gedicht etablieren will. Grundsätzlich spricht aus diesem Ich die Zuversicht, daß Erfahrungen mitteilbar sind und folglich von anderen geteilt werden können. Heute sind es die Erfahrungen eines gewöhnlichen, nicht eines ungewöhnlichen Individuums, und je direkter sie zur Sprache kommen, desto auf-, an- und erregender für den Leser! Vielleicht schreibt er seine Erfahrungen ebenfalls nieder, schreibt ein neues Gedicht, und es wird ihm klarer wer er ist und was er macht und wer er sein und was er machen könnte! Ich halte nichts von einem sogenannten „zweiten Gedicht“, das, gleichsam wie eine Folie unter dem eigentlichen Text gelegen, mitzulesen sei. Ich frage mich dann, warum der Lyriker nicht jenes zweite Gedicht geschrieben und das erste in den Papierkorb geworfen hat.
Gedichte dürfen durchaus der Zerstreuung dienen, sie können vor dem Einschlafen und sie können auf dem Klo gelesen werden, jedenfalls von denen, die dahin sonst gern die Zeitung mitnehmen. Wäre das nicht ein Fortschritt für die Lyrik, wenn, festgelesen in das Bändchen, jemand zu spät in den Betrieb, zu spät aus der Mittagspause käme? Gedichte dürfen auch spannend sein! Dem käme das Verlangen nach Unbefangenheit, nach Einfachheit entgegen, das von beinahe allen jüngeren Lyrikern artikuliert worden ist, und zwar als Konsequenz von Überlegungen im Umgang mit Lyrik und tausend anderen Dingen, nicht als kraftmeierischer Akt, womit durch eine Handbewegung hundert Jahre lyrische Entwicklung auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen und der Mythos vom voraussetzungslosen Dichten aufgebaut werden soll.
Gerade die einfache Sprache verlangt nach einer stringenten Organisation. Das falsche Wort, die überflüssige Wendung bedeutet noch immer die Verwundung des Gedichts, die tödlich sein kann, je kürzer das Gedicht ist. Es verliert seine poetische Spannung, die es noch immer von der Prosa trennt und ohne die eine Zeilenbrechung sinnlos würde.
Die beinahe so oft zitierte wie angegriffene Äußerung Brinkmanns, man müsse vergessen, daß es so etwas wie Kunst gebe „und einfach anfangen“, besitzt ihre Geschichte, auf die Brinkmann am selben Ort auch hingewiesen hat: daß es für ihn lange gedauert habe, alle Vorurteile, was ein Gedicht darstellen und wie es aussehen müsse, aus sich herauszuschreiben. Natürlich besteht die Möglichkeit, zu scheitern und nur die Vorbilder auszutauschen. Aber dann, wenn es lange genug gedauert hat, ist der Lyriker dort, wo er sich alles nimmt, was er brauchen kann: Groß- und Kleinstadtmythen, Zeitungsmeldungen, den eigenen Schweiß, frühere Gedichte, Sätze, die im Treppenhaus fallen, in der Tagesschau, Niederschläge und Pyrrhussiege, das Grölen von Betrunkenen, die Bestellung: „Ein Bier, bitte!“, den erstaunten Ausruf:
Ist das überhaupt noch ein Gedicht?
In der Lyrik ist alles erlaubt, was ihre Sprache lebendig erhält. Sie muß von unserer Furcht und unserer Wut reden, von den Glücksminuten, ohne die wir überhaupt keine Vorstellung vom Glück hätten. Die Lyrik muß Mut machen, Kraft geben, wenn wir lädiert vom Handgemenge nach Hause kommen oder gar nicht erst aus dem Haus gehen können.
Jürgen Theobaldy
Innerhalb von nur vier Jahren erschienen in großen bundesdeutschen Verlagen vier weithin beachtete programmatische Anthologien, die sich das Ziel setzten, Gedichte vornehmlich jüngerer Autoren zu dokumentieren: Und ich bewege mich doch… Gedichte vor und nach 1968 (1977), Mit gemischten Gefühlen. Lyrik-Katalog Bundesrepublik (1978), In diesem Lande leben wir (1978) und Lyrik für Leser (1980). Von allen Herausgebern wurde auf Repräsentanz im Sinne möglichst vollständiger und ausgewogener, literarhistorisch begründeter Textzusammenhänge verzichtet und in den beigegebenen Kommentaren bewußt Partei ergriffen für das alltägliche und unartifizielle Gedicht, das den traditionellen Chiffren dichterischer Sprache nicht mehr vertraut und, oft in umgangssprachlicher Formulierung, Generationserfahrungen der heute Dreißig- und Vierzigjährigen zu vermitteln sucht.
Die Signalfunktion der von Jürgen Theobaldy edierten Anthologie Und ich bewege mich doch… war unübersehbar. Die politisch-historische Wegmarke des Jahres 1968 wurde für den Herausgeber zum eigentlichen, außerliterarischen Drehpunkt seiner Sammlung, die ein Zeugnis dynamischer Wandlung, nicht aber des lähmenden Stillstands liefern und der These von einer „Neuen Innerlichkeit“ enttäuschter linker Intellektueller poetische Gegenbeweise vorhalten konnte. Theobaldy konstatierte in seiner Nachbemerkung, „… daß viele der hier gesammelten Gedichte nicht eine kleinmütige Antwort auf das vorläufige Scheitern politischer Hoffnungen anfangs der siebziger Jahre darstellen. ,Nun dichten sie wieder‘ oder, noch schlimmer, ,Nun singen sie wieder‘ – mit diesen Slogans haben sich viele Kritiker, die sich gern als Meinungsmacher betätigen, über eine gründlichere Beschäftigung hinweggeholfen. Tatsächlich aber sind viele dieser Gedichte mit der Bewegung geschrieben worden, die diese Hoffnungen praktisch werden ließ. Die Politisierung aller Lebensbereiche, das bedeutete die Hinwendung auf Alltägliches bei jenen Lyrikern, deren Erfahrungen in der politischen Lyrik nicht mehr oder nur bis zum Begriff abgemagert vorkamen.“ Diese dialektische Interpretation der Verknüpfung von Politischem und Alltäglichem machte prinzipielle Kontinuität und zugleich Elemente einer Neuorientierung einsehbarer, als das im Umgang mit Schlagworten wie „Neue Sensibilität“ oder „Neue Subjektivität“ möglich war. Von einer resignierten Preisgabe politischer Einsichten und Veränderungswünsche konnte auch unter den Bedingungen verschärft konservativer Gesellschaftsverhältnisse nicht die Rede sein. Verringerte aktuelle Eingriffschancen in Politik, Ideologie und Kultur am Beginn der siebziger Jahre stärkten eher den widerspruchsvollen Prozeß der Selbstfindung antikapitalistischer Kräfte in der BRD. Sollte die Erforschung eigener Individualität produktiv werden, mußte sie Selbstkritik einschließen. Viele der gegen die US-amerikanische Aggression in Indochina, die Manipulation durch die Springer-Presse und die Gefahren den Notstandsgesetzgebung protestierenden jungen Menschen empfanden die strikte Trennung von Öffentlichem und Privatem als Mangel, den sie durch ein umfassenderes Verständnis von Gemeinschaft, Gesellschaftlichkeit abbauen konnten. Gedichte von Gleichgesinnten wurden zum Medium der (politisch bestimmten) Selbsterfahrung. Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt und Hannes Wader entwickelten Kommunikationsformen, die die traditionelle Einsamkeit der Lyrikrezeption aufzubrechen suchten. So nahm am Anfang der siebziger Jahre ein bis heute nicht abgeschlossener Vorgang der Formung und Differenzierung jüngerer Lyrik breiten Raum in den öffentlichen Debatten ein. Jürgen Theobaldy, Friedrich Christian Delius, Johannes Schenk, Klaus Konjetzky, Roman Ritter und viele andere jüngere Autoren begaben sich mit ihren Gedichtbänden, Stellungnahmen und Aufsätzen in ein „Handgemenge“ um das Für und Wider ihrer poetischen Versuche. Sollte es gelingen, „… das unterirdische Beben der Geschichte im Intimen, sozusagen den welthistorischen Stand an irgendeinem banalen Mittwoch zu registrieren…“ (Klaus Jeziorkowski), mußten künstlerische Ansätze gefunden werden, die den Abstand zwischen den Erlebnissen des Alltags und der ästhetischen Verarbeitung dieser Erlebnisse neu definierten. Das scheinbar unmittelbare „Einfach-so-Reden“ in umgangssprachlichen Formulierungen und der konsequente Verzicht auf tradierte Chiffren führten zu neuen sprachlichen Signalen, zu einer Bilderwelt, die den Lesern dieser Gedichte vor allem Identifikationen anbot. Nicolas Born, dem die jüngere Lyrik der BRD neben Rolf Dieter Brinkmann die entschiedensten Impulse verdankt, meinte in seinen Bemerkungen zum Gedichtband Das Auge des Entdeckers:
Jeder eine ist auch jeder andere. Gleichzeitig und bei vollem Bewußtsein. Wir richten die Teleskope auf uns. Jeder ist rund um die Uhr jeder, die absolute Identität.
Zwei poetische Techniken, die sich aus diesen Prämissen entwickelten, prägten die Lyrik der siebziger Jahre: die des assoziativen „snap-shot“ und die der autobiographischen Verserzählung. Brinkmanns „Schlaf, Magritte“ (S. 121) zerstört die frappierende Leichtigkeit surrealistischer Modelle mit den Methoden des Surrealismus, hebt sie auf in den Fragmenten schroffer Diesseitigkeit. Das illusionslose Hinschauen wird die Aufgabe des Lyrikers. Johannes Schenk und Ludwig Fels zum Beispiel haben die Brinkmannsche Poetik und Welthaltung mitgetragen und diese Möglichkeit des assoziativen Alltagsgedichts fortgeführt.
Godehard Schramms „Dennoch erwartest du mehr“ (S. 160) erzählt in ausgreifender Sprache Biographisches, findet immer wieder andere Metaphern für das Gefühl melancholischer Hoffnung. Die bilanzierende Rückschau realisiert sich in einem bewußt pathetischen, nichtfragmentarischen und freundlichen Sprechen; Gedichte von Klaus Konjetzky und Roman Ritter zum Beispiel kreisen in ähnlicher Weise um die Frage nach dem eigenen Herkommen.
Gedichte jüngerer Autoren aus den siebziger Jahren sind bei einem Teil der bundesdeutschen Kritik auf vehemente Ablehnung gestoßen. Sowohl die ästhetischen Qualitäten als auch die politischen Motivationen dieser Lyrik standen zur Diskussion. Der Literaturprofessor Jörg Drews meinte, daß es mittels alltagssprachlicher Formulierung eben gerade keine Verkürzung des Abstands zwischen Erlebnis und Gedicht geben könne und daß solche Versuche in Beliebigkeit und Formlosigkeit endeten. Drews erkannte sehr genau den schwächsten Punkt einer Poetik des Alltagsgedichts. Wird fast jedes Detail der erfahrenen Außenwelt zum Schreibimpuls, erhält es im Prozeß des Aufschreibens ja keineswegs voraussetzungslos Gewicht über das Einzelne und Zufällige hinaus. Es wird hingegen zum Bildnis eines auf Verallgemeinerung fixierten Ich- und Weltverständnisses, das auch noch aus dem Blick in die leere Kaffeetasse die Bestätigung eigener Existenz gewinnt. Zudem verhindert die spezifische Mechanik lyrischer Gestaltung, die auch von jüngeren Autoren nicht außer Kraft gesetzt wird, Direktheit und dokumentarische Authentizität. Die angestrebte Alltagslyrik hat zu bedeutenden Beispielen des Gelingens geführt, aber – mit der Flut von Gedichtpublikationen in den vergangenen zehn Jahren – reduzierte sie sich nicht selten auf das selbstgenügsame Dinggedicht. Wenn davon gesprochen wurde, daß Gedichte „genaue Form“ sein müßten, dann ging es primär um die skizzierten Kurzschlüssigkeiten poetischer Verarbeitung des Alltags. Kritik daran, daß die Goetheschen Naturformen der Dichtung den jüngeren Lyrikern wenig bedeuteten, blieb im traditionalistischen Klagen über den Verlust des Festgefügten gefangen.
Der ästhetische Konservatismus der Bewahrer literarischer Gattungsreinheit war zwar im Einzelfall von analogen ideologischen Haltungen nicht zu trennen, die ausgewiesenen Verkünder einer gesellschaftlichen „Tendenzwende“ gingen aber mit den politischen Intentionen jüngerer Autoren schärfer ins Gericht und hielten sich bei Problemen der Poetik nicht auf. Der Vorwurf der Selbsttäuschung, der Verdrängung von ideologischen und kulturellen Niederlagen kulminierte in der Forderung: Wenn schon sensible, subjektive, innerliche-Literatur, dann aber unter „konsequentem“ Verzicht auf soziale Utopien.
Kritik an der Alltagslyrik ist auch heute, am Beginn der achtziger Jahre, nicht verstummt. Erkenntnistheoretische und ästhetische Bedenken sind weiterhin ernst zu nehmen. Eine umfassende öffentliche Diskussion wurde durch sie nicht behindert; Gedichte werden seit den siebziger Jahren von vielen Lesern wahrgenommen. Die großen Anthologien dieser Zeit haben daran einen wesentlichen Anteil, wirkten impulsgebend und regulierend innerhalb des Kulturbetriebes. Das sehr frühe Sammeln, Sichten und Werten aktuellster literarischer Produktionen hat allerdings zwei widerstrebende Aspekte: Poetische und poetologische Verwandtschaften und Annäherungen wurden nachvollziehbar, bei aller Vorsicht angesichts der geprägten Klischees konnte Entwicklung erfaßt und gefördert werden. Die Leserschaft registrierte die auflagenstarken Sammlungen traditionsreicher Verlagshäuser; Gedichte gelangten über den Kreis ohnehin interessierter „Eingeweihter“ hinaus. Aber auch der Zusammenhang von Aktualität und Kurzlebigkeit, von Heftigkeit und schnellem Vergessen sollte erinnert werden. Die eilfertige Vernutzung poetischer Aussageformen, der immer raschere und abruptere Wechsel der Ismen und Schulen beeinflußte auch die Diskussionen um die Alltagslyrik. Konnte Jürgen Theobaldy bei der Herausgabe seiner Sammlung zu Recht auf das Originäre und Nichtkonforme dieser Gedichte im Kontext einer vielstimmigen Literaturszene hinweisen, war das bereits wenige Jahre später nurmehr unter Vorbehalten möglich:
Prognosen sind schwer zu stellen: Es fällt auf, wie deutlich in ihren Umrissen diese Lyrik heute schon vor uns liegt. Ist, was so überschaubar erscheint, nicht auch schon fertig? Unsere rasche Ermüdbarkeit, was Stile und Formen angeht, mag mit unserer Gewöhnung an rasche methodische Wechsel zusammenhängen, es kann bisweilen auch damit zu tun haben, daß eine Schreibweise ihre besten Beispiele bereits hinter sich hat. (Volker Hage in „Lyrik für Leser“.)
Dem stehen jedoch am Beginn der achtziger Jahre Tendenzen entgegen, die der Alltagslyrik jüngerer Autoren neue Anstöße und Wirkungsmöglichkeiten bieten. Der Aufschwung demokratischer Massenbewegungen im Kampf für Frieden und Abrüstung, gegen Berufsverbote und Umweltzerstörung steht unter dem Zeichen der Entdeckung des Subjekts als einer „sozialen Größe“. Was in den siebziger Jahren oft mehr Forderung als Wirklichkeit gewesen ist, die Synthese von politischer Verantwortung und subjektiver Erfahrung, gewinnt heute an Kraft und Selbstverständlichkeit. Zwischen radikaldemokratischen Bewegungen und der Literatur des Alltäglichen entstehen Wechselwirkungen, die Prozesse der Politisierung und Subjektivierung befördern und den im kapitalistischen Kulturbetrieb vorherrschenden Gegensatz von Poesie und Politik verringern können.
Unsere Sammlung sieht sich in der Nachfolge der groß angelegten Reclam-Anthologie Denkzettel (1976), die das agitatorische Gedicht der sechziger und frühen siebziger Jahre dokumentierte. Dort trat der Autor weitgehend in den Hintergrund, unmittelbar politische Themen standen zur Debatte und bestimmten die Struktur dieser Anthologie.
Die mit unserem Band vorgestellten Autoren wurden nach den Jahren ihrer Geburt geordnet. Andere Strukturprinzipien wurden in der Vorarbeit erwogen: die alphabetische Reihung, das Herausarbeiten thematischer Kristallisationspunkte, das Zusammenrücken von Lyrikern verwandter Poetik; die Ergebnisse vermochten weniger zu befriedigen als die vorliegende Lösung. In der nun präsentierten Fassung können Gedichte aus den siebziger Jahren in der Abfolge der Generationen nachgelesen werden. Die Konzentration auf dreißig Lyriker und auf jeweils charakteristische Gedichte bietet die Chance, einen poetischen und zugleich gesellschaftskritischen Spannungsbogen wahrzunehmen, der von Ernst Meister bis zu Ursula Krechel reicht. Dabei wird erkennbar, wie alle Gedichteschreiber im letzten Jahrzehnt nach Antworten auf die politischen und kulturellen Veränderungen in der BRD suchen. Hineingestellt in den gleichen gesellschaftlichen Kontext, nähert das Antworten auf konkrete Provokationen der Wirklichkeit die lyrischen Redeweisen ansonsten sehr unterschiedlicher Autoren einander an. Weltanschauliche Gegensätze wie die zwischen Alfred Andersch, Wolfgang Bächler einerseits und Heinz Piontek, Karl Krolow andererseits lösten sich aber über die Wege zu verwandten Poetiken nicht auf. Die Poetiken der Metapher und des Symbols wurden von den alltagssprachlichen Gedichten der jüngeren Generation beeinflußt. Texte von Ernst Meister und Karl Krolow zum Beispiel sind in den siebziger Jahren offener geworden, sprechen ohne Chiffren vom Alltäglichen und Privaten. Der aufklärerische Skeptizismus von Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und Günter Grass wird fortgeschrieben, aber häufig von leiseren Tönen durchbrochen. Christoph Meckel und Volker von Törne führten ihre Warnung vor der Dummheit, die immer noch ans Messer liefert, weiter und wurden den Jüngeren, wie Theobaldy, Schenk und Delius, zu Anregern und Partnern. Artur Troppmann, Günter Herburger, Peter Schütt, Klaus Konjetzky und Roman Ritter entwickeln poetische Modelle, die unter Einbeziehung subjektiver Erfahrung eine marxistische Gesellschaftskonzeption vorstellen und den roten Faden der Geschichte aufnehmen wollen.
Mag dem Leser ein Teil der abgedruckten Gedichte auch allzu verhalten und bescheiden erscheinen im Bestreben, den herrschenden Machtverhältnissen Selbstbefragung und Solidarität entgegenzusetzen, diese Poesie, in allen ihren Stimmen und Formen, unter vermehrten Zwängen von Isolation und Angst geschrieben, ist Widerstand, fordert und fördert „Das Erscheinen eines jeden in der Menge“. Es heißt in einem neueren Gedicht von F.C. Delius, in dem Voraussetzungen und Ziele heutigen Schreibens reflektiert werden:
Ganz neue Sprachen des Stöhnens müßten erforscht werden,
Erzähl! Das allen Ängsten spottende Wachsen gedeutet,
Mach weiter! Die Parolen der cleveren Teufel zerpflückt,
Und, nun mach schon!, hundert Formen der Gegenwehr gefeiert.
Klaus Pankow, Oktober 1982, Vorwort
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